Читать книгу Alte Hexe - Elisa Scheer - Страница 10
9 MO 23.04.
ОглавлениеVoller Vorfreude war sie schon um sechs Uhr aufgestanden und hatte nach kurzer Überlegung beschlossen, erst einmal das Arbeitszimmer auf Vordermann zu bringen. Sollen die Kripoleute doch glauben, sie käme immer noch nicht in die Puschen! Das Wohnzimmer würde sie dann vielleicht noch eine Zeitlang so lassen, wie es war.
Das Regal im Arbeitszimmer war kaum kleiner als das im Wohnzimmer – fünf Meter mal zweifünfzig, auch 12,5 Quadratmeter. Und alles vollgestopft. Zunächst stand sie etwas unentschlossen davor: Wo sollte sie denn da anfangen?
Sie begann schließlich einfach links unten, direkt über dem Schrank, auf dem das Regal stand. Ein schönes, großes Fach, perfekt geeignet für ihre eigenen Ordner aus dem Studium und für die Mappen mit ihren Übersetzungen und den verschiedenen Fassungen der Doktorarbeit. Leider war es mitnichten leer.
Mathilde fand zwei Telefonbücher (Leisenberg und Gelbe Seiten, beide von 1997), eine Mappe mit Betriebsanleitungen für Geräte, die sie nicht entdecken konnte, mehrere Langspielplatten, richtig aus Vinyl, einen Bildband über Rostock (offensichtlich vor der Wende, aber vielleicht ganz interessant), mehrere Gesetzestexte, die auch nicht mehr so ganz aktuell aussahen, jedenfalls war die oberste Umschlagschicht vergilbt und rissig – Mietrecht, BGB, StGB.
Daneben standen mehrere gebundene Kitschromane, auf dem Umschlag Liebespaare im Stil der Sechziger Jahre. Ach, Tante Anni – so alt warst du doch auch noch nicht? Oder waren die Schmöker gar nicht aus den Sechzigern? Mathilde schaute nach – 1981 erschienen, also damals schon leicht veraltet im Erscheinungsbild.
Mathilde sortierte alles aus, die Kitschromane in eine Tüte für die Lesefabrik, die Gesetzestexte und Telefonbücher in einen Korb für den Altpapiercontainer, die Anleitungen in den Schrank – ach herrje, der war ja auch vollgestopft: noch mehr Telefonbücher! Gleich ins Altpapier.
Ob man für die Platten wohl noch etwas bekam? Mathilde hatte eine Handvoll mp3-Dateien auf ihrem Rechner, mehr Musik besaß sie nicht. Ansonsten hörte sie eben Radio. Gab es wohl so etwas wie Schallplattenantiquariate? Oder sie musste sich tatsächlich mal bei Ebay umsehen…
Schließlich hatte sie das eine Fach leer. Frustrierend wenig in zweieinhalb Stunden, musste sie feststellen, als sie es sorgfältig auswischte und polierte. In diesem Tempo würde sie Jahrzehnte brauchen.
Wenn schon - sie hatte doch wohl auch Jahrzehnte Zeit!
Sie schichtete ihre Ausbeute noch etwas besser in ihre Tasche und brach zur Lesefabrik auf – mittlerweile war es kurz von neun, die mussten ja jetzt bald einmal aufmachen. Tatsächlich, der Laden hatte gerade geöffnet; sie trat ein und fragte die Frau hinter der Theke, wie es mit gebundenen Liebesschmökern von Buchclubs aussah.
„So was nehmen wir auch“, sagte die, „wenn sie gut erhalten sind. Aber so arg viel zahlen wir da auch nicht. Im Schnitt zwei Euro pro Band. Taschenbücher einen Euro, außer ganz dicken, fast neuen – und so Krempel wie Reader´s Digest und Heftchenromane können Sie gleich in die Altpapiertonne werfen, sorry.“
„Schade“, antwortete Mathilde. „Heftchenromane könnten doch gut gehen. So fünf Stück für einen Euro oder so, in einer Kiste… hier wohnen doch auch ziemlich viele alte Damen, die lesen so was bestimmt.“
„Na, vielleicht. Kann sein. Okay, ich versuch´s. Wenn Sie morgen mit einem Stapel Heftlein und einem Papierkistendeckel aus dem Copyshop kommen, probiere ich es mal aus. Aber bitte, für den Anfang, nicht mehr als - naja, sagen wir, dreißig Stück.“
„Super. Dann komme ich morgen oder gleich nachher mit den Heftchen und einer Kiste“, freute sich Mathilde und packte fünfundzwanzig Buchklubschmöker auf den Tresen. „Jetzt muss ich bloß noch einen Laden finden, der altes Geschirr mag.“
„Ronny´s Esstisch, gleich um die Ecke in der Emilienstraße. Kurz vor dem Ratlos. Die sind ziemlich neu, und anscheinend haben sie sich auf Haushaltströdel spezialisiert. Ob sie gut zahlen, weiß ich allerdings auch nicht.“
Mathilde bedankte sich für den Tipp, kassierte 50 Euro für die Bücher und enteilte frohgemut. Im Copyshop ließ sie sich einige Deckel von Papierkisten geben, um die zahllosen Heftchenromane gefällig präsentieren zu können.
Zu Hause warf sie Telefonbücher und Gesetzestexte ins Altpapier, kontrollierte das saubere Regalfach und schichtete ihre eigenen Ordner sorgfältig hinein. Sah gut aus, fand sie. Für einen ersten Schritt war das schon mal nicht schlecht.
Sie sah auf die Uhr – kurz vor zehn. Um eins sollte sie bei Lingua sein – vielleicht konnte sie noch ein Service loswerden? Sie inspizierte alle einschlägigen Schränke und staunte über die Schätze, die sie da vorfand – Porzellan, Gläser, Besteck… wer brauchte denn so etwas? Ihr reichten ihre paar Steingutteller und ihr Tchibo-Besteck locker – und ihre Gläser waren von IKEA. Der Kram füllte ja im Wohnzimmer und in der Küche mehrere Schränke!
Zunächst mistete sie noch eine ganze Kiste voll Papier aus, stopfte die ersten dreißig Heftchenromane und zehn weitere Buchclub-Scheusäler in eine große Tüte für die Lesefabrik (wieder einige Euro!) und suchte lieber zunächst nur zwei Musterteller von den besonders üppigen Services heraus (Streublümchen, aber nicht Meißen, und Goldrand, aber nicht Fürstenberg), damit Omas Esstisch sich ein Bild machen konnte.
Mit all diesem Kram zog sie dann wieder los. In der Lesefabrik machte sie zuerst Station.
Die Inhaberin musterte die Kiste mit den Kitschheftchen verächtlich: „Stellen Sie das Zeug am besten dort drüben hin – mal sehen, ob die wirklich jemand haben will… und die Buchklubdinger kann ich brauchen. Sechs Stück… zehn… insgesamt sechsundzwanzig Euro. Solche Schmöker können Sie mir gerne noch bringen, die gehen weg wie warme Semmeln.“
Mathilde freute sich. „Davon habe ich noch Massen, von der Tante Anni. Passen Sie bloß auf, wahrscheinlich komme ich täglich mit zehn Stück vorbei und hole mir hier mein Geld ab.“
Die Inhaberin lachte. „Wenn es mir zu viel wird, sage ich es Ihnen schon.“ Sie reichte Mathilde abgezählt das Geld.
Draußen nahm sich Mathilde vor, nie die ganzen Verkaufseinnahmen auszugeben, damit der Geldbeutel zügig anwuchs. Wenn sie täglich wenigstens zehn Euro zurücklegte…
Als Mathilde bei Omas Esstisch ihr Anliegen vorgebracht und die beiden Probeteller vorgelegt hatte, nahm der Inhaber („Nennen Sie mich Ronny“) den Streublümchenteller nachdenklich in die Hand. „Für wie viele Personen haben Sie das, sagten Sie?“
„Für zwölf. Es fehlt kein Teil. Flache Teller, tiefe Teller, Dessertteller, Salatschälchen, Messerbänkchen, drei runde und zwei eckige Schüsseln, eine kleine und eine große Sauciere. Passendes Silber hätte ich dazu übrigens auch. Mit Perlmuster.“
„Hm. Auch mit Gläseruntersetzern?“
„Klar. Je zwölf Gläseruntersetzer, Messer, Gabeln, Löffel, Teelöffel. Kuchengabeln, Fischgarnituren, Vorspeisenbesteck, Buttermesserchen, Vorlegegabeln und –löffel, Serviettenringe und Platzkartenhalter. Ich weiß gar nicht, wer das einst wozu angeschafft hat!“
Ronny lächelte. „Das war vor noch gar nicht allzu langer Zeit der Nachweis feiner Tischkultur. Ich könnte damit einen perfekten Tisch decken… Haben Sie wohl auch noch Tischwäsche dazu? Eine Decke und zwölf Servietten?“
Mathilde bejahte überrascht. An Tischwäsche hatte sie noch gar nicht gedacht, aber ein Fach in dem komischen Sideboard im Wohnzimmer war voller Tischdecken, für die sie keine Verwendung hatte – das hatte ihre kurze Inspektion schon ergeben. Gut, vielleicht sollte sie eine weiße und eine bestickte behalten, aber der Rest konnte doch weg!
„Passen Sie auf, können Sie mir das alles bringen, oder soll ich es abholen?“
Mathilde überlegte. Alles schleppen oder sich für die Wohnung genieren?
Lieber schleppen, so weit war es nicht, und das war gleich ein brauchbares Workout. Muskeln hatte sie ja keine.
„Ich bringe es vorbei. In mehreren Tranchen, wenn es recht ist. Zeitungspapier habe ich selbst. Was würden Sie mir für das ganze Ensemble denn geben können?“
Ronny grinste. „Ensemble trifft es. Naja – das Service etwa vierhundert, das Besteck dito – sagen Sie, haben Sie auch noch Gläser dazu?“
„Bestimmt. Ich bringe eine Probe mit. Aber ob die noch vollständig sind…?“
„Macht nichts. Okay, sagen wir, mit Tischwäsche und gegebenenfalls unvollständigen Gläsern einen Tausender?“
Mathilde schlug ein. Das würde ihr mageres Depot gewaltig aufwerten!
Sie eilte nach Hause, zerrte zwei große Einkaufskörbe aus einem Küchenschrank und die Wochenendausgabe der Süddeutschen aus der Altpapierkiste und machte sich daran, das Porzellan zu verpacken und in die Körbe zu schlichten. Das Silber war natürlich angelaufen, aber sie fand im Putzschrank ein Zaubermittelchen von Tante Anni, weichte das Silber kurz darin ein und trocknete es dann sorgfältig ab. Die zusammengerollten Stofffutterale machten sicher auch einen guten Eindruck auf Ronny… Damastdecke mit zwölf Servietten, Untersetzer, Serviettenringe, Gläser (eins fehlte).
Zum falschen Fürstenberg hatte er noch gar nichts gesagt. Wollte er das nun auch oder eher nicht – und war ihm das blassblaue Kaffeeservice mit zwei Kaffee- und einer Teekanne, Milchkännchen, Zuckerschale und zwei Tortenhebern wohl auch unterzujubeln? Von der mit Röschen verzierten Zuckerzange mal ganz zu schweigen!
Sie schlichtete alles schön in die Körbe und packte die Zuckerzange und einen blassblauen Teller als Probe dazu.
Puh, hübsch schwer! Sie brauchte mit häufigem Absetzen der Körbe fast eine halbe Stunde, bis sie wieder bei Ronny anlangte. Der packte begeistert aus und übergab alles einem geknechtet wirkenden jungen Mann zur fachmännischen Reinigung. Mathilde überlegte kurz, ob sie beleidigt sein sollte, aber da lächelte Ronny ihr entschuldigend zu. „Das soll keine Unterstellung sein, aber dazu sind wir verpflichtet. Auch zur Desinfektion. Außerdem haben wir wirklich schon Leute erlebt, da klebte noch Undefinierbares an den Gabeln.“
Mathilde nickte versöhnt und holte ihre Proben hervor. Ronny lachte auf. „Sind Erbschaften nicht etwas absolut Köstliches? Reizend, das Service. Ja, das würde ich nehmen. Aber es ist etwas moderner, also leider nicht ganz so viel wert… dreihundert? Und für das Silber dazu zweihundert, also Zuckerzange, Sahnelöffel, Tortenheber, Kuchengäbelchen… Kaffeedecken haben Sie auch?“
„Und Likörgläschen. Sie brauchen unbedingt noch ein paar Wachsfiguren. Ältere Damen, die um die Kaffeetafel sitzen.“
„Und Schwarzwälder Kirsch aus Wachs“, ergänzte Ronny. „Übrigens, das mit dem Goldrand würde mich auch reizen.“
„Das sind auch wieder zwölf Personen. Aber ohne Messerbänkchen und solchen Nippes.“
„Das passt auch nicht. Hochmoderner Stil der Sechzigerjahre, da hatte man natürlich keine Messerbänkchen mehr. Dafür etwa dreihundert noch mal?“
Mathilde nickte. „Dann hole ich jetzt das Goldrand und das Kaffeeensemble und kriege von Ihnen achtzehnhundert Euro.“
„Ganz genau. Ich hoffe, das ist ein für beide Seiten befriedigendes Geschäft.“
„Absolut“, strahlte Mathilde. „Und wenn ich noch etwas finde, bringe ich eine Probe mit. Allerdings glaube ich, wenn diese drei Services weg sind, habe ich gerade noch eins, damit ich nicht aus dem Papier essen muss.“
Die zweite Tranche war etwas weniger schwer, vielleicht, weil weniger Metall dabei war. Sie gönnte den leeren Küchenschränken einen verliebten Blick, bevor sie die Körbe aufnahm und davonschleppte.
Was man mit diesen Schränken nicht alles anfangen konnte… und wenn in den anderen noch allerlei Verscherbelnswertes stand… die Woche war noch lang! Aber wahrscheinlich machte sie sich durch diese Aktionen bei der Polizei nur verdächtig.
Eine halbe Stunde später stopfte sie hochzufrieden achtzehnhundert Euro in ihre Geldbörse und schaffte es auf dem Heimweg sogar noch, das Geld auf ihr Konto einzuzahlen.
Am Abend würde sie dann dafür ein paar Fondsanteile kaufen und mit dem Rest ihrem Konto etwas mehr Puffer gönnen.
Zu Hause putzte sie die Schränke, die sie geleert hatte, ließ sie trocknen und schloss sie dann. Was von Tante Annis Kram aus dem Arbeitszimmer in die Wohnzimmerschränke umziehen konnte, würde sie sich später überlegen; jetzt gab es einen kleinen Mittagssnack. Und dann ab in den Verlag!