Читать книгу Alte Hexe - Elisa Scheer - Страница 6

5 SA 21.04.

Оглавление

Sie liebte Wochenenden – aber wer tat das nicht? Für diese entspannten Tage hatte sie noch ganz alte verwaschene Jeans und einen Pullover, den sie sich vor bestimmt zehn Jahren einmal gestrickt hatte – nicht gerade gekonnt, aber das war am Wochenende ja nun wirklich egal, da sah sie schließlich niemand.

Sie frühstückte ausgiebiger als sonst, was bedeutete, dass sie sich mehr Zeit ließ und währenddessen ein Buch las, nicht etwa, dass sie wirklich mehr aß. Seit Jahren aß sie immer das Gleiche, ausgewogen und gesund. Ein bisschen langweilig, überlegte sie und erschrak über diesen direkt ketzerischen Gedanken.

Sollte sie einmal etwas anderes frühstücken als Vollkornbrot, Ei und eine Auswahl an Obst und Gemüse? Aber was? Käse und Wurst mochte sie nicht besonders, Weißbrot war blanker Müll, Müsli war auch nicht so gesund, wie man gemeinhin glaubte.

Vielleicht mal ein Spiegelei?

Zu mühsam.

Sie mümmelte ihre Mohrrübe und überlegte weiter, aber Alternativen fielen ihr nicht ein. Marmeladenbrot? Iih… Sie schnitt den Apfel in mundgerechte Stücke und kaute langsam und genüsslich. Joghurt? Sie mochte keine Milchprodukte.

Himmel, was mochte sie denn?

Vollkornbrot, Ei und Gemüse. Basta. Sie aß ja auch keine Ostereier – außer den hart gekochten – und keine Weihnachtsplätzchen, auf das süß-fettige Zeug wurde ihr nur schlecht.

Mal eine schöne Suppe… ja, gut, aber doch nicht zum Frühstück! Aber vielleicht heute Mittag. Natürlich aus der Dose. Und wenn sie in Henting nicht nur bummelte, sondern mal nachsah, ob der kleine Supermarkt Kant-/Ecke Fichtestraße noch existierte? Der würde ja wohl eine anständige Dose Gulaschsuppe haben.

Oder so eine richtig dicke Pilzcreme… das klang verlockend, auch wenn da garantiert wieder Geschmacksverstärker drin waren. Egal, darüber mussten sich jawohl eher Leute mit Gewichtsproblemen Gedanken machen, und sie war eher etwas zu dünn.

Oder Minestrone?

Ja, vielleicht.

Mittags mal Nudeln? Oder Reis? Aber das machte so müde… Dazu hatte sie im Allgemeinen zu viel zu tun. Gut, am Wochenende war das nicht so tragisch - aber wozu dann das halbe Wochenende verschlafen?

Nein, das war alles Blödsinn. Sie würde jetzt schön nach Henting fahren, mit dem Bus natürlich, so wie früher, und dort ausgiebig spazieren gehen. Und dann würde sie zur Uni fahren und sich bei Salads&More einen richtig großen leckeren Salatteller gönnen.

Genau.

Der Bus war ziemlich leer, kein Wunder - die Hentinger fuhren nicht Bus, die besaßen Autos. Und wenn sie schon fuhren, dann am Samstagvormittag doch eher in die andere Richtung.

Auch gut! Mathilde setzte sich an das sauberste Fenster und schaute wie eine Touristin aus dem Fenster. Wie würde sie Leisenberg und Henting wohl wahrnehmen, wenn sie tatsächlich zum ersten Mal hier wäre? Schwer nachzuvollziehen.

Am Herzog-Roderich-Platz hatten sie ein Eckhaus abgerissen und hoben eine Baugrube aus. Was da wohl hinkam? An der nächsten Haltestelle hatte eine Filiale einer allseits bekannten Einrichtungskette aufgemacht, die vor allem überflüssigen und witzig sein wollenden Schnickschnack führte. Total uninteressant.

Noch zwei Stationen.

Seit wann gab es denn kurz vor Henting einen Erotikshop? Dass die Nonna das nicht verhindert hatte? War sie vielleicht doch nicht so allmächtig, wie alle – nicht zuletzt sie selbst – immer geglaubt hatten? Da musste man ja fast grinsen…

Am Fichteplatz stieg sie aus und sah sich um, dann atmete sie tief ein. Die Luft hier war ja schon gut, das ließ sich nicht bestreiten. Keine Spur von Moder und Gruft, reine Natur und ein Hauch von Frühling. Das waren wahrscheinlich die Kirschbäume da drüben, die gerade am Abblühen waren.

Sie wanderte langsam die Fichtestraße entlang und musterte die großen alten Häuser hinter den bemoosten Steinmauern. Manche waren vom Architektonischen eigentlich schon schön – aber doch etwas düster, man konnte sich gar nicht vorstellen, dass dort glückliche Familien lebten. Oder lag das an ihr selbst, die überall unglückliche kleine Mädchen mit lieblosen Großeltern witterte und so alle Häuser mit der Gruft in der Schellingstraße 17 gleichsetzte?

Immerhin hatte man das kleine Schlösschen Ecke Fichte- und Kantstraße neu gestrichen. Etwas arg quietschrosa, fand sie, aber es sah unbestreitbar fröhlich aus. Hatte die Nonna da nichts zu meckern gehabt?

Jammerschade, dass sie keinen Spion hier hatte… ja, wenn Manuel Keppel noch hier wohnen würde – aber der war bestimmt längst irgendwohin gezogen, wo es geringfügig aufregender zuging. Und Sandra hatte bestimmt längst geheiratet und lebte ein glückliches Leben wie in der IKEA-Werbung.

Was machte sie hier eigentlich?

Warum sollte sich nicht Sandra in der Weltgeschichte herumtreiben und aufregende Projekte durchziehen – und Manuel versorgte die Kinder, während seine Frau einen Vollzeitjob hatte? Woher kamen bloß diese unemanzipierten Denkansätze?

Das konnte sie nicht einmal der Nonna in die Schuhe schieben. Mit Heimchen am Herd hatte sie es gar nicht, kein Wunder, wenn man bedachte, welche Bissgur´n sie selbst war.

Huch, was war denn da passiert?

Gegenüber der zuckrigen Fassade in knallrosa, weiß und silber hatte man anscheinend eine der uralten Villen abgerissen. Hatten da nicht früher mal die Schmitzkes gewohnt, diese merkwürdigen alten Leute mit dem Hund, der immerzu geifernd am Zaun hing? Es hatte länger gedauert, bis Mathilde klar wurde, dass der grässliche Köter nicht über den hohen Zaun springen und kleine Mädchen fressen konnte – aber die ganze zweite Klasse hindurch hatte sie lieber einen größeren Umweg zur Bushaltestelle gemacht.

Jetzt war das Untier natürlich lange tot – und dass dieses Horrorhaus nicht mehr existierte, freute Mathilde direkt. Die kunterbunten Reihenhäuser, die jetzt dort standen, sahen viel netter aus. Und die Vorgärten voller Bobbycars, Fahrräder, Roller und Sandspielzeug zeigten, wie viele Kinder hier wohnten und hoffentlich so viel Krach machten, dass die Nonna langsam wahnsinnig wurde.

Sie musterte die Reihenhäuser beifällig und schlenderte weiter. Die Reihenhausanlage reichte bis zur Ecke Schellingstraße. Sie trat auf die Fahrbahn, um die Straße zu überqueren, und sprang entsetzt zurück, als ein feuerroter Kleinwagen vorbeischoss.

„Was zum Henker…?“, keuchte sie erschrocken. Hier war doch Tempo dreißig, immer schon gewesen? Seitdem es das gab, wenigstens. Wie konnte man hier so rasen und harmlose Fußgänger gefährden?

Okay, sie bildete sich ein, ein junges erschrockenes Gesicht hinter dem Steuer gesehen zu haben. Eine Frau. Führerscheinneuling, gerade dem begleitenden Fahren entronnen.

Und hier war dermaßen tote Hose, dass man wohl Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht so eng sah. Absolut niemand auf der Straße.

Nicht einmal eine Mama oder ein Papa auf dem Fahrrad mit Kinderanhänger auf dem Weg zum Wertstoffhof.

Nicht einmal kichernde Teenies auf dem Weg zum Bus, um am Markt ein bisschen zu shoppen, angesagte T-Shirts oder Schuhe.

Nicht einmal Väter auf dem Weg zum Elektronikmarkt oder zum Baumarkt. Oder machten so was hier draußen ohnehin die Hausmeister?

Der Großvater hatte nie etwas am Haus gerichtet, dafür bestellte die Haushälterin dann Handwerker – aber waren die Sitten immer noch so?

Jedenfalls war die Gegend total ausgestorben. Mathilde atmete tief durch, presste kurz die Hand auf ihr wild pochendes Herz, sah sich gründlich um und überquerte dann doch die Straße.

Die Schellingstraße war genauso menschenleer. Nicht einmal Laub lag auf den Bürgersteigen! Anscheinend hatte man schon die dienstbaren Geister mit dem Besen nach draußen geschickt.

Hier standen noch alle Häuser von früher, aber sie wirkten etwas kleiner und weniger gut in Schuss, kein Wunder. So billig war es nicht, diese uralten Riesenhütten instand zu halten. Mathilde wechselte auf die andere Straßenseite, um nicht etwa von der Nonna oder dem Großvater gesehen zu werden. Außerdem sah man von dort das Haus in seiner Gesamtheit besser.

Nummer siebzehn sah aus wie immer. Einen frischen Anstrich hätte es zwar vertragen können, aber davon abgesehen wirkte es noch einigermaßen gepflegt. Zu sehen war freilich niemand, aber die Nonna und der Großvater waren noch nie große Fans ihres eigenen Gartens gewesen, egal ob Gartenarbeit oder Abhängen im Liegestuhl. Hinter einem Schreibtisch oder in der Küche wichtig tun – ohne wirklich selbst zu arbeiten – das lag beiden deutlich mehr.

Auf der Straße vor dem Haus stand nur ein Wagen, ein dunkelblauer Polo ohne nähere Typenbezeichnung. Der war dann wohl für die Haushälterin gedacht. Hatten die beiden eine neue? Warum parkte die nicht drinnen?

Mathilde überlegte, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass Frau Deinlein einen Wagen gehabt hatte. Konnte die überhaupt Auto fahren? War sie nicht immer mit dem Fahrrad losgezogen? Zu den Läden vorne am Schopenhauerplatz? Wie alt war sie heute wohl? Als Mathilde das Haus verlassen hatte, war Frau Deinlein schätzungsweise Anfang fünfzig gewesen… dann war sie jetzt ja wohl allmählich reif für die Rente. Ob die Nonna ihr irgendwas zahlen würde?

Das Haus sah wirklich tot aus, aber das war ja eigentlich nichts Neues. Sie wandte sich ab und ging weiter. Ein Mann kam ihr entgegen, Jeans, Walkjanker, kariertes Hemd – aber für irgendwelche Volksfeste war doch eigentlich gar nicht Saison?

Als der Mann auf Mathildes Höhe ankam, warf er einen giftigen Blick auf Nummer 17 und zischte: „Alte Hexe!“

Mathilde unterdrückte ein Glucksen und ging ohne Kommentar weiter. Die Nonna hatte also wirklich Feinde? Das geschah ihr Recht!

Und am Schopenhauerplatz hatte sich das Ladenangebot ziemlich verändert. Hier war sie wirklich elf Jahre lang nicht mehr gewesen, und damals hatte es einen kleinen, teuren Supermarkt, eine etwas altmodische Drogerie, eine Apotheke und eine Reinigung gegeben. Ja, und den Zeitungskiosk, bei dem man auch am Wochenende Chips kaufen konnte, wenn der Leidensdruck zu groß war.

Halb deprimiert, halb schadenfroh sah Mathilde sich um: Ein Pizzadienst, die Apotheke (Apotheken starben nicht), ein leerer Laden (ZU VERMIETEN), ein Laden für orthopädische Waren – war die Klientel jetzt schon so alt, dass sich ein Rollator-Shop rentierte? Und der Kiosk war verschwunden, an der Stelle stand nun eine Werbetafel. Geworben wurde für ein Musical in Hamburg.

Deprimierend, wirklich. Aber der Nonna war´s zu gönnen.

Mathilde drehte eine Runde um den Platz, strafte die Straßen, die zum Leiß-Hochufer führten, mit Nichtachtung und schlenderte auf Umwegen zum Fichteplatz zurück, wo sie auf den Bus wartete.

Henting konnte man wirklich abhaken, fand sie, als sie nach Hause kam. Öde wie immer. Nein, noch öder. Und die Nonna oder den Großvater besuchen? Kam ja gar nicht in Frage, sie war bloß froh, dass sie da raus war.

Und als Samstagsspaziergang hatte das Ganze seinen Zweck sehr zufrieden stellend erfüllt.

Sie setzte sich wieder an ihre Dissertation und las sie erneut Korrektur, machte sich Notizen, straffte gelegentlich den Satzbau, strich wieder einige Füllwörter (warum fand man immer wieder welche, egal, wie oft man den Text schon gelesen hatte?), entdeckte zwei Stellen, an denen ein Beleg etwas unklar klang, und schrak hoch, als es an der Tür klingelte.

Alte Hexe

Подняться наверх