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13 MO 23.04.

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Mathilde sah sich kritisch in der Wohnung um, als sie von Lingua zurückkam. Noch kaum besser, das musste man sagen – aber immerhin hatte sie doch schon mal einen Anfang gemacht. Vielleicht konnte sie morgen noch etwas in der Lesefabrik und bei Ronny vorbeibringen? Um elf hatte sie eine Besprechung mit ihrem Doktorvater, davor konnte sie durchaus noch einiges regeln. Und vielleicht auch einiges von Tante Annis Klamotten aussortieren. Vielleicht konnte sie davon sogar etwas brauchen? Tante Anni war zwar einen halben Kopf kleiner und dafür bestimmt fünfzehn Kilo schwerer gewesen, aber manches war ja eher größenunabhängig.

Strohhüte zum Beispiel, spottete sie über sich selbst. Wahnsinnig wesentlich.

Na, später.

Zunächst war wohl die Dissertation ein bisschen wichtiger. Mathilde kramte durch ihre Kopien und fand noch etwas Interessantes: Stimmte ja, die Fakten über Walter Simms wollte sie noch einarbeiten. Schließlich war es mühsam genug gewesen, das alles zusammenzutragen.

Walter Simms hatte in Heidelberg (bis 1932) und in Oxford studiert (bis 1934), dann als Journalist in London gearbeitet und als politischer Korrespondent in Madrid, erlebte den Kriegsausbruch 1936 live mit, kämpfte gegen die Falange und wäre beinahe noch in Kriegsgefangenschaft geraten. Er hatte Hemingway getroffen und später Paris beim Einmarsch der Deutschen so fluchtartig verlassen, dass man sich an Casablanca erinnert fühlte. Nur die Fluchtrichtung war eine andere. Von ihm gab es etwa zehn Kurzgeschichten, die aber zum Teil erst lange nach Kriegsende entstanden waren, was ihre Bewertung etwas problematisch machte.

Genau das aber wollte Mathilde versuchen und daraus eine grundsätzliche Frage machen – wie brauchbar waren solche im Nachhinein entstandenen Texte? Als Quelle? Als Beleg für die Rezeptionsgeschichte? Als etwas anderes? Sie schrieb etwa eine Stunde genussreich vor sich hin, wühlte nach den passenden Belegen, fügte sie ein, las sich befriedigt durch, was sie da gebastelt hatte, ließ alle Fußnoten neu nummerieren und fand dann, sie habe eine kleine Aufräumpause verdient.

Aber wo sollte sie anfangen?

Geschirr, beschloss sie. Wenn sie noch ein Service fand… da wurde doch wirklich ordentlich Platz frei! In manche Schränke hatte sie beim Einzug nur flüchtig geschaut – aha, voll, also nicht verwendbar – da konnten ja noch Schnäppchen auftauchen.

Sie arbeitete sich langsam durch alle Oberschränke, freute sich an den beiden, die schon leer waren, entdeckte einige Überreste von unechtem Zwiebelmuster – weniger interessant – und einen Satz Gläser, die die Spülmaschine nicht vertragen hatten. Die warf sie gleich weg; bei Gelegenheit holte sie sich eben mal einen Satz klare Gläser im Kaufhaus. Oder wenn mal jemand zu IKEA fuhr…

Zu einer Sammlung einzelner Kuchenteller fiel ihr nichts ein – auf der Rückseite stand auch nichts Verheißungsvolles.

Mathilde verlor die Lust und schaute lieber in den Hochschrank hinter der Küchentür. Bei ihrem Glück gab es dort wahrscheinlich eine Sammlung abgenudelter Reisigbesen…

Nein, besser!

Sie zog die Tür auf und prallte zurück: Tatsächlich noch mehr Geschirr! Weiß mit dunkelrotem Rand, stark verschnörkelt, offenbar auch für zwölf Personen.

Wenn sie diesen Kram morgen wieder zu Ronny schleifte, traf den wahrscheinlich der Schlag. Aber den ganzen Schrank leer zu kriegen… man könnte ihn gründlich putzen und dann in aller Ruhe überlegen, was da hinein kommen sollte… verlockender Gedanke. Außerdem war das Geschirr ziemlich scheußlich, fand sie. Irgendwie klobig in der Form. Nicht ihr Geschmack.

Sie holte sich einen der vielen Körbe aus der Abstellkammer (die war irgendwann auch einmal fällig!), schlug einen Essteller und eine Suppentasse in Zeitungspapier ein und packte beides in den Korb. Erst einmal nachfragen, vielleicht wollte Ronny den Kram ja gar nicht haben…

Im untersten Fach dieses großen Schranks entdeckte sie noch ein silbernes Teeset – Kanne, Milchkännchen, Zuckerdose, Zuckerzange, Tablett. So etwas brauchte sie doch nie! Das konnte auch zu Ronny. Sie wickelte alles in Papier ein und packte es zu den beiden Musterstücken.

Dann fischte sie noch dreißig Heftchenromane und zwanzig Hardcoverschinken aus Tante Annis Regalen, stapelte alles in einen weiteren Korb und schaute mal spaßeshalber in einen der Unterschränke im Wohnzimmer: stapelweise Zeitschriften. Solche mit Schnittmustern. Aus den siebziger und achtziger Jahren - einen gewissen Retro-Charme hatten sie ja, aber brauchen konnte man davon auch nichts mehr. Mathilde wählte zwei besonders lustige Titelbilder aus, legte diese Hefte beiseite und stopfte alles Übrige in mehrere große Mülltüten. Hoffentlich war im Papiercontainer noch genügend Platz?

Ja, so gerade noch.

Erschöpft kehrte sie in die Wohnung zurück und schloss nachdrücklich alle offenen Schranktüren: Für heute reichte es, und wenn tatsächlich bald die beiden von der Kripo kamen, sollte es hier nicht aussehen, als habe sie nur auf den Tod der Nonna gewartet, um die Wohnung ausschlachten zu können. Noch verdächtiger musste sie sich wirklich nicht machen!

Kaum hatte sie die Wohnung wieder in einen Zustand versetzt, als habe sie noch kaum etwas angerührt, klingelte es tatsächlich. Sie ließ Malzahn und Schönberger ein, führte sie in das immer noch vollgestopfte Wohnzimmer und wies auf die Sofas.

„Möchten Sie einen Kaffee? Oder ein Wasser?“

Beide lehnten ab und wünschten die Fotos und Alben zu sehen. Mathilde holte eifrig alles herbei und ließ sich in den rissigen Ledersessel fallen, um den beiden beim Studium zuzusehen.

Sie betrachteten alles konzentriert, tauschten sich leise über das aus, was sie sahen, und brummten unzufrieden vor sich hin.

Mathilde fühlte absurderweise das Bedürfnis, sich für das unzureichende Material zu entschuldigen – aber was konnte sie für ihre schreckliche Familie? Und ihr hatte ja ohnehin nie jemand was erzählt. Einmal hatte sie die Nonna gefragt – als sie ungefähr zehn war – wo denn die Mama eigentlich hin sei, und da hatte die Nonna nur gesagt: „Weg.“ Und dabei hatte sie ein Gesicht gemacht, dass Mathilde sich nicht traute, weiter zu fragen.

„Gesine?“, fragte die Malzahn schließlich.

„Ja?“ Mathilde verstand nicht recht, was sie wollte.

„Eine Gesine haben wir im Netz gefunden. Wissen Sie etwas über sie?“

Mathilde fiel etwas ein. „Ja… in dem Album gibt´s ein Bild, Walter bestaunt seine kleine Schwester – das war dann wohl meine Tante. Woran die nun wieder gestorben ist… Allmählich glaube ich, ich werde auch nicht besonders alt, bei den Erbanlagen…“

„Unsinn. Ihre Großeltern haben doch ein recht gesegnetes Alter erreicht, und Ihr Vater ist bei einem Autounfall umgekommen.“

„Ach ja?“

„Das wussten Sie auch nicht?“, fragte Schönberger.

Mathilde hoffte, dass ihr der betont nachsichtige Gesichtsausdruck gelungen war. Offenbar ja, Schönberger seufzte. „Schon klar – Sie wussten gar nichts.“

„Ganz richtig. Also, mein Vater ist bei einem Unfall umgekommen. War meine Mutter möglicherweise schuld an diesem Unfall? Wurde sie deshalb so totgeschwiegen? Ach, Blödsinn, sie haben ja auch meinen Vater totgeschwiegen, und der war der Sohn. Vielleicht haben beide irgendwas Grässliches angestellt… aber dann hätten sie mich doch auch bei meinen Eltern lassen können – sie mochten mich doch sowieso nicht.“ Sie stöhnte auf. „Nein, hören Sie mir gar nicht zu, das ist ja alles Quatsch.“

„Ziemlich“, gab ihr die Malzahn freundlich Recht. „Vermutlich ist nämlich außer Ihrer Großmutter überhaupt niemand tot – ja, gut, Ihr Vater natürlich auch. Es gibt da einen Pressebericht im Internet, googeln Sie den bei Gelegenheit mal. Diese Gesine lebt in Ravenna, aber bis jetzt haben wir sie noch nicht erreicht.“

„Ah ja“, machte Mathilde. „Ich möchte mal wissen, warum die auch totgeschwiegen wurde. Was sagt eigentlich mein Großvater dazu? Oder dürfen Sie mir dazu nichts sagen?“

„Eigentlich nicht“, antwortete die Malzahn langsam, „aber da haben wir auch einen gewissen Ermessensspielraum. Ihr Herr Großvater hat also gesagt, er habe keine Tochter mehr. Wir hatten aber eigentlich gefragt, ob er außer Ihrem Vater noch weitere Kinder habe. Die seltsame Antwort war schon verdächtig.“

„Wahrscheinlich haben sie diese Gesine einfach weggebissen“, vermutete Mathilde. „Aber wenn sie alle in die Verbannung schicken, die ihnen nicht passen, hätten sie mich doch auch in ein nettes, freundliches Waisenhaus stecken können? Dann hätte ich vielleicht eine schönere Kindheit gehabt.“

Malzahn und Schönberger schauten mitfühlend drein, dann räusperte sich die Malzahn, die eindeutig aus härterem Holz geschnitzt war, und griff nach einem Stapel loser Fotos. Nachdem sie sie durchgeblättert hatte, sah sie Mathilde ärgerlich an: „Was sollen wir denn damit?“

Mathilde zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, wer da drauf ist. Und da ich überhaupt nichts weiß, weiß ich natürlich auch nicht, was hier wichtig ist und was nicht. Ich hab einfach mal alles hergerichtet, was ich gefunden habe. Sie dürfen das alles auch gerne mitnehmen, mir genügt es völlig, wenn ich irgendwann mal ein Bild von der Tante Anni wieder kriege. Die war ja wohl die einzige Nette in der Familie, und sie hat mir diese Wohnung vererbt.“

Schönberger nickte und packte Album und lose Fotos in eine Tüte, dann holte er das Album wieder heraus, blätterte es durch, löste ein Foto vorsichtig heraus und reichte es Mathilde: Tante Anni in ihren letzten Jahren. Ja, so konnte sie sich auch an sie erinnern.

„Danke schön. Ich werde es rahmen und aufstellen. Haben Sie denn sonst noch Fragen?“

Hatten sie nicht. Mathilde brachte die beiden zur Tür und ging dann auf die Suche nach einem geeigneten Rahmen. Tatsächlich fand sie etwas – einen Rahmen aus Kirschbaumholz in der richtigen Größe, in dem zwar ein Foto steckte, aber ein eher belangloses, ein Schwarzweißfoto eines gigantischen Blumenstraußes. Damit konnte nun außer Tante Anni selbst niemand etwas anfangen.

Gerahmt sah das Bild von Tante Anni richtig gut aus. Sie stellte den Rahmen ins Wohnzimmerregal, damit Tante Anni ihr beim Ausmisten zusehen konnte, dann holte sie sich eine Handvoll Plastiktüten aus der Küche und ging vor den Unterschränken in die Hocke.

Oha!

Noch mehr Zeitschriften.

Noch mehr alte Klatschzeitschriften. Sie interessierte sich eigentlich gar nicht für gekrönte Häupter und ähnlichen Kram, aber dann suchte sie doch einige interessante Hefte heraus, zum Beispiel aus der Woche, als Prinzessin Diana verunglückt war. Einige andere spektakuläre Fürstenhochzeiten legte sie ebenfalls beiseite und entsorgte dann den Rest.

Hm… aber würde sie diese geretteten Hefte denn jemals ansehen? Wohl kaum, beschloss sie. Und wert waren sie auch nichts. Was sie gerne gehabt hätte, wäre der „Stern“ gewesen – die Ausgabe, in die die Hitler-Tagebücher angekündigt wurden. Aber so etwas hatte Tante Anni offenbar nicht gelesen.

Mathilde rappelte sich auf, stopfte wirklich alles in die Tüten und schleifte alles zum Papiercontainer.

Wieder zwei völlig leere Schränke, freute sie sich hinterher und wischte beide sorgfältig aus. Für heute war das schon sehr ordentlich – und jetzt würde sie noch etwas für die Lesefabrik heraussuchen. Sie sortierte noch so viele schmalzige Schmöker aus, gebunden mit grellbuntem Schutzumschlag, dass es für zwei weitere Tüten reichte - dann hatte sie genug. Morgen würde das alles weggetragen, und dann sähe es hier schon geringfügig besser aus.

Alte Hexe

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