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Kapitel 1

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„Wie jetzt, keinen Käse mehr?“

Mit schreckgeweiteten Augen starrte ich Franziska an, als hätte sie mir soeben das Ende der Welt verkündet. Genau genommen hatte sie das auch.

„Nicht komplett keinen Käse mehr. Aber Camembert solltest du beispielsweise ab sofort auf die rote Liste setzen.“ Entschlossen nahm sie mir das leckere Stückchen geronnene Milch aus der Hand und schob es sich stattdessen selber in den Mund, während meiner dagegen fassungslos aufklappte.

„Du nimmst mich doch jetzt auf den Arm!?“

„Nein, sämtlicher Rohmilch- und Weichkäse, also Feta, Brie oder eben Camembert sind in der Schwangerschaft tabu“, schmatzte meine mir liebste Freundin und unterstrich ihre seelische Grausamkeit mir gegenüber noch mit dem genüsslichen Abschlecken ihrer Finger.

„Oder willst du dir später Vorwürfe machen, dass euer Kind nur deswegen einen Hirnschaden davongetragen hat, weil seiner Mutter ihre Genusssucht wichtiger war als seine Gesundheit?“

Prüfend blickte sie mich über die Gläser ihrer neuen, randlosen Brille an. Nachdem Franziskas alte bei ihrer Gefangennahme durch Mael und der anschließenden Folter im Kerker zu Bruch gegangen war, hatte sie sich zwar wieder für ein ähnliches Modell, aber eine etwas pfiffigere Form entschieden. Mit der neuen Brille sah sie viel jünger und weitaus weniger streng aus. Was aber nicht hieß, dass sie ab sofort auch weniger streng war.

„Das ist ganz schön hart“, schluckte ich schwer und blickte ziemlich hilflos meiner kleinen, selbst zusammengestellten Käseplatte hinterher, als Franziska sie zu sich zog und hemmungslos ein Häppchen nach dem anderen vertilgte. Wenigstens die Cocktailtomaten hätte sie mir lassen können.

Einer Schwangeren das Essen wegfuttern.

So weit waren wir also schon.

„Hart, aber Fakt. Mit Listerien ist nicht zu spaßen. Und mal ehrlich, was sind denn schon neun Monate ohne Camembert?“

Neun.

Monate.

Ohne Camembert.

Da konnte ich ja gleich vegan werden, war mir aber ziemlich sicher, dass auch das wieder auf Frau Doktors erhobenen Zeigefinger gestoßen wäre. Oder war das alles vielleicht nur ein Vorwand, um mir die kleinen Köstlichkeiten abzuluchsen? So ganz konnte ich mich des Eindrucks bei Franziskas genussvollem Schmatzen nicht erwehren. Ich beschloss, später hierzu das Internet zu befragen. Zwar nahm ich meiner Freundin ihre Sorge durchaus ab. Aber wenn es um Käse ging – den sie genauso mochte wie ich – konnte sie schon eine kleine Mistbiene sein. Verstohlen blickte ich an mir herunter und auf meinen Bauch, der sich zwar bisher noch nicht sonderlich wölbte, aber in sich das Leben eines kleinen, bezaubernden Mädchens trug, von dem bisher keiner wirklich wusste, ob es uns wohl gesonnen sein oder uns in die absolute Apokalypse stürzen würde. Aber was wäre Aline Heidemanns Alltag ohne ein wenig Spannung? Langeweile war einfach nicht mein Ding. Obwohl ich mir in den letzten Wochen tatsächlich etwas mehr davon gewünscht hätte. Als wäre die Einführung in Darons Familienclan nicht schon heikel genug gewesen, hatte ich während meines Aufenthalts auf dem Sippensitz der Ewigen meine Schwangerschaft durch einen eigentlich unfruchtbaren Sündentod bemerkt, den Fötus anschließend durch den Akt mit einer Art Mensch-Ewigen-Dämonenmischling genetisch transformiert und letztendlich eben diesen Mischling getötet, um den perfiden Plan einer machthungrigen Exbewahrerin zu durchkreuzen.

Uff.

Also wenn man es so formulierte, dann musste man wirklich denken, ich sei reif für die Klapse.

Traurig fasste ich mit der Hand, die soeben noch das Käsestückchen gehalten hatte, an meinen Bauch. Voller Wehmut dachte ich an Phelan, dessen Samen besagte Transformation bewirkt hatte und dessen Leben ich anschließend nehmen musste, um Gefion davon abzuhalten, zusammen mit Mael das Ende der Welt heraufzubeschwören. Auch wenn Daron mir beigebracht hatte, dass wir alle uns vor unserem Eintritt in die Welt unser Schicksal und unsere Aufgabe selber aussuchten, so konnte und wollte ich einfach nicht akzeptieren, dass ein so gutherziger, wenn auch recht ruppiger Charakter einst vor dem Karmaschrank des Jenseits gestanden hatte, mit dem Finger über die angebotenen Schicksalsboxen gefahren und dann ausgerechnet mit diesem Paket an die Wiedergeburtskasse gegangen war. Vom Umtausch für immer ausgeschlossen. Dieser Gedanke machte mich fassungslos.

Eine Träne des Abschieds kullerte meine Wange herunter, so wie immer in der letzten Zeit, wenn ich mich an Phelan erinnerte. Sein schroffer Charakter und seine stechend gelben Wolfsaugen hatten mich anfangs glauben lassen, er wollte mir übel mitspielen. In Wirklichkeit aber war er zu meinem wichtigsten Verbündeten geworden, der am Schluss von mir als Beweis meiner aufrichtigen Zuneigung seine Tötung einforderte. Vielleicht war es wirklich besser so gewesen, und er hatte jetzt für alle Zeit den Frieden gefunden, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte. Leider bot mir dieser Gedanke nicht im Mindesten Trost, und jedes Mal, wenn ich auf meine Hände blickte, sah ich Phelans Blut an ihnen herunterlaufen.

Ich hatte ihn getötet.

Das würde ich mir niemals im Leben verzeihen.

Auch drei Wochen Brasilien waren einfach nicht genug Zeit gewesen, das Geschehene zu verarbeiten. Vielmehr hatte ich fast die meiste Zeit an unserem paradiesischen, kleinen Privatstrand mit dem türkisblauen Meer bei Canavieras unter einem großen Sonnenschirm verschlafen, da mich das Wachsein zu sehr anstrengte. Es war, als hätte meine Seele meinen Körper mit aller Macht zur Ruhe zwingen wollen, welche ich ja zugegeben auch mehr als nötig gehabt hatte. Also ergab ich mich einfach ihrem Willen. Am Anfang war mir nicht nach Urlaub unter Palmen gewesen. Warum, das lag auf der Hand. Aber als ich Betty kurz vor Abflug von unseren Reiseplänen berichtet hatte, oder vielmehr von meiner aufwallenden Reiseunlust, da hatte mir meine Cousine per Telefon die Ohren langgezogen. Ich könne von Glück sagen, so einen attraktiven und überaus wohlhabenden Freund gefunden zu haben, dass ich nicht einmal mehr arbeiten gehen müsse, hatte sie mich knallhart zurechtgewiesen. Außerdem schaue man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul, und ob ich wüsste, wann sie das letzte Mal so weit gereist sei? Dass ihre Weihnachtskreuzfahrt mit meiner Mama noch nicht allzu lang her war, behielt ich in diesem Moment lieber für mich. Wenn Betty in Rage war, konnte sie einen verbal ungespitzt in den Boden rammen. In dem Fall war Schweigen die klügere Taktik, und so hatte ich mich schließlich kleinlaut ergeben. Mir war klar, dass Betty nicht verstand, weshalb mir nicht nach Verreisen war, dazu fehlte ihr das ein oder andere Detail. Da ich aber nicht erzählen konnte, was sich alles ereignet hatte, seit Daron in mein Leben getreten war, ließ ich sie in dem Glauben, ich sei eine undankbare, faule Nudel. Ihre Wortwahl, nicht meine. Sicher hatte mir das schon irgendwo wehgetan. Aber ich wusste auch, dass Betty Dinge oft nicht so meinte, wie sie sagte. Kein Wunder, dass wir verwandt waren.

Daron tat mir während unseres Urlaubs ziemlich leid. Der Arme hatte sich so darauf gefreut gehabt, mit mir das Land und die Leute zu erkunden, und ich war fast jedes Mal kurz vor Aufbruch in einen geradezu komatösen Schlaf gesunken, als hätte mein Innerstes nur bei dem bloßen Gedanken an Bewegung einen Schalter betätigt, um nicht wieder ungebremst in einen neuen Schlamassel zu schlittern. Bei mir wusste man ja nie, darüber war ich mir mittlerweile im Klaren.

Zurück in der Heimat hatte ich trotz Jetlag sofort Franzi im Krankenhaus besucht. Ihr Bauchschnitt war bereits sehr gut verheilt. Allerdings war das Messer so tief eingedrungen, dass es ihre Gebärmutter verletzt hatte. Nicht so viel, dass die Ärzte sie entnehmen mussten, aber verheerend genug, dass Franzi aller Voraussicht nach keine Kinder mehr bekommen konnte. Irgendwas mit Narben, hatte sie gemeint, und diverse Fachausdrücke benutzt, die für mich so verständlich waren wie Mandarin. Ich hatte mich ehrlich gesagt nicht mehr konzentrieren können, nachdem sie mich mit dieser Nachricht geschockt hatte, sondern sie ohne nachzudenken einfach in den Arm genommen und fest gedrückt. Plötzlich kam mir meine eigene Schwangerschaft so schrecklich ungerecht vor. Franzi hatte immer Mutter werden wollen. Ich dagegen war noch nicht ansatzweise bereit gewesen, mich mit diesem Sachverhalt auseinanderzusetzen, als ich völlig unvorbereitet damit konfrontiert worden war. Meine beste Freundin hatte mich im Anschluss an meine Knuddelattacke eingehend gemustert, als hätte sie meine Gedanken in meinem Gesicht ablesen können.

„Ist in Ordnung“, hatte sie gesagt, „jetzt kann man es sowieso nicht mehr ändern.“

Gerade als ich den Mund hatte öffnen und etwas erwidern wollen, hatte sie mich gefragt, wie es meinem kleinen Wurm ging und was die letzte Untersuchung ergeben hätte. Damit hatte sie mich eiskalt erwischt. Nach unserem Kampf gegen Gefion hatten Daron und ich nämlich so schnell wie möglich die Koffer gepackt. Ich meine, das Kind habe einen dämonischen Genaustausch überstanden, da machte ich mir zugegebenermaßen keine Sorgen, dass es nicht gesund sein könnte. Franzi hingegen hatte mich daraufhin trotz Krankenlager einer solch erdbebenartigen Standpauke unterzogen, dass es mich bis heute noch wunderte, dass die kleine Privatklinik nicht umgehend über uns zusammengestürzt war. Zum Schluss hatte sie mir solche Schuldgefühle eingeredet, dass ich versprochen hatte, mich bei einem Frauenarzt zu melden, den sie und die McÉags für vertrauenswürdig hielten – sprich: kaufen konnten.

Der Tod war so alt wie das Leben selbst, entsprechend saßen Daron und seine Familie durch ihr Geschäftsgeschick und das aller vorangegangenen Linien auf einem derart großen Haufen Schotter wie Dagobert Duck auf seinen güldenen Talern. Geld spielte keine Rolle, dennoch warfen die Ewigen nicht wahllos damit um sich, um nicht unnötig mehr Interesse zu wecken, als sowieso schon an ihnen bestand. Ich selbst hatte zwar noch keine Begegnung mit Paparazzi gehabt, doch Daron hatte mir mehr als einmal berichtet, wie gern die Klatschblätter über sie schrieben. Oder vielmehr schreiben wollten, denn nur selten sagte Darons Vater Luan einer Einladung der High Society zu und schickte dann als Stellvertreter einen eigens engagierten Schauspieler, der sich als Firmeninhaber und Multimillionär ausgab. Somit wurde die Neugier der Medien an dem stinkreichen Familienclan zwar nie ganz befriedigt, aber kurzfristig stets so weit gestillt, dass wieder für ein paar Wochen Ruhe herrschte. Ich kannte mich mit diesem ganzen Upperclass-Gedöns nicht aus. Bis vor Kurzem hatte ich beispielsweise Blake Lively aufgrund ihres Vornamens noch für einen Mann gehalten. Aber das nur nebenbei. Einerseits konnte ich Luans Vorgehen in seinem Fall durchaus verstehen. Diskretion war für diese spezielle Familie absolut essenziell. Würde ein Außenstehender erfahren, wer sich wirklich hinter dem Clan verbarg, ich mochte mir nicht ausmalen, was dann passieren könnte. Andererseits empfand ich dieses Versteckspiel als sehr unsicher, denn wenn nur ein finanzielles Angebot einer Zeitung verlockend genug erschien, wer garantierte dann dafür, dass Luans Stellvertreter den Mund hielt? Menschen waren unberechenbar, und bei den meisten hielt ihre Loyalität dem Brötchengeber gegenüber immer nur bis zur nächsten Abrechnung. Daron hatte herzlich gelacht, als ich ihm meine Bedenken geschildert hatte, und gemeint, dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Das Engagement sei geldtechnisch nicht zu toppen und der Schauspieler würde zudem aufgrund seines besonderen Vertrages keine Informationen preisgeben. Das hatte zwar mein ungutes Gefühl nicht gänzlich weggewischt, aber doch zumindest ein wenig beruhigt. Auf mich wartete schließlich Wichtigeres, und genau deshalb stattete mich Franziska wie schon im Krankenhaus angekündigt kurz nach dem gemeinen Käseklau mit der Visitenkarte einer privaten Frauenarztpraxis in irgendeinem Kaff am – Verzeihung – Arsch der Welt aus.

„Jetzt schau nicht so pikiert.“

Mein Gesicht samt hochgezogener Braue musste offenbar Bände gesprochen haben, als ich mit meinem Smartphone die Lage der Praxis via Google Maps checkte.

„Das ist zwar ein Dorf, aber Dr. Kringer ist wirklich ein Ass in seinem Fach. Außerdem ist es sicherer, dich nicht mitten in der Stadt untersuchen zu lassen. Es reicht, wenn wir dort eine Klinik unter Vertrag haben. So minimieren wir das Risiko einer möglichen Enttarnung.“

Keine Ahnung, was es war, aber irgendwas an Franziskas Wortwahl kam mir komisch vor.

„Mann, ich hätte nicht gedacht, dass sich der Tod so verstecken muss. Ich meine, klar ist es besser, das alles nicht breitzutreten, aber sie sind der Tod, was gibt es Mächtigeres?“

Nun war es an Franziska, eine Augenbraue hochzuziehen.

„Aline, das fragst du nach den Geschehnissen von vor ein paar Wochen jetzt nicht im Ernst!?“

„Das kannst du doch nicht vergleichen. Hier geht es nicht um irgendeine machtgeile Exbewahrerin, sondern um einfache Menschen aus Fleisch und Blut.“

„Und genau deshalb wird ihre Angst umso verheerender sein, wenn sie erst mal wissen, wer sich wirklich hinter den McÉags verbirgt. Du kannst nicht davon ausgehen, dass sie alle so reagieren wie wir. Überleg doch mal, wie sehr der normale Mensch den Tod fürchtet. Was wird passieren, wenn der ihnen plötzlich auf dem Silbertablett serviert wird, und das dann auch noch in achtfacher Ausführung, egal wie appetitlich sie alle auch anzusehen sind?“

„Naja ...“, begann ich zu stottern und wusste ehrlich gesagt nicht, was ich darauf antworten sollte.

„Aline, der Tod wäre plötzlich greifbar, stofflich, ein vermeintlicher Mensch wie jeder andere. Wenn es auch nur die kleinste Chance gäbe, die Endlichkeit des eigenen Lebens zu verhindern, sie vielleicht sogar für immer auszumerzen, was denkst du könnte diese Idee in den Köpfen der Leute auslösen? Und was würden sie dann mit dir machen, als zukünftiger Mutter der neuen Todeslinie?“

Boing.

Jetzt hatte Franzi mir einen unerwarteten Tiefschlag verpasst.

„Das ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen“, presste ich zwischen meinen plötzlich belegten Stimmbändern hervor und vermied es krampfhaft, mein Kopfkino anzuwerfen.

„Eben“, antwortete Frau Dr. Stein mit strengem Blick über ihre neue Brille hinweg, „ich will mir das lieber auch nicht vorstellen. Also ruf in dieser Dorfpraxis an, mach einen Termin aus und lass dich untersuchen. Antworte nur, wenn du gefragt wirst und geh sparsam mit Informationen um. Auch wenn Dr. Kringer und sein Team ebenfalls zu uns gehören, man kann nie vorsichtig genug sein.“

Noch immer ziemlich geplättet von unserem Gespräch blickte ich auf die Karte und versprach wie in Trance, mich gleich am nächsten Morgen um einen Termin zu kümmern. In dem Moment, in dem ich das Kärtchen in meine Hosentasche steckte, verlor ich den Kampf gegen meine Gedanken. Ich sah einen schreienden Mob mit Fackeln und Mistgabeln durch die Straßen ziehen, wie er meinen Namen rief und erst Ruhe gab, nachdem er mich gelyncht und auf brennendes Reisig gestellt hatte.

Bisher hatte ich immer angenommen, die Existenz der Ewigen – und somit auch meine – sei auf eine bestimmte Weise unantastbar und erhaben.

Wie arrogant und überheblich dieser Gedanke doch gewesen war.

Hochmut kam bekanntlich immer vor dem Fall.

Ich hoffte, mich diesmal beim Stolpern gerade noch abgefangen zu haben.

Entfesselt

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