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Kapitel 2
ОглавлениеDie medizinische Fachangestellte Karin hatte sich am Telefon nicht besonders freundlich benommen, als ich sie nach einem Termin bei Dr. Kringer fragte. Artig, wie ich war, hatte ich wie versprochen am nächsten Tag den Hörer in die Hand genommen und im Niemandsland angerufen. Franzi war zwar immer noch nicht ganz gesund, schließlich lag ihre Verletzung erst wenige Wochen zurück, das aber tat ihrer Energie keinen Abbruch. Und mit Franzi sollte man sich besser nicht anlegen, egal wie geschwächt sie auch sein mochte. Ich war mir sicher, sie musste im Kerker bis zur absoluten Erschöpfung gegen Mael, seine Folter an ihr und den anderen Mitgefangenen gekämpft haben. Doch was nutzte schon die größte Klappe und das mutigste Herz, wenn Hände und Füßen in schweren Ketten lagen? Mein Magen krampfte sich stets zusammen bei dem Gedanken an die Gräueltaten, die Mael an meiner Freundin und an Darons Vater verübt hatte. Zwar hatte Phelan seinen wahnsinnigen Bruder im Kampf schlussendlich so schwer verletzen können, dass dessen Seele durch eine mir nicht näher bekannte Praktik in den Körper seines eineiigen Zwillings Kian verpflanzt werden musste. Allerdings wusste ich es mittlerweile besser, als einfach naiv zu glauben, damit sei erst einmal Ruhe im Karton. Auch die anderen Brüder, so jedenfalls hatte es für mich den Anschein, betrachteten Kians Verfassung mit äußerster Sorge. So ähnlich der nämlich seinem älteren Zwilling optisch auch war, so weich und zerbrechlich war dagegen sein gesamtes Wesen. Meiner Meinung nach hätte er problemlos als emotional instabil durchgehen können, aber ich hütete mich sorgsam, diesen Gedanken laut auszusprechen. Daron hätte diese Sichtweise sicher nicht gutgeheißen, schließlich war ihm nichts heiliger als seine Familie. Doch zu der gehörte mittlerweile nun auch ich, und ich sagte nicht immer brav zu allem Ja und Amen. Es war schwierig für ihn, das Gleichgewicht zwischen den Traditionen seines Clans und meiner modernen, selbstbewussten Art zu finden. Stets versuchte er, einen Mittelweg einzuschlagen, aber oft hatte ich dabei das Gefühl, ein Stück weit zu Gunsten starrer Muster zurückzustecken. Ich war ihm deswegen dennoch nicht böse. Er tat sein Möglichstes, damit ich mich wohl an seiner Seite fühlte, und das rechnete ich ihm hoch an. Ein Drahtseilakt war ein Kinderspiel dagegen.
Nicht so hoch stand dagegen bei mir im Kurs, dass Daron mich unbedingt zu dem Frauenarzttermin hatte begleiten wollen. Ehrlich, ich hatte noch nie verstanden, weshalb Schwangere so scharf darauf waren, ihre Partner bei jedem einzelnen Check dabeizuhaben. Aber wie bereits gesagt, ich war mit der Schwangerschaft so unvermittelt konfrontiert worden, dass ich mir über solche Aspekte noch überhaupt keine Gedanken gemacht hatte.
„Da wären wir“, holte mich Daron aus meinen Grübeleien, als er seinen Luxusgeländewagen auf dem Dorfplatz mitten vor den Praxisräumen parkte.
„Kannst du dich einfach so hier hinstellen?“, fragte ich und zeigte auf ein Parkverbotsschild am Ende der Reihe.
„Keine Ahnung. Ich mach‘s einfach. Mehr als ein Knöllchen kann sowieso nicht passieren.“
Abermals staunte ich nicht schlecht über die neue Lockerheit meines Geliebten. Seit unserem letzten, nennen wir es meinetwegen Abenteuer im Schloss Rosenhain, hatte ich bei Daron eine kleine, aber feine Transformation ausgemacht. War er zur Zeit unseres Kennenlernens vergleichsweise starr und in nahezu pedantischen Verhaltensweisen festgefahren gewesen, so zeigte er in den letzten Wochen verstärkte Tendenzen einer gewissen Gelassenheit, die mir sehr gefiel. Ein Strafzettel wäre bei Daron vor Weihnachten noch in die Kategorie „Fleck auf der blütenweißen Weste“ gefallen – jetzt zuckte er einfach nur die Schultern und wies mich an, aus dem hohen Gefährt zu klettern. Okay, da durfte er meiner Meinung nach dann doch wieder etwas mehr Gentleman bleiben. Jetzt konnte ich noch problemlos aus dem Geländewagen steigen, aber später mit Kugel würde er mir bei der Kletterpartie definitiv helfen müssen. Wenigstens die Tür zur Praxis hielt er mir auf wie sonst auch.
Immerhin.
„Name?“, raunzte die Kaugummi kauende Dame hinter der Rezeption, noch bevor ich eine Begrüßung äußern konnte. Manieren waren hier wohl ausverkauft, denn sie schaute nicht einmal auf, als ich den von Daron gewählten Decknahmen Meinhardt nannte. Ich hatte das zwar für reichlich übertrieben gehalten, nicht einmal meinen eigenen Nachnamen verwenden zu dürfen, aber das war einer dieser Punkte, in denen ich nicht argumentierte, sondern mich einfach fügte. Das wiederum war ein bedeutender Teil meiner persönlichen Weiterentwicklung, welche Daron ebenso wohlwollend zur Kenntnis nahm wie ich die seine.
„Versichertenkarte. Nehmen Sie derweil im Wartezimmer Platz, dritte Tür links. Sie werden trotz Termin warten müssen, es ist viel los.“
Noch immer hatte uns die pausbäckige Arzthelferin nicht eines einzigen Blickes gewürdigt, geschweige denn irgendeine Art der Höflichkeit uns gegenüber erkennen lassen. Nicht mal ein ‚Bitte’ war ihr über die Lippen gekommen. Ich war mir sicher, dass es sich hier um Karin handeln musste. Demnach zu urteilen, was ich von ihr hinter dem Tresen und mit Blick auf ihren gesenkten Kopf erkennen konnte, musste sie etwa Mitte 40 sein. Ich fragte mich, wie lange sie hier wohl schon in dem Kaff arbeitete und dabei seit Jahren stets die gleichen Dorffrauen von oben und eventuell auch unten zu Gesicht bekam? Bei der Vorstellung konnte ich mir ihren mangelnden Enthusiasmus ein ganz kleines bisschen erklären. Aber wirklich nur ein ganz, ganz kleines bisschen.
„Danke, sehr freundlich“, vernahm ich plötzlich Darons wundervoll tiefen Bass neben mir, welcher sich im Vergleich zu Karins kratzig-schrillem Organ wie eine Decke aus Samt an mein Ohr schmiegte. Offenbar wirkte seine Stimme auf Karin ebenso betörend wie auf mich, denn sofort hob sie ihren Blick und schaute gebannt wie ein hypnotisiertes Kaninchen in Darons freundliches, attraktives Gesicht. Mir fiel ein, dass die Ewigen durchaus die Fähigkeit besaßen, den Geist mancher Damen zu umnebeln, wenn sie denn keine Bewahrerinnen waren. Gleich, dachte ich mir, gleich klappt ihr die Kinnlade nach unten. Den Gefallen tat mir Karin zwar nicht – oh wie sehr hätte ich dann gelacht – doch musste sie sich zweimal räuspern, bevor sie plötzlich mit einer merklich tieferen Stimme meinte, wir sollten kurz warten, sie würde noch einmal schnell den Kalender kontrollieren. Mein bezaubernder Begleiter quittierte ihr schlagartig auftretendes Engagement mit einem noch bezaubernderen Lächeln, fast wie aus einer Zahnpastawerbung. Sofort lief Karin knallrot an und fegte vor lauter Verlegenheit einen Stifthalter vom Tresen. Während die Gute sich entschuldigend auf dem Boden nach den Kulis bückte, grinste mich Daron verschmitzt von der Seite an und deutete mit einer fast unmerklichen Handbewegung ein ‚Siehste, ich hab‘s eben drauf’ an. Da musste ich mir die Hand vor den Mund halten, um nicht loszuprusten. Wie sehr liebte ich diesen Kerl, sein stattliches Aussehen gepaart mit seinen nahezu perfekten Manieren, eine Kombination, die eine Frau heutzutage so vergeblich suchte wie die Prinzessin ihre Erbse unter Millionen von Matratzen. Hätte er sich nicht bedeckt halten müssen, hätte Darons Bild meiner Meinung nach gleich direkt neben dem von Knigge Platz finden müssen. Trotzdem er so viel Wert auf Etikette legte, schaffte er es mittlerweile, sich etwas moderner und dafür weniger old fashioned zu geben. Nicht nur die Knöllchennummer war neu; seit Brasilien trug Daron sein langes, schwarzes Haar viel öfter zu einem Pferdeschwanz gebunden als sonst. Seine Garderobe hatte er dem neuen Look angepasst, sodass er seine schwarzen Hosen im Schrank ließ und fast nur noch auf Jeans setzte. Mir persönlich gefiel der „neue“ Daron, und auch er hatte zugeben müssen, dass er sich wohl damit fühlte, als ich ihn einmal in Denim und mit nacktem Oberkörper wie ein Chippendale vor dem Spiegel posierend erwischt hatte. Es hatte einen ganzen Tag gedauert, bis ich bei dem bloßen Gedanken an dieses Happening nicht mehr laut loslachen musste. Er war so wunderbar, ein knallharter Beschützer auf der einen und ein liebenswert verspielter Junge auf der anderen Seite. Hätte ich diese Mischung portionsweise in Tütchen füllen und verkaufen können, alle Frauen auf der Welt hätten mir mit Geldscheinen wedelnd die Tür eingerannt.
„Verzeihen Sie, mein Fehler. Meine Kollegin hat da was nicht richtig ausradiert“, meldete sich Karin wieder sitzend von hinter dem Tresen. „Sie können sofort reingehen, Tür zwei. Ich sage dem Doktor schnell noch Bescheid.“ Sogleich griff sie nach dem Hörer, tippte zwei Tasten und kündigte uns an. Gehen Sie nur, formte sie mit ihren Lippen, während sie noch mit dem Arzt telefonierte, und wedelte uns mit ihrer freien Hand, dass wir ohne Weiteres in die Sprechstunde verschwinden konnten. Das taten wir dann auch und betraten nach einem kurzen Höflichkeitsklopfen das Sprechzimmer von Dr. Kringer.
Hätte ich aber gewusst, was auf uns zukam, wäre ich am liebsten umgekehrt und hätte den Tag für immer aus meinem Gedächtnis gestrichen.