Читать книгу Alte Hexe - Elisa Scheer - Страница 5

4 FR 20.04.

Оглавление

Bis Freitag hatte sie ihre Arbeit zum gefühlt zwanzigsten Mal durchgesehen und einige ertragreiche Stunden in der Unibibliothek und der Bibliothek des Romanistischen Instituts zugebracht und war jetzt davon überzeugt, dass sie alles, was es über einige weniger bekannte deutsche Autoren und ihre Flucht über die Pyrenäen nach Spanien zu wissen gab, herausgefunden und griffig und perfekt belegt dargestellt hatte. Bis zum Herbst würde sie allerdings die Arbeit noch einige Male durchfieseln müssen, das war ihr auch klar.

Im Verlag war sie gut zurechtgekommen und Wintersteiner hatte ihr neben der Arbeit an diesem Schulbuch und dem dazu passenden Übungsheft auch noch die Übersetzung eines spanischen Kriminalromans angeboten.

Das erste Kapitel hatte sie schon fertig, also konnte sie eigentlich recht zufrieden mit sich sein.

Nun sah sie sich etwas unschlüssig in der Wohnung um: Gab es nicht doch eine Möglichkeit, sie etwas bewohnbarer zu machen – ohne sich an Dingen zu vergreifen, für die die Nonna dann womöglich einen astronomischen Schadenersatz verlangen würde?

Im Schlafzimmer fiel ihr nichts ein – es sei denn, sie kaufte haufenweise Umzugskisten, um Tante Annis Garderobe darin zu verstauen – aber dann standen überall die Kisten herum, und das nur, um ihre wenigen eigenen Klamotten zu verstauen? Das eine Schrankabteil reichte doch wirklich aus! Der Kram in den beiden Nachtkästchen gehörte auch Tante Anni, aber obendrauf lag ihr Handy und manchmal noch ein Buch (aus Tante Annis Regalen). Auch das reichte ihr.

Am ehesten nutzte sie noch das Arbeitszimmer. Sie hatte sich erlaubt, Tante Annis Schreibtischgarnitur sorgfältig zu verpacken und in einen Schrank zu stopfen, so dass nun ihr etwas ältlicher Laptop auf der Platte Platz fand. Und auf einer vollgepackten Kiste neben dem Schreibtisch hatte sie ihre eigenen paar Bücher untergebracht; das große dicionario hatte einen Ehrenplatz auf dem Schreibtisch erhalten.

Die übervollen Regale entlockten ihr einen leisen Seufzer – was Tante Anni hier alles gesammelt hatte! Wenn es nach ihr ginge, würde das zu fünfundneunzig Prozent im Altpapiercontainer landen. Na gut, oder im Wertstoffhof. Oder in der Lesefabrik in der Graf-Tassilo-Straße – aber die würden diesen Kram wohl auch nicht mehr haben wollen.

Eher noch den Edelkitsch, der die Regale im Wohnzimmer verstopfte. Oben Regale, darunter Schränke voller Porzellan, Silber und allerlei Schnickschnack.

Weiteres Porzellan füllte die Oberschränke in der Küche; sie selbst besaß gerade einen Satz schwarze Teller, Besteck für sechs und zwei Kaffeebecher. Und das wohnte alles auf dem Trockengestell. Ach ja, und sechs Saftgläser gab es auch noch.

Diese Askese wurde nur dadurch gestört, dass sie im Zweifelsfall Tante Annis Brotmesser und Tante Annis Gurkenhobel zu verwenden pflegte; immerhin spülte sie sie hinterher aber auf das Gründlichste ab.

Frustriert wandte sie sich den Kisten in der Abstellkammer zu und zerrte sie in den Flur: Vielleicht konnte man tatsächlich etwas daraus loswerden? Vielleicht sogar aus drei Kisten zwei machen?

In der ersten Kiste fand sie ihre Winterjacke, die sie eindeutig noch brauchte, ihre Winterstiefel, ordentlich geputzt und in einen halben Meter Küchenkrepp eingeschlagen, Schal und Handschuhe aus dunkelgrauem Fleece und zwei recht ordentliche Halstücher. Sie entfaltete sie: gar nicht so schlecht! Das eine hatte sie schon fast zehn Jahre, sie hatte es auf einem Jahrmarkt gewonnen. Baumwolle, dunkelrot mit weißen Pünktchen und Streifen. Das konnte vielleicht ganz gut zu ihren grauen Sachen passen…

Das andere sah recht edel aus, bedruckt mit Pferdeköpfen und Hufeisen – aber es war aus 100 % Polyester. Nein, das kam weg. Auf dem Grund der Kiste entdeckte sie noch einen Umschlag mit einigen Fotos, zwei Bücher aus ihrer Teeniezeit und ein krumm und schief besticktes Leinendeckchen. Sie nahm die letzten Fundstücke heraus und packte ihre Winterausrüstung wieder zurück in die Kiste, dann setzte sie sich mit ihrer Ausbeute wieder an den Schreibtisch.

Das Deckchen hatte sie mal im Handarbeitsunterricht verbrochen – mit etwa zehn Jahren - und voller Optimismus der Nonna zu Weihnachten geschenkt. Der Versuch, den Drachen milde zu stimmen, war aber gescheitert, die Nonna fand das Deckchen hässlich und schlecht gestickt und verweigerte die Annahme.

Deprimierend… aber wenn sie sich heute so ihr Meisterwerk ansah: So ganz unrecht hatte die Nonna nicht gehabt, wenn sie auch ruhig ein Minimum an Takt hätte zeigen können. Nein, das Deckchen kam weg, was sollte sie noch mit Erinnerungen an die Herzlosigkeit der Nonna? Die konnte sie sich auch so gut genug merken.

Die Bücher aus der Teeniezeit würde sie ebenfalls entsorgen – da hegte sie auch keine besonders nostalgischen Gefühle.

Oder doch? Sie ließ die zerlesenen Bücher (treues Pony, erste Liebe…) sinken und horchte in sich hinein. In Henting war sie lange nicht mehr gewesen… wie wäre es, morgen dort spazieren zu gehen und das Gefühl zu genießen, an der Horrorvilla einfach vorbeizugehen? Es auszukosten, dass sie hinterher ganz lässig in den Bus steigen und nach Hause fahren konnte?

Gute Idee.

Sie gähnte und öffnete den Umschlag mit den Fotos.

Ach ja, Klassenfotos!

Da, die achte Klasse. Sie selbst war total dick und hatte sich halb hinter Sandra versteckt, die vergnügt in die Kamera grinste. Eigentlich strahlten alle (war das nicht ganz kurz vor den Sommerferien gewesen? Kein Wunder!), nur Mathilde nicht, die schaute ernst und gefasst in die Kamera: Das Leben ist hart und grausam…

Und die fünfte Klasse: Sie war der Moppel in der ersten Reihe. Gut, dass sie auf dem Boden saß, so fiel die Fülle nicht gar so sehr auf. Wie ein kleiner Kartoffelsack. Aber es gab damals noch einige andere Babyspeckträger in der Klasse.

Bei den anderen hatte sich das in der Mittelstufe verwachsen, bei ihr erst kurz vor dem Abitur.

Wo war hier denn Sandra? Ach ja, dahinten, neben dem süßen Leon, der in der Mittelstufe so schwere Akne bekommen hatte. In Leon hatten sich in der fünften Klasse alle Mädchen verliebt – er aber spielte immer noch mit Matchboxautos, Dragon Cards und seinem vorsintflutlichen Computer.

Mathilde ließ die Fotos auf die Tischplatte sinken. Henting in den mittleren Achtzigern… da gab es ja noch Telefonzellen! Und Briefkästen! Allein deshalb sollte sie morgen in der alten Heimat vorbei schauen, vielleicht hatte die Neuzeit auch dort endlich Einzug gehalten?

Nicht, solange die Nonna noch etwas zu sagen hatte, vermutete sie, steckte die Fotos zurück in den Umschlag und legte den Umschlag quer auf ihre eigenen Bücher. Dann ging sie ins Bett.

Wenn sie ihre Lieber-nichts-anfassen-Haltung richtig durchziehen würde, müsste sie auf dem Sofa im Arbeitszimmer nächtigen, überlegte sie beim Einschlafen, aber dazu war ihr ihr Rücken dann doch zu schade. Immerhin benutzte sie ihr eigenes altes Bettzeug aus Selling und hatte Tante Annis Luxus-Ausstattung nach einer gründlichen Reinigung im Schrank verstaut.

Alte Hexe

Подняться наверх