Читать книгу Alte Hexe - Elisa Scheer - Страница 9
8 SO 22.04.
ОглавлениеMathilde hatte sich gegen sieben Uhr, nach dem Duschen, wieder an den Schreibtisch gesetzt und versucht, weiter an ihrer Dissertation zu feilen, aber ihre Gedanken irrten immer wieder ab.
Blöde Nonna, sogar im Tod störte sie sie noch bei der Arbeit! Und dann behaupten, Mathilde bekäme sowieso nichts auf die Reihe…
Unsinn, sie war ja tot.
Tot.
Ernsthaft tot. Kaum vorstellbar: Die Hexe war doch unsterblich gewesen!
Ob es wohl stimmte, dass der Großvater sie jetzt nicht mehr aus der Wohnung klagen konnte? Sie hatte sich so daran gewohnt, die Großeltern für allmächtig und über dem Gesetz stehend zu halten (kein Wunder nach dieser Kindheit), dass sie wohl bis an ihr Lebensende mit eingezogenem Kopf auf unausgepackten Kisten gesessen hätte.
Nachher würde sie mal Ulli Petzl anrufen, ihre Anwältin von damals. Aber nicht morgens um halb acht. Und jetzt wurde weitergearbeitet!
Sie schaffte zwei Seiten, dann ließ sie den Stift wieder sinken und seufzte.
Jemand hatte die Nonna umgebracht – wie eigentlich? Das würden die von der Kripo ihr natürlich nicht verraten, die waren ja auch nicht doof. Täterwissen nannte man so was wohl, wenigstens im Fernsehen.
Die Nonna hatte zu den Leuten gehört, bei denen man das Mundwerk extra erschlagen musste, so eine giftige Zunge hatte sie gehabt.
Und Mathilde hatte nie gewusst, warum sie sie nicht leiden konnte – ihre eigene Enkelin? Da zu Beginn noch kein Jahr alt gewesen war?
Und wenn sie sie schon nicht gemocht hatte, warum hatte sie sie dann aufgenommen? Warum nicht das erstbeste Waisenhaus? Vielleicht wäre es dort direkt netter gewesen. Auf jeden Fall hätte sie dort andere Kinder gehabt und vielleicht nicht so sehr das Gefühl, den Erwachsenen allein und hilflos ausgeliefert zu sein…
Egal, das war alles vorbei. Weiter im Text!
Sie präzisierte die Angaben in Fußnote 231, strich auf der entsprechenden Seite zwei überflüssige „auch“ und schaute aus dem Fenster, soweit die blöden Spitzengardinen es zuließen. Tante Annis Geschmack war doch nicht so ganz ihr eigener, aber da konnte man nichts machen.
Immerhin nett, dass sie ihr diese Wohnung vermacht hatte – warum eigentlich? Sie hatte Tante Anni gar nicht so gut gekannt, sie vielleicht ein, zweimal pro Jahr hier besucht. Keinesfalls hatte sie sich bei ihr eingeschleimt, wie die Nonna es natürlich prompt bei Gericht behauptet hatte. Und Tante Anni hatte vielleicht Mitleid mit dem erst dicken, dann mageren unglücklichen Stiefkind gehabt. Eins wusste Mathilde nämlich auf jeden Fall: Tante Anni hatte die Nonna, ihre eigene Schwester, nicht besonders leiden können. Aber enterben konnte sie sie wohl auch nicht. Vielleicht hatte sie gedacht, ein Verhältnis von eins zu fünf würde die Nonna besänftigen – leider falsch gedacht.
Neun Uhr – ob sie Ulli Petzl schon anrufen konnte? Lieber erst um zehn, immerhin war ja Sonntag.
Prompt klingelte es. Mathilde linste durch den Spion und öffnete dann den beiden Kripobeamten.
Sie steuerten wieder das hässliche Wohnzimmer an, wollten keinen Kaffee, auch kein Wasser, und zogen ihre Notizen aus der Tasche.
„Kommen wir zunächst noch einmal auf die Zeiten zurück“, begann die Malzahn dann. Mathilde sah sie aufmerksam an. „Sie wollen wissen, wo ich zur Tatzeit genau war, oder? Hatten wir das gestern nicht schon geklärt?“
„Nicht genau genug.“
„Ich fürchte, genauer weiß ich es auch nicht mehr. Man schaut ja normalerweise nicht dauernd auf die Uhr. Aus dem Bus gestiegen bin ich um fünf nach zehn, das weiß ich noch genau, weil der Bus natürlich Verspätung hatte und ich noch überlegt habe, ob ich mich aufregen soll.“
„Weiter! Wo sind Sie denn ausgestiegen?“
„Am Fichteplatz.“
Sie griff nach einem Zettel und malte ihnen die Route ihres Spaziergangs auf.
„Ja, und so gegen zwölf war ich wieder weg. Um Viertel nach, glaube ich, war ich im Salads. Hilft Ihnen das weiter?“
„Gesehen hat Sie niemand?“
Mathilde überlegte und schüttelte dann betrübt den Kopf. „Die Tussi in dem roten Kleinwagen bestimmt nicht, die hätte mich fast überfahren, als ich über die Kantstraße wollte. So ein Hühnchen, das sich selbst wohl am meisten erschrocken hat. Ich hab mir noch gedacht, Führerscheinneuling. Aber leider weiß ich weder Kennzeichen noch Autotyp, dazu ist das alles zu schnell gegangen.“
„Und sonst niemand?“
„Nein, nicht dass ich – halt, doch. Ein Mann. Aber das nützt Ihnen doch nichts, ich kannte den nicht. Er ist mir auf der Schellingstraße entgegengekommen. Ungefähr auf der Höhe meiner Großeltern. Und dann hat er gesagt Alte Hexe."
„Meinen Sie, er hat Ihre Großmutter gemeint?“
„Wäre denkbar. Zumindest hat er auf das Haus geschaut, als er das gesagt hat. Und mich kannte er schließlich nicht. Und so alt bin ich wohl auch noch nicht – also glaube ich nicht, dass er mich gemeint hat.“
„Und Sie kannten diesen Mann gar nicht?“
„Nein. Vielleicht ein Nachbar, mit dem die Nonna Krach hatte. Als ich noch da gewohnt habe, hat sie immer höllisch aufgepasst, wer was macht, wer verbotenerweise einen Baum fällt oder seine Kinder im Garten spielen lässt, so dass man Gott behüte vielleicht ein Geräusch hören könnte. Und wenn etwas Neues gebaut werden sollte, hat sie gerne versucht, es zu verhindern.“
„Mit Erfolg?“
„Ach wo. Im Nachhinein betrachtet, hat sie nie was erreicht, die anderen hatten immer das Recht auf ihrer Seite. Aber ich habe sie trotzdem für allmächtig gehalten.“ Mathilde lächelte bei der Erinnerung.
„Und Ihr Großvater?“
„Der hat mehr oder weniger gekuscht. Die Nonna hatte Haare auf den Zähnen. Und sie hatte das Geld.“
„Ach ja? Das hat uns Ihr Großvater nicht erzählt.“
„Kein Wunder. Aber ich glaube, er kann nichts dafür, er belügt sich gewohnheitsmäßig selbst. Soweit ich ihn mit siebzehn durchschauen konnte, heißt das natürlich. Ich habe aber mal einen Streit gehört, kurz bevor ich achtzehn wurde und dort raus konnte, und da hat die Nonna ihm vorgeworfen, dass das Kapital für die Läden von ihr stammte. Die Tante Anni war ja auch ziemlich wohlhabend. Vielleicht hat die Nonna sich damals ein hübsches Bürschlein gekauft… sorry, aber da muss ich jetzt doch direkt grinsen.“
„Nichts ist schöner, als Peinlichkeiten über Leute zu erfahren, die man nicht leiden kann?“, feixte die Malzahn.
„Ganz genau. Mehr weiß ich aber leider auch nicht. So was wie Nonna, erzähl doch mal von früher hat bei ihr absolut nicht geklappt. Dann hieß es nur Was geht dich das an? Manchmal hab ich schon überlegt, ob ich wirklich mit denen verwandt bin, so wie sie sich gehabt haben.“
„Gibt es hier denn keine Fotoalben oder so was?“, fragte Schönberger.
Mathilde sah ihn an wie vom Donner gerührt. „Das wäre ja toll, das könnte uns echt weiter helfen… aber ich weiß das leider gar nicht. Ich habe beim Einzug nur in die Schränke geguckt, um zu schauen, ob irgendwo noch ein Fach frei ist. War aber keins frei. Und ich selber habe leider keins. Wenn ich mal ein bisschen was gespart habe, könnte ich mir eine Kamera – aber das ist jetzt ja auch egal, das meinen Sie ja nicht. Soll ich mal suchen?“
„Das wäre ganz reizend“, stimmte die Malzahn nicht ohne Schärfe in der Stimme zu.
„Ich wollte nachher sowieso meine Anwältin anrufen und fragen, ob mein Großvater wirklich nichts mehr gegen mich unternehmen kann. Danach würde ich mich auch trauen, nach Fotoalben zu suchen.“
„Machen Sie das und rufen Sie uns an, wenn Sie Erfolg hatten. Wir sitzen doch bloß wieder im Präsidium und warten auf Eingebungen. Sie selbst wissen gar nichts?“
„Ich habe eine Geburtsurkunde“, bot Mathilde an.
„Besser als nichts. Wir wissen zwar, wie Ihre Eltern hießen, aber so hätten wir auch die Geburtsdaten. Damit könnten wir Ihre Mutter vielleicht finden.“
„Finden?“, echote Mathilde verblüfft. „Wie – finden? Auf welchem Friedhof, meinen Sie?“
„Warum Friedhof?“
„Na, sie ist doch tot!“
„Wissen Sie das sicher?“
„Ja – also, die Nonna… ach Scheiße, wahrscheinlich weiß ich gar nichts. Diese verdammte alte Hexe!“
„Reiben Sie uns Ihr Mordmotiv nur schön unter die Nase. Und jetzt holen Sie mal ihre Geburtsurkunde!“, wies die Malzahn sie an.
Mathilde schlug den Ordner auf, der neben dem gewaltigen vollgestopften Regal stand, blätterte kurz und reichte den beiden dann die Klarsichthülle mit dem Dokument. Schönberger notierte brummelnd die Daten.
„Ihre Mutter war ja noch das reinste Kind“, kommentierte die Malzahn, die ihm über die Schulter sah. „28. August 1956… die war ja erst einundzwanzig, als Sie geboren wurden.“
„Damals war das wohl eher üblich als heute“, merkte Mathilde zaghaft an. „Ist das irgendwie verdächtig?“
„Nein… aber warum sollte sie tot sein? Mit Anfang fünfzig?“
„Ein Unfall? Oder die Nonna hat sie verschwinden lassen“, vermutete Mathilde und fühlte wieder das leise Grauen, das sie vor ihrer Großmutter immer empfunden hatte.
„Würden Sie ihr das zutrauen?“ Sogar die toughe Malzahn schien baff zu sein.
Mathilde nickte langsam. „Der Nonna hab ich immer alles zugetraut. Die kann – konnte – alles. Und wenn sich ihr jemand widersetzt hat…“ Sie riss sich zusammen. „Unsinn, ich bin doch kein Kind mehr, das sich vor Hexen fürchtet – und in Henting hat sie ja, wie wir jetzt wissen, gar nicht so viel Macht gehabt. Hab ich mir schon bei diesen lustigen bunten Reihenhäusern gedacht. So etwas Schönes, Heiteres hätte sie doch garantiert verhindert, wenn sie gekonnt hätte.“
„Allmählich habe ich das Gefühl, dass der Mörder ein Wohltäter der Menschheit ist“, brummelte Schönberger.
„Joe!“, rügte seine Kollegin, aber sie musste selbst kurz grinsen. Sie klappte ihr Notizbuch zu und erhob sich.
„Wir hätten es mal wieder – und Sie schauen sich nach Fotos und vor allem Alben um, ja? Vielleicht steht etwas Interessantes dabei…“
„Sobald ich mich rechtlich abgesichert habe. Versprochen!“ Mathilde reichte beiden die Hand und sah ihnen nach, wie sie die Wohnung verließen, dann eilte sie ans Telefon. Jetzt war es doch wirklich spät genug!
Ulli Petzl war zu Hause, bestritt höflich, gestört worden zu sein, und hörte sich Mathildes aufgeregten Bericht an.
„Hm“, machte sie dann, „falls du unter Verdacht geraten solltest, müssen wir natürlich etwas unternehmen. Aber ich hatte dir damals nach dem zweiten Prozess doch gesagt, dass deine entsetzliche Großmutter nur einen, im Notfall maximal fünf Monate Zeit hatte, Revision einzulegen?“
„Das habe ich offenbar nicht registriert“, bekannte Mathilde kleinlaut. „Heißt das, die Wohnung gehört endgültig mir? Der Grundbucheintrag ist nicht ungültig? Und der Großvater kann auch nichts machen?“
„Keiner kann mehr etwas machen. Die Wohnung gehört dir. Und das mit dem ungültigen Grundbucheintrag ist ja wohl Quatsch. Mathilde, überlass das Recht den Juristen! Und, stehst du unter Verdacht?“
„Ich weiß nicht so recht. Mein Motiv wäre natürlich ganz klasse, und ein Alibi habe ich auch nicht. Ich bin genau an dem Tag in Henting spazieren gegangen.“
„Warum das denn, um Himmels Willen?“
„Ich hatte plötzlich einen Nostalgieanfall. Nicht nach der Nonna, natürlich, aber ich wollte mal gucken, ob sich in Henting etwas verändert hat. War ganz interessant. Aber natürlich wäre es günstiger, wenn ich nachweislich ganz weit weg gewesen wäre.“
„Kannst du laut sagen. Also, halt mich auf dem Laufenden und mach mit deiner Wohnung, was du willst!“
Mathilde sah sich nachdenklich um. Wo sollte sie denn hier anfangen? Alle Schränke, alle Regale waren voll mit Büchern, Ordnern, Zeitschriften, Broschüren, losen Papieren, alten Telefonbüchern.
Andererseits hatte sie viereinhalb Jahre lang in Tante Annis Kruschst gehaust und es überlebt, dann war das alles jetzt auch nicht so eilig.
Fotos – mehr musste jetzt nicht sein.
Okay, wenn sie dabei etwas ganz Überflüssiges fand… Sie holte fürs Altpapier ihre große Recyclingtasche vom Drogeriemarkt, die mal einen ganzen Euro gekostet hatte, und eine alte Plastiktüte für sonstigen Müll. Damit ließ sie sich im Arbeitszimmer vor dem ersten der sieben Unterschränke nieder und öffnete die dunklen Holztüren nicht ohne Beklemmung.
Hm.
Papier.
Loses Papier, Umschläge, Mappen.
Dazu brauchte sie Musik, sonst würde sie wahnsinnig. Also rappelte sie sich wieder auf und schaltete das Radio ein.
Begleitet von Verkehrsmeldungen, tiefsinnigen Gedanken zum Sonntag und bekannten Popsongs, bei denen man mitpfeifen konnte, räumte sie das Fach aus und sortierte.
Alte Rechnungen auf einen Haufen, Umschläge auf den zweiten, Betriebsanleitungen auf einen dritten. Musste sie das alles aufheben? Vorläufig wohl schon. Sie packte Rechnungen und Anleitungen zurück in den Schrank und öffnete die Umschläge. Weihnachtskarten aus den frühen achtziger Jahren, toll, von unbekannten Leuten, stellenweise ohne Absender und mit unleserlicher Unterschrift. Auf einer Karte, einer besonders öden (Bleistiftskizze einer Kerze ohne weitere Deko), stand nur der Name Maria – in der Schrift der Nonna. Sozusagen: Ich hab keine Lust, aber Weihnachten muss man ja wohl irgendwas an die bucklige Verwandtschaft verschicken. Aber alle Wohnungen erben wollen!
Sie legte diese Karte beiseite, vielleicht konnte die Polizei daraus ja etwas entnehmen; den Rest warf sie in die Altpapiertasche.
Im nächsten Umschlag entdeckte sie tatsächlich einige Fotos – dickliche, mittelalterliche Damen im Dirndl von unscharfer Bergkulisse. In Schwarzweiß. Und keine Daten auf der Rückseite. Viel Spaß für Malzahn und Schönberger.
Als sie sich wieder aufrappelte, weil der Boden ganz schön hart war, hatte sie wenigstens diesen Schrank einmal durchgesehen und einen netten kleinen Stapel völlig aussagefreier alter Fotos gesammelt. Und die Altpapiertasche war schon halb voll.
Den nächsten Schrank sah sie schon etwas flüchtiger durch, weil sie allmählich die Lust verlor; sie fand darin aber einen Umschlag mit einer Menge stark verschossener Fotos, wieder zumeist in Schwarzweiß, aber einige auch schon in Farbe, und im übernächsten Schrank tatsächlich ein uraltes Album - querformatig, schwarze Pappe, weiße Schrift, sepiafarbene Fotos etwa von der vorletzten Jahrhundertwende. Ein richtiger Schatz, sie musste nur noch herausbekommen, wer hier dargestellt war! Sütterlin lesen konnte sie ja, das hatte sie für eine Seminararbeit mal lernen müssen.
Sie sank aufs Sofa und begann die Fotos auf dem Couchtisch zwischen Tante Annis Nippes zu sortieren, die beschrifteten links, die unbeschrifteten rechts.
Die beschrifteten bezogen sich vor allem auf die Familie: Nonna und Anni als junge Mädchen mit ihren Eltern. Hübsch waren die beiden, alle Achtung! Sogar die Nonna, dieser alte Besen. Dunkel, pikant (blödes Wort, so was sagten wohl nur ältere Herren, die hinter Mädels wie der Nonna in den späten Vierzigerjahren her waren). Nachkriegszeit, eindeutig: alte Armeemäntel, Ruinen, exzellent schlanke Figuren…Oh, Nonna heiratet!
Der Großvater sah auch gar nicht übel aus. Fast schon schön - aber etwas ängstlich wirkte er: Hatte er schon vor der Hochzeit gemerkt, dass die Nonna dem Begriff Selbstherrlichkeit eine ganz neue Qualität verlieh? Wenn man das wusste, sah es fast so aus, als schleife sie ihr Opfer zum Altar… und hinten stand das Datum. 18. Mai 1953… Wann war ihr Vater geboren? 14.3. – nein, die Nonna hatte den Großvater nicht auch noch mit einer Schwangerschaft erpresst. Sie hätte ihn garantiert vorher auch nicht rangelassen… Oder war sie die aktive? Wie die Spinnenweibchen?
Die Großeltern bei irgendeinem Frühwirtschaftswunder-Event – ach ja, Elegantes Heim weihte das neue Geschäftshaus in der Altstadt ein. Mathilde musste wieder lachen – das war doch später der große Skandal gewesen? Der Großvater hatte ein stark beschädigtes, aber noch sanierungsfähiges Jugendstilhaus abräumen lassen und auf dem Grund ein völlig gesichtsloses Wiederaufbaudingsda gebaut. Heute, ja heute war sogar das – mit Stelzen, runden Fenstern und einem leichten Schrägdach – selbst ein Architekturmonument, aber in den Siebzigern war der Großvater bei den Denkmalschützern als DER PLATTMACHER verschrien. Und davon hatte sogar Mathilde, der doch niemand irgendwas erzählen wollte, erfahren.
Was war da heute eigentlich drin? Der H&M war im Erdgeschoss, glaubte Mathilde sich zu erinnern.
Süüüß! Die Großeltern mit Baby - Walters Taufe (Mai 1954). Ein ganzer Stapel, mit zerbröselndem Gummiband zusammengehalten. Walter wird mit Breichen gefüttert, Walter zieht sich am Stuhl hoch (mit gefährlich rutschender Windelhose), Walter wagt die ersten Schritte, Walter spielt mit seinen kleinen Freunden, Walter bestaunt seine kleine Schwester – ihr Vater hatte eine Schwester gehabt? Hinten drauf in Tante Annis sorgfältiger Schrift Gesine Anna Luise, geb. 29.07.1957. Noch nicht mal fünfzig. Was aus der wohl geworden war? Und aus ihrer Mutter? Beide tot? Ausgewandert? Weggebissen? Das kam ihr sehr wahrscheinlich vor, wenn sie sich die Nonna so vorstellte.
Gab´s von ihrer Mutter denn gar keine Fotos?
Sie suchte weiter. Stapelweise ältere Damen, zwar sorgfältig beschriftet, aber das sagte ihr auch nichts. Erna von Trottow (konnte jemand einen so bescheuerten Namen haben?), Susanne Millreiter, Karin Kampenhausen, das Kränzchen (Großer Gott, aus welchem Jahrhundert stammten denn diese Fotos?). Alle trugen offensichtlich ihre besseren Kleider aus der Vorkriegszeit auf, und die Kuchen, die auf mehr als einem Foto die Kaffeetafel zierten, sahen aus wie aus Ersatzstoffen gebacken. Waren sie wahrscheinlich auch.
Schön auch: Betti und ihr GI. Gefolgt von kleinen gezackten Schwarzweißfotos Betti und Jack, Betti und Megan, Betti und Priscilla, Betti und Ernest, Betti und Elizabeth, Betti und Gilbert… darauf immer eine sachte alternde Betti, die strahlend einen Säugling hochhielt. Mathilde zählte durch: sechs Kinder! War der GI von einer Sekte gewesen oder streng katholisch oder zu blöd, ein Kondom zu benutzen? Aber in den frühen Fünfzigern tat man so was in einer Ehe wohl auch nicht, da waren Kinder sicher auch in den USA ein Geschenk Gottes. Dort wahrscheinlich noch mehr. Kinder waren ja auch sicher was Nettes – aber gleich sechs Stück? Arme Betti!
Ach nein, doch nicht. Marias achtzehnter Geburtstag, 03.11.1947. Um die runde Tafel saßen eine jugendlich strahlende Nonna, eine noch etwas picklig wirkende Anni, würdevolle Eltern und ein einzelner älterer Herr („Onkel Wilhelm“). Betti servierte gerade in Häubchen und Schürze. Lieber sechs eigene Kinder haben als Dienstbolzen bei den alten Halnweins spielen! Hatte sie sich bestimmt auch gedacht und fleißig nach einem geeigneten GI Ausschau gehalten.
Mathilde legte einen Betti-Stapel an und suchte weiter.
Da, Walter und Anette, 1976. Großer Gott, ihre Mutter war noch ein Baby gewesen! Wie konnte man mit fast zwanzig noch so ein Kindchenschema spazieren tragen? Große dunkle Augen. Ob sie die geerbt hatte? Die Farbe schien zu passen, aber so kulleräugig war sie nicht. Wollte sie auch nicht sein, sie war doch kein Plüschtier! Die dunklen Haare konnte sie auch geerbt haben, allerdings ohne Löckchen – Walters glatte Haare kamen ihr deutlich bekannter vor.
Walter sah nett aus. Kaum vorstellbar, dass er zwei Jahre später schon tot war. Wo saßen die beiden da eigentlich? Im Hintergrund war eine große Pepsi-Werbung, daneben ein Lego-Zeichen: klar, der Spielwarenladen in der Katharinenstraße, dann saßen sie im Außenbereich der Uni-Cafeteria neben dem Hinterausgang. Also hatte ihre Mutter auch etwas studiert? Oder stand sie kurz vor dem Abitur, war stolz darauf, schon einen Studenten zum Freund zu haben, und hatte ihn von der Uni abgeholt? Nein, mit fast zwanzig konnte sie eigentlich schon Abitur haben und sich für sich selbst an der Uni umschauen.
Mit einem Seufzer sortierte Mathilde die einzelnen Stapel in provisorische Umschläge aus Druckerpapier und beschriftete sie für die Polizei.
Dann nahm sie sich das Album vor.
Impressionen aus der Kindheit von Maria und Anna, die typischen Frisuren aus den frühen Dreißigern, Sommerfrische, erste Schultage, Geburtstagsparties. Die Nonna und Tante Anni hatten Schulfreundinnen zum Geburtstag einladen dürfen – und Mathilde? Hatte gar nichts gedurft. Was zum Henker hatte die Nonna denn bloß gegen sie gehabt?
Sie sah die übrigen Schränke noch flüchtig durch – Mengen von Geschirr und anderem Porzellannippes, lose Blätter, alte Zeitschriften, Strickmagazine und Regenbogenpresse, mehrere angefangene Strickzeuge, Stoffreste, Broschüren… da hatte sie noch ordentlich zu tun. Aber nachdem sie viereinhalb Jahre sozusagen in Schockstarre verharrt hatte, musste sie sich jetzt auch nicht unnötig beeilen: immer mit der Ruhe!
Aber vielleicht konnte sie doch wenigstens ein paar ganz besonders schlechte Bücher aussortieren und sie am Montag in den Wertstoffhof bringen? Sie holte sich einige Plastiktüten aus der Küche und strich dann langsam am Wohnzimmerregal entlang: zwei mal acht Meter Schwachsinn – jedenfalls meistens.
Aber zuerst wollte sie noch ein bisschen spazieren gehen. Sie fühlte sich so befreit, weil die Nonna tot war und die Wohnung nun endgültig ihr gehörte – da würde sie es richtig genießen, ein paar Mal um den Block zu laufen. Also schlüpfte sie in ihre Schuhe, steckte Schlüssel und Geld ein und sprang die Treppen hinunter. Trübes Frühlingswetter, und an der Uni war natürlich alles zu – sonntägliche Friedhofsruhe, aber das machte gar nichts: Bevor sie etwas kaufen konnte, musste sie erst einmal kräftig Platz schaffen!
In der Graf-Tassilo-Straße inspizierte Mathilde zum ersten Mal die Lesefabrik, von der sie bisher nur gehört hatte: Da konnte man ja alte Bücher loswerden – viel einfacher als bei eBay, und zur Post schleppen musste man auch nichts! Und man bekam dem Aushang zufolge sogar noch ein bisschen Geld dafür. Mathilde studierte die Auslagen und rechnete dann im Weitergehen im Kopf herum – tausend miese Bücher, jeweils 50 Cent – immerhin doch fünfhundert Euro, das war fast ein halbes Monatsgehalt bei Lingua. Und ein paar leere Regalfächer. Ob die wohl auch Heftchenromane (zumeist lila verschnörkelt und mit Kronen verziert – Fürstenschicksal, Drama hinter Schlossmauern, Liebe unter Kronen, Blaues Blut) nahmen?
Die Lady-Diana-Sammlung konnte sie wohl ins Altpapier werfen, und die Stapel von Strickheften aus den Achtzigern ganz genauso. Für die Massen von Geschirr und Schnickschnack musste sie sich in den nächsten Wochen noch etwas einfallen lassen.
Aber in ein paar Monaten konnte die Wohnung eigentlich richtig schön sein, überlegte sie sich und schritt gleich noch etwas befreiter aus. Und dazu noch Vollzeit bei Lingua… es wurde doch noch alles gut.
War es pietätlos, so entspannt – so glücklich - zu sein, wenn einem gerade die Großmutter ermordet worden war? Nein, beschloss Mathilde streng, nicht, wenn es die Nonna war. Wenn die Nonna gewollt hätte, dass man um sie trauerte, hätte sie sich eben verdammt noch mal anders benehmen sollen.
Lächelnd schlenderte sie weiter, schaute ab und an in ein Schaufenster, sah aber glücklicherweise nichts Unverzichtbares, wofür sie im Moment ohnehin keinen Platz hatte, und machte ein paar Schritte im Prinzenpark.
Jetzt durch die Emilienstraße zurück, beschloss sie, und studierte das Schaufenster vom Uni-Lädle. Schöne Zeitplaner hatten die…
„Kennen wir uns nicht?“
Sie drehte sich um.
Junger Mann, etwas größer als sie, braune Haare, graue Augen, Schulbubenblick, hoffnungsvolles Grinsen. Sie zog die Augenbrauen hoch: „Nicht dass ich wüsste.“
„Aber bestimmt doch! Ich bin Markus!“
„Ich kenne niemanden, der Markus heißt. Sie müssen sich irren. Und wenn Sie mich jetzt bitte vorbei lassen würden…“
Dieser Markus trat ihr doch glatt in den Weg!
„Würden Sie bitte aufhören, mich zu belästigen!“
„Komm, jetzt zier dich doch nicht so, wir haben uns doch auf der Party bei Max gesehen, schon vergessen?“
„Himmelherrgott, ich kenne auch keinen Max und ich gehe nicht auf Partys. Muss ich jetzt die Polizei rufen oder hören Sie freiwillig auf, mir auf die Nerven zu gehen?“
„Blöde Schnepfe“, murmelte dieser Markus, aber immerhin trat er ein paar Schritte zur Seite. Mathilde rauschte davon. Was war das denn für ein Idiot gewesen? Sie wusste ganz genau, dass sie den noch nie gesehen hatte. Und was hatte er sich davon versprochen, sie so blöd anzuquatschen? Soo schön war sie nun wirklich nicht, und ihr Desinteresse hatte sie ja wohl auch zur Genüge deutlich gemacht.
In der Sophienstraße gab es einige Antiquitätengeschäfte, und Mathilde spähte eifrig durch die eher düsteren Schaufenster. Ob man hier Tante Annis Kram ankaufen würde? Man müsste sich wohl erkundigen… jedenfalls stand in keinem Fenster solches Zeug wie das, von dem Tante Annis Schränke schier überquollen.
Eigentlich waren das jetzt ihre Schränke, musste sie sich wieder ins Gedächtnis rufen. Und sie würde diese Schränke auch energisch auf Vordermann bringen. Natürlich würden die Polizisten, wenn sie beim nächsten Mal kamen, es bestimmt verdächtig finden, wenn die Wohnung sich jetzt, wo die Nonna tot war, rapide verschönerte, aber im Lauf der nächsten Woche würde sie bestimmt eine oder zwei Umzugskisten aufarbeiten können.
Morgen würde sie auf jeden Fall vormittags in der Lesefabrik vorbeischauen. Mit etwa vierzig Büchern. Wenn sie dafür einen Zwanziger bekam, könnte sie wieder zwei Tage davon leben. Und nachmittags dann zu Lingua. Und abends an der Dissertation weiter basteln. Dazwischen kamen sicher die beiden von der Kripo wieder vorbei.
Sie kehrte nach Hause zurück, rieb sich die klammen Hände – ganz schön kühl draußen, für Ende April – und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Viele Fehler fand sie nicht mehr, aber die eine oder andere Unklarheit gab es doch noch. Manches konnte man einfach umformulieren, manches musste man besser belegen – also war morgen oder übermorgen ein kurzer Besuch in der Bibliothek angesagt.