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Kapitel 5
ОглавлениеNachdem ich mich von meinem unangebrachten, wenn auch irgendwie verständlichen hysterischen Lachanfall beruhigt hatte – Dr. Kringer war diese Schockreaktion eindeutig lieber gewesen als die Variante mit enttäuschter Heulerei und rasender Wut –, hatte ich mich wie benebelt von dem netten Dorfarzt verabschiedet und war ohne weiter auf Daron zu warten aus der Praxis hinaus auf den recht belebten Marktplatz geflohen. Es war ein ungewöhnlich milder Februartag, und die Sonne bemühte sich, den letzten Rest Schneematsch vom Kopfsteinpflaster zu tilgen, während ich wie ein kopfloses Huhn unkoordiniert durch die Gegend stolperte. Tief sog ich mehrmals die kalte Luft ein und füllte meine Lungen mit so viel Sauerstoff, wie meine Alveolen zu fassen vermochten. Das konnte alles doch nur ein furchtbarer Albtraum sein ...
„Kleines, warte, deine Jacke!“
Abrupt blieb ich stehen und drehte mich zu Daron um, der mit wehendem Mantel und meiner Winterjacke in der Hand aus der Praxis gestürzt kam. Verdutzt blickte ich an mir herunter. Tatsächlich, ich hatte sie an der Garderobe hängen lassen. Schon fuhr mir ein erster kalter Windstoß unter meinen dünnen Pullover und fegte die wenigen, wärmenden Sonnenstrahlen von meiner Haut. Sekunden später stand Daron vor mir und hielt mir die Jacke auf, damit ich hineinschlüpfen konnte. Doch ich war zu betäubt, als dass ich mich hätte rühren können. Mein geliebter Riese verstand, legte mir die Jacke wie einem kleinen Kind behutsam um die Schultern und zog mich dabei an seine warme Brust. Mit seinen starken Armen drückte er mich so fest an sich, als befürchtete er, ich würde sonst sofort weiterlaufen. Damit hatte er gar nicht mal so unrecht. Wenn das Gehirn nicht mehr Eins und Eins zusammenzählen konnte, war die beste Methode, um es wieder in Gang zu bringen, sich zu bewegen. Allerdings war ein öffentlicher Platz mit Publikum und Cafés dafür weniger geeignet als beispielsweise ein Laufband im Keller. Ich löste mein Gesicht von Darons weichem Mantel und schaute ihn an. Besorgnis spiegelte sich in seinen sonst so beruhigend wirkenden Augen wider, während sich einzelne, schwarze Strähnen aus seinem Zopf gelöst hatten und unsere Gesichter im Wind umspielten wie ein zerschlissener Vorhang nach einer tragischen Premiere.
„Du kannst doch nicht einfach ohne Jacke rausrennen“, sagte Daron und streichelte mir sanft über meine Wange. „Du holst dir doch sonst ...“
„... den Tod?“, ergänzte ich seinen Satz.
Ich hatte es mir wirklich verkneifen wollen, aber kam nicht gegen die plötzliche Leere in meinem Herzen und die allmählich aufkochende Verzweiflung an. „Wenn eins sicher ist, Daron, dann das – den Tod habe ich mir schon vor vielen Wochen geholt, und das mehr als nur einmal.“ Das klang bitterer, als es eigentlich beabsichtigt war, aber meine persönlichen Schutzschilde waren komplett außer Gefecht gesetzt worden und die stufenweise Regulierung der Emotionen lief nur noch per Notstromaggregat.
„Eigentlich hatte ich Schnupfen sagen wollen.“ Anstatt aufwallendem Ärger über meinen bissigen Kommentar las ich in Darons Gesicht nur Liebe, während er mich weiterhin fest an sich drückte. Doch ich wollte nicht gedrückt werden. Ich wollte wütend sein und wusste dabei nicht einmal auf wen oder vielleicht auch was.
„Was ist das alles, ein grausamer Scherz?“, fragte ich fassungslos und versuchte, meiner Empörung Ausdruck zu verleihen, indem ich mich bemühte, Darons Arme von mir abzuschütteln. Vergeblich.
Je mehr ich drohte, außer Kontrolle zu geraten, desto enger zog mich mein Ewiger an sich und schenkte mir einen Blick voller Mitgefühl und Verständnis. Ich wusste, dass ich ihm später dankbar dafür sein würde, aber im Moment war ich eine tickende Gefühlsbombe, die jederzeit hochzugehen drohte. Daron wusste das. Und genau deshalb ließ er mich nicht los.
„Es tut mir so leid“, flüsterte er und drückte mir einen dicken Kuss auf meine Stirn. Diese liebevolle Geste voller Empathie schaffte es, das Brodeln in meinem Bauch vorerst ein wenig zu besänftigen.
„Mir auch“, antwortete ich und versuchte halbherzig, ein wenig die Spannung aus meinem Körper zu vertreiben.
„Ich fühle mich auf einmal so ... leer. Nutzlos. Wie eine Hülle, der man das Innenleben gestohlen hat ... Wie kann das sein? Ich ... ich habe sie doch gesehen?“
„Wen hast du gesehen?“ Fragend zog Daron eine Augenbraue hoch.
Verdammt.
Jetzt hatte ich mich doch noch verplappert.
„Die ... Zukunft“, improvisierte ich blitzschnell, „in einem Traum, im Urlaub. Du, ich und das Baby, es war nur ein kurzer Augenblick, aber es schien so real ...“
Mann, das ging mir eigentlich gegen den Strich. Daron konnte man zwar anlasten, dass er mir manche Dinge nicht erzählte, doch richtig angelogen hatte er mich niemals. Ich allerdings flunkerte ihn gerade bewusst nach allen Regeln der Kunst an. Das war in meinen Augen ziemlich unfair. Aber lieber jubelte ich ihm dieses Mal eine kleine, unbedeutende Notlüge unter, als dass er mehr über Phelans Traumkontakt auf der Klippe über dem tosenden Meer erfuhr.
In diesem Moment durchfuhr mich eine Erkenntnis wie ein Blitz und schlug in meiner Mitte ein wie in einen morschen Baum. Hätte Daron mich nicht so fest in seinen Armen gehalten, es hätte mich richtiggehend umgehauen.
„Phelan!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich weiterhin auf die hochgezogene Braue meines Gegenübers und war unfähig, auch nur ein weiteres Wort zu sagen. Gedanken stürmten zuhauf wie berittene Krieger vor meinem geistigen Auge an mir vorbei und prasselten zeitgleich wie Granateinschläge von oben auf das weiche Gewebe meines Gehirns ein.
„Was meinst du?“, fragte Daron irritiert und verstärkte seinen Griff vorsichtshalber ein wenig. Er kannte mich einfach schon viel zu gut und wusste, dass ich entweder ausrasten oder zusammensacken würde. Dieses Mal war eher Letzteres der Fall.
„Es ist nicht nur mein Kind. Es ist auch seins.“
Grenzenlose Panik durchflutete jede einzelne meiner Zellen und brachte sie alle innerhalb kürzester Zeit zur Implosion.
„Er ist ... er war der Vater. Und jetzt ist es weg. Verstehst du, Daron? Das Kind ist weg! Was bleibt denn jetzt noch von ihm auf dieser Welt?“
Erneut spürte ich Einschläge auf der Innenseite meines Kopfes. Ich sah im Rückwärtslauf den Abschiedsbrief, den der Wolfsäugige mir in meinen Koffer geschmuggelt hatte ... die liebevollen Zeilen, in denen er schrieb, dass er von seinem bevorstehenden Schicksal wusste... dass er hoffte, ich würde unserer Tochter einmal seinen geheimen Lieblingsplatz zeigen, ein bezauberndes kleines Cottage auf der Klippe an der irischen See ... und dass er schrieb, wie stolz er auf uns war.
Ein weiterer Einschlag schickte mich ohne Pause zurück in die Höhle, in der Gefion seit Urzeiten gefangen den perfiden Plan ihrer Wiederauferstehung perfektionierte und ihrer neuen Hülle entgegenfieberte, welche sich gemäß ihrer List in meinem Körper zu formen begonnen hatte. Ich sah Phelan, zu meinem Schutz an meine Seite geeilt, deformiert durch die erzwungene Transformation mittels Bylurs Seelensplitters, sah erneut, wie ich ihm das Messer in die Brust stieß und umdrehte, um seine Blutsverbindung zu Gefion zu kappen und sie dadurch für immer aus dieser Welt zu verbannen ... und ich sah die beiden funkelnden Kristalle, die sich aus Phelans und meinem Körper lösten, um zusammen mit Gefion durch den Zugang für immer in eine andere Dimension zu entschwinden. Wieder fügte sich eins zum anderen, und ich wurde dessen gewahr, was ich vor Wochen in der Höhle noch nicht hatte erkennen geschweige denn wissen können. Ich war mir zwar klar darüber gewesen, dass Phelan auch Merkmale von Gefion in sich trug, welche er mir durch unser Zusammensein vermachte hatte, und dass Gefion deshalb ihre Wiedergeburt in einem neuen, frischen Körper erreichen konnte. Doch nun war ich auf dem abgewetzten Untersuchungsstuhl einer piefigen Dorfpraxis eines Besseren belehrt worden. Es war nicht nur Gefions Seelenteil gewesen, der durch ihr und Phelans Ableben aus meinem Körper und somit von dieser Welt getilgt worden war. Nein, es war die ganze Seele eines ungeborenen Kindes, welche die beiden zusammen mit sich in die Anderswelt genommen hatten.
Ich schmeckte plötzlich Salz auf meinen Lippen und merkte, dass ich über all diesen Gedanken angefangen hatte zu weinen. Ich hätte es mir denken können, schimpfte ich verzweifelt mit mir selbst. Schon länger hatten sich meine von Phelan erhaltenen, verschärften Sinne nicht mehr gezeigt. Sinne, die mit der Transformation des Fötus einhergegangen waren,. Aber ich war mit meiner Trauer zu beschäftigt gewesen, um dem angemessen Beachtung zu schenken.
„Die Kristalle ...“, schluchzte ich und zog dabei zweimal kräftig meine Nase hoch, „als Phelan starb und er und Gefion durch den Zugang gezogen wurden ... Die Kristalle, die sich aus Phelans Hand und meinem Bauch gelöst haben ... Daron, das war nicht nur Gefions Anteil an dem Kind, den sie mit sich genommen hat. Es war das Kind selbst.“
Nun war es an Daron, die Augen weit aufzureißen und einen unbeholfenen Schritt nach hinten zu machen.
„Du meinst ...“ Mein Gefährte versuchte zu schlucken, doch versagte jetzt auch ihm sein Körper den erwünschten Dienst.
„Ja, genau das. Phelan dachte bis zuletzt, er rettet mit seinem Tod zumindest sein Kind und hinterlässt damit etwas, was uns für immer mit ihm verbindet. Er wusste genauso wenig wie wir, dass Gefions Verbannung aus dieser Welt auch das Ende des Babys bedeuten würde.“
Ich schaffte es, Darons Umarmung zu lockern und mir mit beiden Händen Tränen und Rotz aus dem Gesicht zu wischen.
„Daron“, quietschte ich jetzt voller Entsetzen und griff meinerseits nach seinem Mantel. „Er wusste nicht, dass das Kind nicht überleben würde. Hätte er das, hätte er vielleicht nach einem anderen Weg gesucht, Gefions Plan zu durchkreuzen, als sich freiwillig zu opfern ...“
„Leiser, Aline, solche Sätze sollte man gerade in so kleinen Orten wie hier lieber nicht laut aussprechen“, mahnte Daron eindringlich und scannte in Blitzgeschwindigkeit den Markplatz danach, ob uns möglicherweise jemand gehört hatte. So sehr ich seine Sorge auch verstand, ich war aktuell im totalen Verzweiflungsmodus und nicht mehr in der Lage, rational zu reagieren. Der Schalter für den Normalzustand war gerade abgebrochen.
„Daron!“, wiederholte ich den Namen meines Gefährten, und bettelte wie ein kleines Kind um seine volle Aufmerksamkeit, welche er mir nach dem kurzen Umgebungscheck wieder zuteil werden ließ. Sein Gesicht war blasser als sonst.
„Was, Kleines?“, flüsterte er und legte seine Hände auf die meinen.
Ein dicker Kloß steckte plötzlich in meinem Hals und machte es mir fast unmöglich, den folgenden Gedanken auszusprechen.
„Was ist, wenn ich Phelan umsonst getötet habe?“