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Kapitel 8

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„Ist schon in Ordnung“, vernahm ich Laurins süße Stimme unter meinem harten Schluchzen, während sie mit unablässiger Ruhe ein ums andere Mal über meinen Kopf streichelte. „Du hast so viel durchmachen müssen. Und jetzt auch noch das. Wäre ich an deiner Stelle, ich wüsste nicht, ob ich als Bewahrerin diesem Verlust die Stirn bieten könnte ...“

Ping!

Irgendwo tief in meinem Inneren setzte sich trotz aller Trauer ein altbewährter Mechanismus in Gang, auf den ich immer vertrauen konnte, selbst wenn die Lage noch so aussichtslos schien und mein Kopf noch so sehr von ganz anderen Dingen abgelenkt war.

Woher wusste Laurin von meinem Verlust?

Meinte sie Phelan oder etwa mein Kind, von dessen Nichtexistenz ich selber soeben erst erfahren hatte?

Was machte Laurin überhaupt hier auf dem Schloss, nein, was machte sie hier in der Bibliothek?

Und ... da war doch noch etwas ...

Wie von der Tarantel gestochen entwand ich mich Laurins liebevoller Umarmung, sprang auf und brachte unter dem Schleier meiner Tränen so viel Abstand wie möglich zwischen mich und die mir eigentlich komplett unbekannte Frau. Ein Wunder, dass ich dabei keins der Bücherregale umwarf.

„Aline ...?“, sagte die elfengleiche Gestalt und streckte mit fragenden Augen ihre Hände nach mir aus, so als wolle sie mir erneut die Gelegenheit bieten, in ihren Armen Halt zu finden.

„Nicht, lass mich!“, war das Einzige, was ich stammelnd hervorbrachte. Meine Gedanken machten eine Umdrehung nach der anderen, und mein Herz raste wie das eines sich auf der Flucht befindlichen Kaninchens. Wie von selbst hob ich meine Hände und streckte sie Laurin in Abwehrposition entgegen. Dies verhinderte ihren Versuch, sich zu erheben, sodass sie ruhig auf dem Boden sitzen blieb und ihre Finger auf dem Schoß liegend ineinander verschob. Sie wollte mir signalisieren, dass sie für mich da war, aber ebenso meinen Sicherheitsabstand respektierte.

„Entschuldige“, sagte Laurin leise, „ich habe nicht bedacht, wie das auf dich wirken muss. Sicher hat dich das alles etwas überfordert.“

Auch wenn sie damit leicht untertrieb, hatte sie recht. Und ich war Gott sei Dank endlich wieder in der Lage, einigermaßen geistesgegenwärtig zu agieren.

„Was alles?“, fragte ich.

Höflichkeit war zugegeben gerade nicht meine Stärke, aber das war mir auch ziemlich egal. Zu frisch klafften noch die offenen Wunden von einer anderen Bewahrerin, die mich mit ihrer verführerisch unschuldigen Art eingelullt und damit zum ungewollten Instrument ihres niederträchtigen Plans gemacht hatte. Das sollte mir nicht noch einmal passieren!

Fast mitleidig schien Laurin mich zu betrachten. Ihre offensichtliche Empathie fraß sich augenblicklich in mein Herz und durchlöcherte es in Sekundenschnelle zu einem Schweizer Käse.

„Die Sache mit Phelan. Gefion. Und ...“ Bei diesen Worten schien Laurin vergeblich nach den passenden Worten zu suchen, „... deinem Kind.“

Also doch.

Eine imaginäre Klinge, rasiermesserscharf wie die eines kaukasischen Kindschals, glitt durch meine Mitte wie durch die Kehle eines zur Opferung bereitstehenden Turs. Ich wollte sprechen und bekam vor lauter Aufregung doch kaum einen Ton heraus.

„Woher weißt du davon?“, zischte ich angriffslustig und spürte, wie sich die in mir aufwallende Verzweiflung in alles versengende Wut verwandelte. ‚Jetzt!’, schrie meine Seele so laut wie tausend Presslufthämmer, ‚du wolltest jemanden, auf den du sauer sein kannst? Das ist deine Chance!’

Auch wenn ich wusste, wie unfair es eigentlich war, eine vollkommen unbeteiligte Person für meinen Schmerz verantwortlich zu machen, so hatte ich Laurin weder um ihre Anwesenheit gebeten, noch stand es ihr zu, über meine Situation offensichtlich besser Bescheid zu wissen, als ich selbst es aktuell zu zeigen bereit war.

„Sprich!“, schrie ich mit sich beinahe überschlagender Stimme, „was weißt du und woher?“

Laurin war clever genug, weder auf meine hasserfüllte Provokation einzugehen, noch sich auch nur einen Millimeter von Fleck zu rühren. Statt zu antworten, schenkte sie mir nur weiterhin diesen mitfühlenden Blick aus ihren großen, braunen Augen, die Walt Disney sicher als Vorlage für Bambi gedient haben mussten.

Sekunden vergingen wie Minuten, in denen keine von uns sprach. Stattdessen hallte mein panikinfiltrierter Atem an den Wänden der Bibliothek so geräuschvoll wider, als wäre der Raum nicht größer als ein kleines Einzimmerapartment. Fassungslos starrte ich auf diese so zerbrechlich wirkende Elfe herab und fragte mich gleichzeitig, wie sie es nur hinbekam, meine Wut nach außen hin so unbeeindruckt an sich abperlen zu lassen gleich Wassertropfen an einer frisch gewachsten Windschutzscheibe.

Erst als mein Atem sich verlangsamte und meine Wut sich in ersten Rauchschwaden aufzulösen begann, sog Laurin tief die Luft in sich ein. Doch anstatt meine Frage zu beantworten, begann sie einfach, mir ihre Geschichte zu erzählen:

„Ich bin Laurin Everster, einst als Mensch geboren und lebend bis zu dem Zeitpunkt, als ich Cayden McÉag traf. Wir verbrachten wunderbare Momente tiefer Liebe miteinander, bis vor wenigen Wochen ein Schatten eines Nachts neben meinem Bett auftauchte und mir mitteilte, es sei nun an der Zeit, die Kinder zu holen.“

Gänsehaut bildete sich wellenförmig auf meiner Epidermis und kroch mir bis hoch unter meine Kopfhaut. Meine Kehle war wie ausgedörrt, sodass mein Versuch zu sprechen in einem kläglichen Krächzen mündete. Aber ich musste nicht sprechen. Laurin verstand auch so.

„So schnell, wie der Schatten gekommen war, verschwand er auch. Ich habe vor Schreck die halbe Nachbarschaft zusammengeschrien. Einer rief sogar die Polizei. Cayden hatte alle Mühe, die Beamten davon zu überzeugen, dass ich nur schlecht geträumt hatte. Sie dachten tatsächlich, er hätte mich geschlagen oder noch Schlimmeres. Dabei könnte Cayden so etwas niemals tun. Er ist zwar groß und eine imposante Erscheinung, dabei aber so sanft und liebevoll ...“

Unwillkürlich dachte ich daran, wie sehr diese Beschreibung meinem Daron glich. Schon merkwürdig, zwei Brüder so unterschiedlich im Äußeren und im Herzen offenbar so gleich ...

„Das war der Zeitpunkt, an dem Cayden mich aus meinem kleinen, behüteten Leben als Grundschullehrerin herausreißen und mir die ganze Wahrheit erzählen musste. Über sich, seine Familie, die ganze Linie der Ewigen und letztlich über meine Aufgabe in diesem ganzen Geflecht aus Übernatürlichkeit.“

Eigentlich hatte ich nur eine simple Frage gestellt. Aber der Abgrund, der sich soeben vor mir auftat, ließ sie fürs Erste vollkommen in Vergessenheit geraten.

„Aufgabe?“, presste ich mühsam hervor und versuchte im Anschluss, erfolglos zu schlucken. Mein Hals war mittlerweile so ausgetrocknet wie das Death Valley.

Nun war Laurin an der Reihe, fragend dreinzublicken. „Weißt du denn etwa nicht ...?“

Ein weiteres Ping machte sich in meiner Magengrube bemerkbar.

Immer wenn ich diese Frage hörte, wollte ich das, worauf sie sich bezogen, eigentlich nicht wissen. Aber wie auch sonst blieb mir hier keine Wahl. Anstatt zu antworten, schüttelte ich einfach den Kopf. Zu mehr war ich momentan auch nicht in der Lage.

Laurins riesige Rehaugen weiteten sich so sehr, dass ich meinte, sie würden im nächsten Augenblick aus ihrer Höhle fallen und auf dem Steinboden wie braune Murmeln herumkullern.

„O Gott ... Aline ... ich hatte ja keine Ahnung ...“

Nicht schon wieder diese Nummer, dachte ich mir genervt, und brachte nur ein barsches „Was?“ hervor, das tatsächlich rauer klang, als es gemeint war. Aber für einen feinfühligen Schmusekurs fehlten mir gerade eindeutig die Antennen. Nächstes Mal vielleicht wieder.

Unangenehm berührt räusperte sich Laurin einige Male, bis sie schließlich wieder ihre Stimme fand.

„Alle Ewigen, die sich entscheiden, eine feste Partnerschaft einzugehen, tun dies nur mit einer Bewahrerin. Nur wir sind in der Lage, mit ihrer körperlichen und mentalen Stärke so umzugehen, als wären sie einfache Menschen. Leider wissen wir, die Partnerinnen, nichts von all dem, wir glauben ja selbst, normal zu sein. Wir werden erst ... aktiviert, sobald die Erhabene unter den Bewahrerinnen guter Hoffnung ist. Es ist unsere Aufgabe, die Seelen der Kinder zu holen, die die nächste Generation der Ewigen bilden sollen.“

Instinktiv fasste ich mir schützend an den Bauch, nur um im nächsten Moment schmerzhaft zu bemerken, dass da nichts mehr war, das es zu schützen galt. Heiße Tränen begannen mir die Sicht zu verschleiern, und nur mit Mühe und Not gelang es mir, das soeben Gehörte einigermaßen aufgereiht einzusortieren.

„Das heißt ... alle Frauen der Ewigen ... sind so wie ich?“

„Ja“, nickte mir Laurin mit einem traurig wirkenden Lächeln zu, „doch nur eine wird die Frau des reinen Todes. Nur eine besitzt das Privileg, ihrer großen Liebe die nächste Linie der Ewigen zu schenken.“

Bei diesen Worten drehte sich mir der Magen um. Unbewusst legte ich mir eine Hand auf den Mund, nur für den Fall ...

Diese Frau sah es tatsächlich als ein Privileg, ja vielleicht sogar als Ehre an, acht Kinder auf einen Schlag gebären zu müssen ... also in dem Punkt war ich gerne bereit, zu tauschen. Andererseits hatte ich Laurins versteckten Seitenhieb sehr wohl verstanden, und die Art, wie sie ihn verpackt hatte, rief ein Stück weit Missfallen bei mir hervor. Nur die Frau an der Seite des reinen Todes besaß die Macht, selbst zu bestimmen, wie lange sie an der Seite ihres Geliebten verbringen wollte und war komplett unabhängig von den Entscheidungen anderer. Die anderen Gefährtinnen der Sündentode dagegen waren bezüglich ihrer Liebe komplett gebunden an die Entscheidung der ... wie hatte sie mich soeben bezeichnet? Als Erhabene? Mir schwante, dass es diesbezüglich noch weitere Informationslücken meinerseits gab, die ich aber in Kürze zu füllen gedachte. Irgendwo in einem kleinen Eckchen meines Herzens empfand ich Laurins Worte als eine Anklage, das Ende ihres Liebesglücks eingeläutet zu haben, auch wenn sie das so ausdrücklich nicht gesagt hatte. Ich wusste nicht, wie ich sie einordnen sollte, und ermahnte mich gedanklich, auf der Hut zu sein. Nicht nur wegen meiner jüngsten Erfahrung mit einer anderen meiner Art, sondern auch, weil sie wohl selber noch damit zu kämpfen hatte, ihr neues Schicksal zu akzeptieren. Bis vor Kurzem hatte sie noch nichts von ihrer Besonderheit gewusst, bis zu der Nacht, wo ...

Erst jetzt ließ mein Gehirn die Aufnahme der weiteren Informationen zu. Erneut schüttelte es mich, und diesmal war es nicht vor Übelkeit.

„Welcher Schatten und welche Kinder?“

Laurin antwortete nicht sofort. Stattdessen wandte sie ihren Blick ab und zeichnete auf dem steinernen Boden die Abgrenzungen jedes einzelnen Quaders nach.

„Die, die bis zum Zeitpunkt der Empfängnis mit einem Ewigen verbunden sind, sind diejenigen, die die Seelen der nächsten Linie holen, um sie für ihre Wiedergeburt als Tod vorzubereiten. Es geschieht im Auftrag der Erhabenen. Das ist der Pakt, der uns verbindet, Aline. Der Pakt der Bewahrerinnen.“

Langsam begannen sich die Bücherregale um mich herum zu drehen.

Kinder.

Seelen.

Schatten.

Ich als Erhabene.

Bewahrerinnen, wohin das Auge blickte.

Wie viele zum Geier gab es denn noch da draußen? Und dann dieser Pakt ...

„Ich muss hier raus!“, war das Einzige, was ich noch imstande war, zu formulieren, bevor ich wie von Sinnen aus der Bibliothek stürzte, dabei unzählige Ecken und Treppen nahm, bis ich schließlich gleich einem Déjà-vu ungeplant in die Schlossküche stürzte. Das war mir vor nicht allzu langer Zeit schon einmal passiert. Leider hatte ich dieses Mal mehr Geschwindigkeit drauf als gedacht, und so musste ich meinen Sprint unfreiwillig mit Hilfe eines Tellers voller Schokoladenpudding abbremsen, in dem meine rechte Hand landete, während ich mich am Tisch abfing.

Völlig verdattert blickte mich Alan mit halbgeöffnetem Mund an. Er war gerade dabei gewesen, sich einen riesigen Löffel der süßen Masse in den Mund zu schieben. Ein kurzer Blick auf mich und den Löffel, dann hielt er ihn mir höflich vor die Nase: „Wenn du was davon haben willst – wir haben hier unten auch Besteck.“

Ein sich aufbäumendes Lachen löste sich aus meinem Inneren und verwandelte sich auf seinem Weg nach außen in ein hässliches, schrilles Kreischen.

„Ich will das nicht!“, schrie ich, riss meine Hand aus Alans Puddingschale und fegte sie dabei unabsichtlich vom Tisch – mitten auf Darons Schoß.

Es bedurfte keiner großen Worte.

Nur ein Blick, und mein geliebter Riese las in meinen Augen die wie ein Geschwür wuchernde Verzweiflung, deren Masse für die nächsten hundert Jahre ausreichte. Er schenkte der Schüssel keine Beachtung, als er sich erhob, und diese dadurch ihren restlichen Inhalt statt auf seiner Hose lautstark scheppernd auf dem Küchenboden verteilte. Alan dagegen hatte sich für die Einfriertaktik entschieden und verharrte in seiner letzten Position, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken.

„Aline, was ist passiert?“

Noch bevor ich Darons Frage beantworten konnte, betrat Cayden hinter ihm die Küche, an seiner Seite Laurin, so schön und unerträglich graziös, dass ich ihr in diesem Moment am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre.

Wut sucht sich eben immer das nächstbeste Ventil.

Und das war in diesem Moment diejenige, die mir unabsichtlich gesteckt hatte, dass der Verlust meines Kindes offenbar schon in der Hauszeitung stand. Fairerweise musste ich hinzufügen, dass sich Laurin sicher nicht um diesen Posten gerissen hatte. Aber das kümmerte mich gerade einen feuchten Dreck. Ich wollte sogleich den Mund öffnen, um zu einer nicht wirklich überlegten Schimpftirade anzusetzen, als Cayden mir mit einem Satz die noch ungesprochenen Worte abschnitt.

„Sie weiß über den Pakt Bescheid“, meinte er.

Es war auf einmal so leise, dass man eine Stecknadel auf dem Küchenboden hätte klirrend aufschlagen hören können. Keiner wagte zu atmen.

Alan fiel der letzte Klecks Schokopudding vom Löffel auf den neuen Küchentisch.

„Scheiße.“

Genau.

Mit einem Sahnehäubchen obendrauf.

Entfesselt

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