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„Versteh ich nicht“, sagte Ricardo. „Erst steht ihr Auto unverschlossen vor der Tür und der Schlüssel liegt auf der Erde und von ihr selbst keine Spur. Dann schaltet sie ihr Handy aus. Und jetzt kommt jemand vom Krankenhaus, bringt eine Tüte mit angeblich dringend benötigten Medikamenten und kündigt an, dass sie in Sylvies Namen hier abgeholt werden. Wer benötigt die denn? Und wieso holt der sich seine Medikamente nicht gleich selbst im Krankenhaus ab? Wieso müssen die über dich laufen? Und warum überhaupt meldet Sylvie sich nicht?“ Kopfschüttelnd betrachtete er sein halb leeres Glas – Ricardos Glas war immer halb leer, nie halb voll -, schob es von sich weg und schaute Lou an, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tresens stand und nachdenklich auf sein Telefon starrte, als erwarte er von dort Antworten.

„Wir werden es herausfinden“, sagte Lou schließlich. Er steckte das Handy in die Tasche. „Jedenfalls mache ich jetzt erst mal den Kartoffelsalat fertig. Damit wir essen können, wenn alles vorbei ist.“

„Gib mir inzwischen mal die Tüte rüber“, sagte Ricardo, „ich will mir das ansehen.“

In der Tüte waren vier Packungen verschiedener Größe. Zwei davon enthielten unterschiedliche Schmerzmittel, die kleinste ein Antibiotikum und die vierte eine Injektionsspritze. Ricardo fummelte den Beipackzettel heraus und überflog die Angaben. Dann nickte er, schob seinen Hocker zurück, packte die anderen Medikamente wieder in die Tüte und ging hinter dem Tresen zur Küche. „Fertig?“, fragte er Lou, der gerade die Schüssel mit dem Kartoffel-Gurken-Salat beiseiteschob. „Dann schau mal.“ Er hielt ihm den Beipackzettel hin. „Ich glaub, ich weiß jetzt, was los ist.“

„Faktor IX“, las Lou laut, „Hämophilie B.“ Er sah Ricardo an. „Und?“

„Vermute mal, da hat sich jemand Sylvie geschnappt, um einen Bluter zu verarzten, der sich nicht ins Krankenhaus traut.“

„Folglich war das nicht Sylvie, die ihr Handy ausgeschaltet hat“, sagte Lou. „Sondern jemand wollte verhindern, dass sie geortet werden kann.“

Ricardo faltete den Beipackzettel zusammen, steckte ihn wieder zurück in die Packung, reichte Lou die Tüte.

„Dann bin ich ja gespannt, wer da den Boten macht“, sagte Lou. Und, bevor er Ricardo in die Gaststube folgte, zu Irina: „Kann sein, dass ich gleich mal kurz wegmuss. Du und Hassan, ihr schmeißt den Laden auch mal eine Stunde lang allein. Ist ja ruhig im Moment. Remy hat gesagt, sie kommt heute früher, spätestens um zehn, Aydin auch. Ist das okay für dich?“

„Wir machen das schon“, sagte Irina. Sie war stolz, dass Lou ihr vertraute.

Lou nahm seine Jacke vom Haken und ging mit Ricardo nach draußen. Ein Grüppchen junger Leute kam über die Kreuzung auf das LOU’s zugefahren, sie ketteten ihre Fahrräder am Zaun fest, sperrten ihre Mopeds ab, zündeten sich jeder eine Zigarette an und blieben rauchend und plaudernd auf den Stufen vor der Tür stehen.

„Hätte man sich vor ein paar Jahren auch nicht vorstellen können“, sagte Ricardo. „Dass die Jungs und Mädels zum Rauchen so brav draußen bleiben. Die können sich gar nicht vorstellen, dass die Leute früher überall geraucht haben. In Kneipen, in Discos, auf den Bahnhöfen, bei Behörden, überall.“

Lou lächelte. Ricardo hielt nicht oft so lange Vorträge. „Ich hätte auch lieber eine Kneipe, in der man rauchen und essen darf“, sagte er. Im selben Moment schoss ein schweres Motorrad die Wielandstraße entlang und wurde direkt neben ihnen abgedrosselt. Ohne abzusteigen, streckte der Fahrer die Hand nach der Tüte aus, die Lou in seiner Rechten hielt.

„Das ist für mich.“

„Glaube ich nicht“, sagte Feldmann.

„Ich soll das aber abholen.“

„Ach nein“, sagte Feldmann, „diese Stimme … Fred Klotz. Wolltest du nicht heute Morgen noch einen Waschsalon aufmachen? Und jetzt hast du eine neue Lederjacke an und bist unter die Apothekenkuriere gegangen.“

„Laber nicht rum, Feldmann“, schnaubte der Motorradfahrer unter seinem Helm hervor. „Gib mir die Medikamente. Die werden dringend gebraucht.“

„Wenn ich das richtig sehe, holst du sie für Dr. Westphal ab. Das ist gar nicht ihre Art. Warum kommt sie nicht selbst?“

„Frag nicht so viel, Feldmann. Gib sie mir einfach.“

„Ganz bestimmt nicht. Wenn hier jemand diese Tüte überbringt, dann bin ich das, niemand sonst.“

„Kommt nicht infrage.“

„Du hast keine Wahl.“

Ricardo, der dem Disput schweigend gefolgt war, trat einen Schritt auf den Motorradfahrer zu.

„Mittelberger, SEK. Präzisionsschütze.“ Dabei hielt er die rechte Hand unter seiner Jacke am Gürtel.

„Was hältst du davon?“, fragte Feldmann.

„Mach keinen Scheiß!“ Auch mit Helm auf dem Kopf war Fred anzumerken, dass ihn die Situation überforderte. „Ich … Ich hab aber keinen zweiten Helm dabei.“

Ohne lang zu überlegen, ging Feldmann auf das Grüppchen vor der Eingangstür zu. „Da sind doch zwei von euch gerade mit dem Moped gekommen. Kann ich mir mal kurz einen Helm ausleihen?“

„Klar, Chef“, sagte einer der Jungen sofort, „auch länger. Und macht auch wirklich nichts, wenn’s später wird bei Ihnen. Dann hab ich eine Ausrede, warum ich noch hierbleiben musste.“ Mit wiegenden Schritten ging er auf sein Moped zu, nahm den am Sattel vertäuten Helm und hielt ihn Lou hin. „Ist mir eine Ehre, Chef.“

Feldmann nickte. „Mir auch.“ Bevor er sich den Helm aufsetzte, gab er Ricardo einen Wink: „Ein Bier auf meine Rechnung für ihn. Sag Hassan Bescheid, bitte.“

„Halt dich fest“, sagte Fred, als er losfuhr. Erst noch langsam, dann von Ampel zu Ampel immer schneller. Feldmann registrierte, dass die Route in südlicher Richtung aus der Stadt hinausführte.

Plötzlich machte Fred einen Schlenker und hielt an. „Steig ab.“

„Ist nicht dein Ernst.“

„Steig ab.“ Er wartete. Als Feldmann sich nicht rührte, knurrte er: „Verdammt noch mal, es geht gleich weiter.“ Er bockte die Maschine auf, stieg selbst ab, nahm den Helm vom Kopf und fing an, in der hinteren Gepäcktasche herumzukramen. Er zog ein großes Halstuch hervor.

„Nimm deinen Helm ab“, sagte er zu Feldmann.

„Was willst du?“

„Ich muss dir die Augen verbinden. Ist besser für dich.“

„Du meinst, es ist besser für euch. Was läuft da für eine Scheiße, Fred?“

„Das erfährst du noch früh genug.“ Er wickelte das Halstuch zu einem Schal zusammen und diesen fest um Feldmanns Stirn und Augen, stülpte ihm den Helm darüber, setzte den seinen wieder auf und startete die Maschine.

Feldmann spürte am Fahrtwind, wie sie Tempo aufnahmen. Offensichtlich hatten sie das Stadtgebiet verlassen.

Gefährliche Erben

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