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Eine Festanstellung im Lingua-Verlag… das wäre toll, freute Mathilde sich auf dem Weg in die Uni, kurz unterbrochen von einem recht schnöseligen jungen Mann, der aussah wie ein Juradrittsemester, aber nicht wusste, in welcher Richtung die Altstadt lag. Sie zeigte etwas uninteressiert in südliche Richtung und eilte dann weiter, um pünktlich im Kandidatenseminar zu erscheinen.

Sehr spannend war es dort nicht, zwei Teilnehmer stellten ihre Arbeiten vor und baten um konstruktive Kritik, es wurde etwas lahm diskutiert, die beiden bekamen einige Tipps, die nicht allzu originell waren, und schließlich beendete der Professor die Sitzung. Zwanzig vor sieben, stellte Mathilde fest. Das ging ja noch, da konnte sie noch etwas an ihrer Dissertation feilen.

Sie besorgte sich unterwegs noch eine Vollkornsemmel und aß zu Hause dann diese Semmel und einen Apfel, dazu ein hartes Ei. Das genügte, fand sie, besonders viel Hunger hatte sie eigentlich nie.

Seltsam, wenn man es recht bedachte, überlegte sie, als sie den Teller abspülte und wieder auf das Trockengestell legte. Als sie an ihrem achtzehnten Geburtstag das Haus ihrer Großeltern verlassen durfte, war sie noch furchtbar dick gewesen, bestimmt hatte sie fast doppelt so viel gewogen wie jetzt.

Hatte sie früher in Henting mehr Appetit gehabt?

Hatte es ihr dort besser geschmeckt?

Also, das schon mal ganz bestimmt nicht. Die Haushälterinnen hatten durch die Bank abscheulich gekocht und die Nonna hatte sie auch nie dazu animiert, ordentlich zuzugreifen. Eher hatte man das Gefühl, dass sie ihrer einzigen Enkelin das Essen nicht gönnte.

Warum hatte sie dann dort mehr gegessen?

Sie konnte sich erinnern, dass sie in ihren Teeniejahren fast täglich auf dem Weg nach Hause beim Discounter eine Riesentüte Kartoffelchips mit Paprikageschmack (Sonderpreis, 79 Pf.) gekauft hatte. Die wurde dann nach dem schrecklichen Mittagessen (fettige Bratkartoffeln ohne Fleisch, Arme Ritter, Milchreis mit zerlassener Butter) in ihrem Zimmer verspeist. Angst, erwischt zu werden, musste sie nicht haben – die Nonna betrat ihr Zimmer eigentlich nie, und der Großvater schon gar nicht.

Täglich rund 200 Gramm billigste Chips… kein Wunder, dass sie völlig aus dem Leim gegangen war! Den Fraß, der als Mahlzeiten serviert wurde, musste sie ja schließlich obendrein vorher auch noch herunterwürgen: „Du bist recht undankbar, wenn du nicht aufisst, schließlich geben wir dir ein Heim und füttern dich hier durch!“ Eigentlich total unlogisch…

Warum diese Chips so tröstlich gewesen waren, konnte sie heute gar nicht mehr nachvollziehen; als sie an ihrem 18. Geburtstag ihre kläglichen Ersparnisse genommen hatte und ausgezogen war, hatte das Verlangen nach Fett, Kohlehydraten und künstlichen Aromastoffen in knisternden Superriesenfamilienpartypackungen schlagartig nachgelassen. Und damit waren die Pfunde stetig dahingeschmolzen; nach etwa eineinhalb Jahren war sie auf sechzig Kilo herunter gewesen.

Nicht, dass dies der Nonna irgendein Wort der Anerkennung entlockt hätte! Außer verächtlichen Blicken und bestenfalls noch der Bemerkung, dass sie als Versagerin aus der Gosse sich wohl nicht einmal vernünftiges Essen leisten könne, war nichts gekommen, wenn man sich vor Gericht begegnet war. Der Großvater hatte genauso angewidert geschnauft wie früher, als sie noch fett gewesen war.

Ja, und dann war ja der Supergau geschehen: Tante Anni war vor gut viereinhalb Jahren gestorben und hatte die fünf neuen und gut vermieteten Eigentumswohnungen in Mönchberg ihrer Schwester hinterlassen und – Sakrileg! – ihre eigene, etwas ältere und extrem vollgestopfte Wohnung im Waldburgviertel ihrer Großnichte Mathilde – damit das Kind ein ordentliches Zuhause hat.

Sofort hatte die Nonna dagegen geklagt – durch zwei Instanzen, und jedes Mal verloren. Beide Male hatten die Richter mit deutlichem Befremden darauf reagiert, dass sie ihrer einzigen Enkelin ein Erbe nicht gönnte, das nur ein Fünftel ihres eigenen Anteils ausmachte. Sie konnte ja keine vernünftige Begründung anführen, schwadronierte nur immer, Mathilde sei „unwürdig“ und habe Anni unzulässig beeinflusst, verstummte aber ärgerlich, wenn der Richter sie aufforderte, dies doch bitte zu präzisieren und vor allem auch zu belegen. Mathilde selbst hatte überhaupt nicht ausgesagt, sondern alles Ulli Petzl, ihrer Anwältin, überlassen.

Nach der zweiten Niederlage hatte die Nonna im Hinausrauschen verkündet, sie werde weiter klagen, denn Mathilde stehe überhaupt kein Cent vom Familienvermögen zu. „Du wirst das noch bereuen, pass nur auf!“, hatte sie gezischt, Mathilde aus dem Weg geschubst und das Gerichtsgebäude verlassen. Mathilde und Ulli hatten ihr kopfschüttelnd nachgesehen.

Seitdem war aber nichts mehr passiert; trotzdem traute Mathilde dem Frieden nicht. Am liebsten wäre sie in eine kleine Mietwohnung gezogen, aber sie hätte die Dreieinhalbzimmerwohnung im Rembrandtweg ja trotzdem sauber halten und heizen müssen. Und das Wohngeld bezahlen. Zwei Wohnungen konnte sie sich mit dem, was sie bei Lingua und mit gelegentlichen Nachhilfestunden verdiente, nicht leisten.

Der Schwebezustand ging ihr aber allmählich auf die Nerven.

Immer noch waren Schränke und Kommoden mit Tante Annis Besitztümern gefüllt, während Mathilde selbst ihr absolut Unverzichtbares in ein einziges Schrankfach und ebenso in ein einziges Regalfach gepackt hatte und alles andere in Umzugskisten in der Abstellkammer und im Flur aufbewahrte. Allmählich konnte sie deren Inhalt wohl unbesehen wegwerfen… was man fast fünf Jahre nicht gebraucht hatte, brauchte man wohl generell nicht mehr.

Wie wohnten wohl andere Leute? Sie kannte eigentlich nur das Haus ihrer Großeltern, groß, düster, prunkvoll im Geschmack der vorletzten Jahrhundertwende und immer schlecht geheizt.

Gut, ab und zu war sie als Kind bei Nachbarn gewesen, Keppels, und hatte mit Sandra gespielt, die Barbies Traumhaus besaß und eine Riesenkiste echter Barbiekleider. Die Nonna hätte nicht im Traum daran gedacht, ihr so etwas zu schenken. Mathilde bekam pro Woche fünf Mark Taschengeld, bis sie achtzehn war, und davon hätte sie sich ja solchen Unsinn kaufen können, hatte die Nonna verkündet. Zu Geburtstag und Weihnachten gab es Wäsche und Kleidung – natürlich auch keine Jeans, sondern graue Kleider mit Spitzenkragen, Faltenröcke und brave Pullover in gedeckten Farben. Zeug, das die Nonna auch selbst angezogen hätte.

Im Nachhinein fragte Mathilde sich, wo sie diesen tantigen Kram bloß in Kindergrößen aufgetrieben hatte – dass es ihr die viele Zeit wert gewesen war, bloß, um ihr die Kindheit zu versauen?

Das hatte übrigens nicht funktioniert – die Nonna war ein, zweimal in der Schule aufgetaucht und hatte Mathildes Klassenkameraden in Angst und Schrecken versetzt. Niemand dachte daran, sie wegen ihrer furchtbaren Klamotten oder der Tatsache, dass sie nie mit ins Kino durfte, zu mobben, alle bedauerten sie und waren extra nett zu ihr. Das nervte irgendwann zwar auch, aber Mathilde wusste natürlich, dass sie dafür dankbar sein konnte.

Sie schüttelte den Kopf. Statt hier düsteren Kindheitserinnerungen nachzuhängen und dabei vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, sollte sie lieber ihre Dissertation zum x-ten Mal durchlesen und sich notieren, was sie eventuell noch einmal nachschlagen musste.

Sie sah etwa zwanzig Seiten durch und fand noch einige Schwachstellen, dann schweiften ihre Gedanken wieder zurück zu Barbies Traumhaus. Sandra hatte irgendwann das Interesse an ihr verloren, weil Mathilde kein Barbie-Equipment mitbringen und auch keine Gegeneinladungen bieten konnte. Dabei hätte sich ihr riesiges Zimmer gut dafür geeignet, Barbies sämtlichen Krempel auf einmal aufzubauen.

Riesig, kalt und halb leer, erinnerte sich Mathilde. Riesig wohl auch nur deshalb, weil es in der Hentinger Villa einfach keine kleinen Zimmer gab. Unter vierzig Quadratmeter war da nichts zu finden. Ihre frühere Wohnung – im Legohaus – war insgesamt kaum halb so groß, aber geschickt eingerichtet. Eigentlich hatte es ihr dort ganz gut gefallen…

Sie seufzte und arbeitete weiter. Was brachte es schließlich, über die Vergangenheit nachzudenken?

Alte Hexe

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