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12 MO 23.04.

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Anne und Joe sahen sich in der Schellingstraße um, dann seufzte Anne: „Komplett tote Hose. Hier möchte man ja nicht mal tot überm Lattenzaun hängen!“

„Langweilig ist es hier auf jeden Fall. Und die Hütte von den Carins hat auch so was Düsteres… da hätte ich auch nicht aufwachsen mögen“, stimmte Joe zu und drückte entschlossen auf den Klingelknopf.

„Nicht mal ein Namensschild“, murrte Anne und folgte ihm, als der Summer ertönte.

In der Haustür stand eine Frau um die Sechzig in biederer Kleidung und mit grimmiger Miene. „Ja?“

„Kripo Leisenberg“, antwortete Anne kalt und hielt ihren Ausweis hoch. Joe tat es ihr gleich.

„Schon wieder…“

„Und wer sind Sie?“

„Thea Deinlein. Ich führe den Herrschaften den Haushalt.“

„Die Haushälterin also“, folgerte Joe nicht allzu geistreich.

„Die Hausdame“, wurde er pikiert verbessert, aber immerhin trat Frau Deinlein nun wenigstens soweit zur Seite, dass sie beide eintreten konnten.

Düstere Halle, dunkle, gedrechselte Möbel – die hatten ihnen schon nicht gefallen, als sie zum Tatort gerufen worden waren. Und kalt war es hier!

Joe schauerte und warf Anne einen sprechenden Blick zu. Anne zuckte die Schultern. „Ist wohl auch schwer zu heizen.“

Das trug ihr einen giftigen Blick von der Deinlein ein, die ihnen gemessen voranschritt.

„Herr Carin? Die – äh – Leute von der Polizei sind schon wieder da?“

„Nochmal?“ Regelrecht greinend.

„Ja, tut uns Leid“, sagte Anne munter, schob die Deinlein etwas beiseite und betrat forsch das Arbeitszimmer, in dem Viktor Carin hinter einem imposanten Schreibtisch saß. Joe hatte einen Moment lang Mitleid – was jetzt wohl alles zu regeln war, Karten, Beerdigung, Anzeigen…

Obwohl, wie viele Verwandte und Freunde hatte er denn schon? Der Enkelin zufolge gab es doch keine Familie mehr, und zumindest mit der Nachbarschaft waren die Carins ja wohl flächendeckend verkracht. Na gut, diese Tochter in Ravenna gab es auch noch – aber hatten die überhaupt Kontakt?

Außerdem sah der Schreibtisch so gar nicht nach Arbeit aus, die Arbeitsplatte glänzte, der schwere Füller lag in der silbernen Stifteschale, und außer einer schmalen Mappe war weiter nichts auf dem Tisch zu sehen. Wenn der Alte Arbeit vortäuschen wollte, musste er sich aber mehr anstrengen!

„Was wollen Sie denn schon wieder?“, murrte er und starrte Anne und Joe aus seinen blassblauen Augen erbost an.

Hatte wirklich mal gut ausgesehen, stellte Anne leidenschaftslos fest, elegant geschnittenes Gesicht – aber nun war er schon recht klapprig. Zweiundachtzig, wenn sie sich recht an die Akten erinnerte. Seine ermordete Frau war achtundsiebzig geworden.

Ja, klapprig. Und er wirkte schwächlich. Nicht physisch, sondern charakterlich, soweit man das ohne nähere Kenntnis beurteilen konnte, aber dieses mürrische und etwas selbstmitleidige Gehabe…

„Ich gehe doch davon aus, dass Sie uns gerne dabei unterstützen möchten, den Mörder Ihrer Frau zu finden?“, erkundigte sie sich mit seidiger Stimme. Joe allerdings hörte einen giftigen Unterton heraus – der olle Carin sollte sich in Acht nehmen: Wenn Anne erst mal wütend wurde…

„Na, hier finden Sie den Mörder ganz bestimmt nicht. Oder glauben Sie, dass ich es war? Oder Frau Deinlein? Machen Sie sich doch nicht lächerlich!“

„Dann haben Sie sicher einen Vorschlag?“, versuchte Joe es mit der freundlichen Tour.

„Ich? Wieso ich? Ist das vielleicht meine Aufgabe? Wozu zahle ich Unsummen an Steuern? Aber schauen Sie sich doch mal in der Nachbarschaft um. Oder unsere missratene – naja – Enkelin, wenn die überhaupt noch lebt, bei dem Lebenswandel…“

„Sie lebt noch, keine Sorge“, fauchte Anne. „Was heißt hier überhaupt Lebenswandel?“

„Ach, dieses verkommene Gör, da haben wir ja wirklich nicht mehr viel erwartet. Und sie hat sich ja auch nie mehr bei uns gemeldet – also, nicht, dass wir sie noch hereingelassen hätten…“

„Warum hätte sie sich denn dann melden sollen?“, konnte Joe sich nicht mehr bezähmen.

„Aus Respekt vor uns? Immerhin haben wir sie aufgezogen, oder? Meine Frau war da einfach viel zu weichherzig. Ich wäre eher dafür gewesen, das Kind einfach in ein Heim zu geben, wo man mit solchen Kindern richtig umgehen kann – aber Maria meinte ja, das wäre nicht so klug, wir sollten lieber selbst… das hat sie jetzt davon.“

Er versank in brütendes Schweigen.

Anne und Joe schauten sich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Wie meinen Sie das – solche Kinder?“, fragte Anne dann. „Hatte Mathilde denn ein Problem?“

„Na, wenn Sie ihren Namen kennen, haben Sie wohl schon mit ihr gesprochen, dann müssten Sie ja wohl auch Bescheid wissen, wenn Sie ein bisschen aufgepasst haben!“

Vorwurfsvoller Blick.

„Frau Mathilde Carin ist eine sehr ordentliche junge Frau, sie promoviert gerade und arbeitet in einem Verlag. Ein bisschen unfroh vielleicht, das mag von der schweren Kindheit herrühren“, provozierte Anne den alten Herrn noch weiter – vielleicht gab ein kleiner Wutausbruch ja mehr Aufschluss?

„Da sieht man´s wieder – bei der Polizei sind heute einfach die falschen Leute. Junge Frau, Sie haben offenbar viel zu wenig Erfahrung und Menschenkenntnis. Diese – äh – Mathilde kann gar keine ordentliche junge Frau sein.“

„Warum nicht?“ Joe versuchte die rundäugige Masche Marke Großvater, erklär mir die Welt.

„Schlechtes Blut“, wurde er kurz abgefertigt.

„Was soll das denn heißen?“, mischte sich Anne wieder ein. „Meinen Sie das im Nazi-Sinn oder wie? Mathilde ist doch die Tochter Ihres Sohnes? Hatte der dann auch schlechtes Blut?“

„Werden Sie nicht unverschämt, junge Frau.“

Joe warf Anne einen Blick zu. Jetzt musste sie doch ausrasten? Noch schlimmer als „Junge Frau“ waren bloß „Mausi“ oder „Süße“. Dann bestand ernsthaft die Gefahr, dass sie zuschlug.

Tatsächlich machte Anne ihre berüchtigten schmalen Augen. „Entweder kommen Sie jetzt mal mit Fakten rüber, oder wir unterhalten uns im Präsidium weiter. Wenn Ihnen das natürlich lieber ist…“ Es gelang ihr, dabei auch noch einen angeekelten Blick einmal rund um das altmodische und etwas abgewirtschaftete Arbeitszimmer schweifen zu lassen. Joe bewahrte mühsam eine ernsthafte Miene.

Carin grummelte vor sich hin, dann entschied er sich offenbar doch dafür, lieber hier bleiben zu wollen. „Natürlich war unser Walter nicht das Problem! Ach, dass wir ihn verloren haben… daran war natürlich auch diese Straßengöre schuld. Und Mathilde schlägt ihr doch in allem nach!“

„Straßengöre?“

„Na, diese Anette! Ich bitte Sie, wie kann ein ordentlich erzogener junger Mann, vor dem die schönste Zukunft liegt, eine solche – äh – Person heiraten? Ein richtiges Früchtchen, ohne Kinderstube, ohne angemessenen Background. Eine richtige Mesalliance war das, wir waren entsetzt, das kann ich Ihnen sagen! Aber unser Walter war ja so betört von dieser Person, es war kein Durchkommen zu ihm. Und kaum war diese unglückselige Verbindung ein paar Monate alt, verkünden die beiden auch noch strahlend, dass sie ein Kind bekommen! Solches Blut in unserer Familie! Maria und ich waren wirklich verzweifelt, das kann ich Ihnen sagen.“

Er wischte sich mit zittriger Hand über die Augen.

„Ich habe nur immer noch nicht verstanden, was an dieser Anette gar so furchtbar war“, merkte Anne an. „Hat sie sich schlecht benommen? War sie keine – äh – Deutsche oder so? Litt sie an einer Erbkrankheit? Ich kann mit Ihren Hinweisen auf das Blut nichts anfangen.“

Carin warf ihr einen verächtlichen Blick zu. „Dass Sie für so etwas keinen Blick haben, wundert mich nicht, wahrscheinlich sind Sie auch nicht besser.“

„Mir scheint, Sie hätten gerne eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung?“, schlug Joe seidenweich vor. „Wenn Sie so weitermachen, können wir Ihnen da sicher behilflich sein. Was war jetzt an Ihrer Schwiegertochter so schlimm?“

„Na, die Herkunft! Ist doch klar! Wir gehörten immerhin zur Oberschicht dieser Stadt!“

„Aha“, machte Anne und sah sich naserümpfend um, dann nieste sie. „Bisschen staubig hier.“

Frau Deinlein, die in diesem Moment ihrem Dienstherrn einen Kaffee servierte – der Polizei wurde natürlich keiner angeboten – schnaubte. „Für die gnädigen Herrschaften war es immer gut genug!“

„Staubwischen könnten Sie hier wirklich mal wieder“, sagte da der alte Carin und erntete einen waidwunden Blick. Beim Gehen zog Frau Deinlein die Tür auch um einen Hauch lauter als notwendig zu.

„Also, Sie sind sozusagen Patrizier, ja?“, knüpfte Joe dort an, wo Frau Deinlein sie unterbrochen hatte. „Und was war dann bitte Anette?“

„Eine kleine Proletin“, murrte Carin und schüttete sich Unmengen Zucker in den Kaffee. Anne wünschte ihm einen ordentlichen Diabetes an den Hals und wartete.

„Eine Fabrikarbeiterin? Wo hat Ihr Sohn sie denn kennen gelernt?“, bohrte Joe weiter.

„Ach nein, ihr Vater war wohl so ein kleiner Lehrer oder so, und sie hat auch ihre Zeit an der Universität vertrödelt, Germanistik oder sonst etwas Überflüssiges…“

„Na, das nenne ich dann doch obere Mittelschicht“, verwertete Joe ein altes Seminar über die Soziologie der Bundesrepublik, in das er sich einmal wegen eines Mädchens verirrt hatte.

„Auf jeden Fall unpassend“, beharrte Carin.

„Und hat Ihr Sohn denn nicht studiert? Weil Sie ein Studium für überflüssig halten?“

„Natürlich hat er studiert! Er sollte doch eines Tages den Betrieb übernehmen, wir hatten immerhin fünf Filialen! Elegantes Heim, kennen Sie natürlich nicht.“

„Natürlich nicht“, bestätigte Anne giftig. „Weil wir kulturlose Idioten sind oder weil die Kette längst eingegangen ist?“

Ein müder Blick.

„Nach Walters Tod hatte die Kette ja nicht mehr viel Zukunft. Als wir beide älter wurden, haben wir alles verkauft. Ich glaube, einige der Läden heißen heute Hingucker. Albern. Naja, das ist wohl der Zeitgeschmack…“

Anne nickte. „Und sonst hatten Sie keine Kinder, ich verstehe schon…“

„Richtig. Ich habe keine Tochter mehr. Und nach Walters Tod… wir konnten das Kind doch nicht bei dieser Person lassen… dieses unreife Gör… ein solches Kind braucht schließlich eine feste Hand. Wie gesagt, ich wäre für ein Heim gewesen – oder doch so früh wie möglich für ein strenges Internat, am besten ein kirchliches.“

„Aber Ihre Frau hatte andere Pläne?“

„Ach ja… Sie war nicht sicher, wie das aussähe… aber dass das Kind eine strenge Hand brauchte, wusste sie natürlich auch…“

Bevor Anne endgültig explodieren konnte, klingelte es an der Tür. In der Ferne der Eingangshalle war ein Disput zwischen der Deinlein und einer anderen Frau zu hören, dann sagte die unbekannte Stimme: „Ach was, das haben Sie ja wohl nicht zu entscheiden!“.

Einen Moment später wurde die Tür zum Arbeitszimmer aufgestoßen, und eine Frau zwischen Vierzig und Fünfzig eilte herein. „Herr Carin, ich habe es gerade erst gehört – wie furchtbar für Sie! Sie Armer! Wie müssen Sie sich jetzt fühlen! Kann ich denn irgendetwas für Sie tun?“

Carin blinzelte leicht verblüfft in Richtung der Besucherin. „Oh – äh – danke, Frau Zenn, das ist – äh – sehr nett von Ihnen…“ Er verstummte unentschlossen.

„Wer sind Sie denn?“, fragte Anne.

Die Dame schoss sofort zurück. „Und wer sind Sie überhaupt?“

„Kripo Leisenberg“, antwortete Anne kalt und zückte ihren Ausweis. „Malzahn. Mein Kollege Schönberger. Also?“

„Elfriede Zenn. Ich bin eine Nachbarin. Als ich gehört habe, was hier vorgefallen ist… der arme Herr Carin!“

Die Tote bedauerte niemand, stellte Joe fest, aber die schien ja auch ordentlich Haare auf den Zähnen gehabt zu haben. Andererseits war der grässliche Alte auch nicht viel besser. Die Enkelin konnte einem wirklich nur leidtun.

Carin wirkte etwas entspannter, das Bedauern tat ihm offenbar gut. „Kann ich denn etwas für Sie tun? Ich könnte Ihnen einen Kuchen bringen… meinen berühmten Kirschkuchen, den mögen Sie doch so gerne?“

Anne mischte sich wieder ein, denn Kirschkuchen war jetzt eigentlich nicht das Thema.

„Sie sind eine Nachbarin? Dann sagen Sie uns doch sicher gerne Ihre Adresse?“

„Schopenhauerplatz 3“, war die etwas verkniffene Antwort.

„Und Sie waren sicher auch mit Frau Carin befreundet?“

„Warum wollen Sie – ja, natürlich! So eine nette Frau!“

Ach ja?

„Dann wissen Sie sicher auch, wer vielleicht hier etwas gegen sie gehabt haben könnte?“, fragte Joe und zog sein in solchen Fällen bewährtes Schwiegersohn-Gesicht.

Tatsächlich lächelte die Zenn kurz und fuhr sich glättend über die etwas metallisch blonden Locken. Dann dachte sie heftig nach – oder tat wenigstens so.

„Gegen Frau Carin – nein, das wüsste ich eigentlich nicht. Sie war doch eine reizende Nachbarin. Gut, wenn dieses eigenartige Volk aus den billigen Reihenhäuschen Lärm machte, konnte sie schon energisch werden, aber dabei standen wir doch alle hinter ihr!“

„Sie meinen diese Neubauten in der Kantstraße? Warum wohnen da eigenartige Leute?“

„Ach, so richtige Unruhestifter. Mit Kindern! Kein Benehmen. Ich glaube, manche haben sogar Tiere, Hunde und Katzen, furchtbar. Das ist hier doch eine ruhige, anständige Gegend, hier wird nicht gegrillt, gebellt oder laut gespielt. Frau Carin hatte sich damals sehr dafür eingesetzt, diese Reihenhäuser zu verhindern, aber leider erfolglos. Wissen Sie noch, Herr Carin? Es gab doch auch die Idee, aus dem Grundstück einen Park zu machen.“

Anne verdrehte die Augen. „Dass es in Leisenberg einen großen Bedarf an Wohnungen gibt, ist Ihnen noch nicht aufgefallen?“

Die Zenn schnaubte. „Solche – äh – Bedürftigen haben aber doch in Henting nichts zu suchen. Kann man da nicht ein paar Hochhäuser am Kreuz West hochziehen? Das reicht doch wohl für solche Leute?“

Anne und Joe wechselten einen Blick, dann verteilten sie ihre Visitenkarten, notierten die Telefonnummern und verzogen sich nach draußen.

„Gott, was für ein asoziales Pack“, stöhnte Anne draußen. „Ich war jetzt echt kurz davor, dieser Zenn eins reinzuhauen.“

„Dann schimpft aber der Chef“, kommentierte Joe, der ohne Diskussion auf der Beifahrerseite einsteigen wollte. „Allerdings fand ich die alle auch zum Reinhauen blöd. Diese unglaubliche Arroganz!“

„Und diese Verlogenheit“, fügte Anne hinzu und betrachtete Joe über das Wagendach. „Warum stehst du da eigentlich? Wir schauen uns jetzt erst einmal diese Reihenhäuser genauer an, da könnte es wirklich Leute geben, die was gegen die alte Carin hatten. Hat diese Mathilde nicht was in der Art erwähnt?“

„Ja, einer hat Alte Hexe gesagt. Auf der Höhe dieser düsteren Villa. Gut, du hast Recht, gehen wir.“

Es gab an der entsprechenden Stelle sechs Reihenhäuser, mit Pultdach, interessanter Fassadengestaltung und Sonnenkollektoren auf dem Dach. Höchstens drei Jahre alt, schätzte Anne. Die Vorgärten lagen zum Teil voller Kinderkram – Bobbycars, Fahrräder, Bollerwägen, Anne sah sogar eine vergessene Puppe.

„Die reinste IKEA-Idylle. Und dann um die Ecke die Hexe aus dem Lebkuchenhaus“, kommentierte Joe. Anne sah ihn erheitert an. „Nicht schlecht. Joe, du machst dich. Gutes Bild. So, und wer wohnt jetzt hier alles? Schmidt, Hommelsen, Düker, Martin, Posch, Kratzberger.“ Sie sah auf die Uhr. „Zehn nach fünf, da müssten die Leute doch eigentlich schon zu Hause sein. Komm, packen wir´s an.“

Alte Hexe

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