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Kapitel 4
ОглавлениеEine gefühlte Ewigkeit saß ich nun schon auf dem Untersuchungsstuhl, Beine weit nach oben gereckt, während Dr. Kringer schweigend mit Spekulum und sonstigem Gerät in mir herumfuhrwerkte. Anfangs war er noch relativ behutsam mit mir umgegangen, doch ein minimales Innehalten und ein undefinierbares „Hm“ später hatte ich das Gefühl, er musste vielleicht auf Öl oder etwas anderes Interessantes gestoßen sein, so tief bohrte er den Chirurgenstahl in meinen Unterleib. Hoffentlich bedeutete interessant in diesem Fall nicht, dass der Fötus ein dichtes Fellkleid aufwies oder Hörner und Hufe entwickelte. Auch wenn wir inzwischen wussten, dass Phelans Dämon ein abgetrennter Splitter aus Bylurs Seele war, der gemäß Gefions Berichten ein eher genügsamer und gutmütiger Ewiger gewesen war, so hatte sich Bylurs verlorenes Bruchstück auf seinem Weg ‚nach Hause’ vorübergehend in einem Wolf einquartieren müssen, um in dieser Welt Halt zu finden. Wie das eben so war mit dem ganzen metaphysischen Kram, nichts gehorchte irgendwelchen Regeln und meist trat das ein, was nicht auf der Karte stand. Somit war zusammen mit Bylurs Seelenstück ein Teil des Wolfes auf Phelan übergegangen, der mir vor wenigen Wochen mittels dämonischen Beischlafs die eine Genetik des Grauens aus dem Leib getrieben und im Anschluss durch eine andere ersetzt hatte. Unwillkürlich musste ich mich schütteln, als ich an das Geschehene zurückdachte, und schob die Bilderflut schnell wieder zur Seite. Just in diesem Moment nahm Dr. Kringer den Ultraschallstab zu Hilfe und drehte das Ding so intensiv in mir um, dass ich dachte, er wolle sich in mir einen Wodka Martini rühren.
Bitte nicht schütteln.
James Bond hätte an diesem Getränk ganz sicher keine Freude gefunden.
Ein weiterer unangenehmer Dreh nach rechts, ein etwas zu angestrengter Blick des Frauenarztes auf seinen Monitor und ich wusste, hier stimmte definitiv was nicht. Für mich war das, was Dr. Kringer dort sah, sowieso nur eine undefinierbare, graue Masse.
„Wann sagten Sie, hat die Übelkeit zum ersten Mal eingesetzt?“
Jetzt war ich dran, mir den Kopf zu kratzen. Diese Frage hatte der Arzt bisher gar nicht gestellt.
„Keine Ahnung“, antwortete ich und überschlug in Windeseile die letzten Wochen, “das muss so Mitte Dezember herum gewesen sein, also irgendwo zwischen der vierten und sechsten Woche, genau weiß ich das nicht mehr. Wieso?“
Dr. Kringer hatte mich inzwischen entkorkt wie einen reifen Wein und war dabei, sich seine Untersuchungshandschuhe abzustreifen. Dabei warf er mir einen merkwürdigen Blick zu, den ich nicht verstand, der mir aber auch nicht gefiel.
„Sie können sich wieder anziehen, aber ich brauche noch einige Proben von ihnen.“ Flugs drückte er ein Knöpfchen auf einer Art Gegensprechanlage. „Karin, kommen Sie bitte kurz für Blut und Urin, ich muss mir hier noch einige andere Werte genauer anschauen.“
Nicht Karin!, schoss es mir durch den Kopf. So freundlich, wie die war, rammte sie mir die Nadel sicher mit ganz besonderem Fingerspitzengefühl unter die Haut. Ich wollte schon protestieren, doch nur wenige Sekunden später trat die Sprechstundenhilfe bereits ein und ehe ich mich versah, war ich um mehrere Ampullen Blut ärmer. Zwar hatte ich mich getäuscht und Karin weniger schmerzhaft zugestochen als befürchtet, doch ließ ich in der ganzen Zeit nicht den Blick von Dr. Kringer, der im Gegensatz zu unserem Kennenlernen nun merklich nervös zwischen seinen Akten und dem Ultraschallausdruck hin- und hersah.
„Fertig“, sagte Karin.
„Urin noch“, entgegnete der Arzt, ohne auch nur einmal aufzusehen.
Also ließ ich mir noch einen Pappbecher in die Hand drücken, den ich auf dem kleinen WC mit den dunkelgrünen Siebzigerjahrefliesen artig füllte und in die vorgesehene Durchreiche stellte. Der Begriff ‚Pipibox’ aus meiner Schulzeit erlebte in dieser Praxis geradezu ein Revival. Mir kam die Situation allmählich sowieso Spanisch vor. Waren diese Dinge denn alle notwendig? Zwei Sachen musste ich nach unserer Rückkehr sofort erledigen: Franzi aushorchen, wie solche Untersuchungen generell abliefen, und mir möglicherweise so ein Ratgeberbuch für werdende Mütter im Internet bestellen. Auch wenn es keiner außer mir sah, so lief ich beim Blick in den Spiegel vor Scham ein klein wenig rot an. Bisher hatte ich mich tatsächlich sehr nachlässig verhalten, was die ersten Vorbereitungen für die kommenden Monate bedeutete. Ein kleiner Teil in mir hatte wohl immer noch nicht ganz kapiert, was da im Anmarsch war. Ermahnend hob ich den Zeigefinger gegen mein Spiegelbild.
„Du musst jetzt wirklich mal anfangen, dich zu kümmern.“
Ganz leise vernahm ich ein ‚Ja, ja’ in meinem Hinterkopf.
Nicht mal mein Unterbewusstsein nahm mich ernst.
Das konnte noch richtig heiter werden.
„Sie können dann gleich zurück ins Sprechzimmer“, wies mich Karin auf dem Flur an, während sie in einem Laborzimmer gegenüber der Toilette bereits mit meiner gelben Flüssigkeit hantierte.
Also wieder zurück ins Büro, dachte ich, klopfte pro forma erneut an und trat in den Besprechungsraum.
Sowohl Dr. Kringer als auch Daron warfen mir einen derart düsteren Blick zu, der mir die Haare zu Berge stehen ließ.
„Was ist los?“
„Kommen Sie bitte rein und machen Sie die Tür hinter sich zu.“
Mit bebendem Herzen gehorchte ich den Anweisungen des Arztes und ließ mich vorsichtig, so als würde ich mich auf einen Stuhl aus rohen Eiern setzen, neben Daron nieder. Sofort nahm dieser abermals meine Hand und dieses Mal wusste ich, dass etwas mehr als nur einfach nicht in Ordnung war. Darons sonst so angenehm warme Finger pressten sich eiskalt an die meinen und schienen deren Temperatur förmlich in sich aufzusaugen. Ein Schauer durchlief mich von Kopf bis Fuß.
„Daron, was geht hier vor?“ fragte ich verunsichert und erschrak ob der bekümmerten Miene meines geliebten Riesen. Selten hatte ich so dunkle Schatten auf dem wunderbaren Grün von Darons Augen liegen gesehen.
„Aline ... es ... tut mir leid, aber ... das Baby...“
Mein Herz setzte gefühlt fünf Schläge aus und Angst wallte in mir auf.
Was geschah hier gerade?
Was war mit meinem Kind?
Die Kälte aus Darons Hand schien wie Blitzeis auf mich überzugreifen und machte es mir unmöglich, auch nur zu blinzeln. Mein Kind, was stimmt nicht mit ihm?, wollte ich ausrufen, doch fühlten sich meine Stimmbänder plötzlich wie gelähmt an, während der Rest von mir wie an den Stuhl fest gefroren verharrte.
Was war mit meinem kleinen Mädchen?
War es krank?
Missgebildet?
Phelan hatte mir doch gezeigt, wie wunderschön und gesund es einst sein würde ... Hatte der genetische Austausch im Nachhinein etwa doch mehr Schaden angerichtet als Gutes bewirkt?
Wie durch einen Nebel hörte ich etwas klingeln, eine Stimme ein paar unverständliche Worte nuscheln und dann, wie Dr. Kringer sich räusperte und meinen Namen nannte.
Er musste ihn zweimal wiederholen, zu betäubt war ich auf einmal aus Angst vor dem, was man mir gerade dabei war, zu sagen.
Es kostete mich alle Kraft, meinen Kopf zu drehen und den Frauenarzt direkt anzusprechen.
„Das ... Kind ... ist es krank?“
„Nein“, antwortete Dr. Kringer, „das nicht. Es ist vielmehr ...“
„Was?“, flüsterte ich. Scheiße, ich hatte langsam richtige Panik. „Was denn?“, wiederholte ich kurz darauf lauter, als niemand mir antwortete, und fasste mir reflexartig an den Bauch.
„Wie geht es meinem Baby?“
„Das ist es ja“, vernahm ich Darons sanften Bass und blickte erneut in sein von einer tiefen Sorgenfalte geprägtes Gesicht.
„Es gibt kein Baby. Du bist nicht schwanger.“
Das war der Moment, in dem ich die Kontrolle über meine Achterbahn fahrenden Emotionen verlor und sich meine Angst mit aller Macht ihren Weg aus meinem Körper bahnte.
Ich begann zu lachen, bis mir die Tränen kamen.
Ich lachte so laut, als hätte Daron soeben den besten Witz aller Zeiten gemacht.
Aber tief in meinem Inneren wusste ich bereits, dass er die Wahrheit gesprochen hatte.