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Kapitel 10
ОглавлениеAllmählich machte ich mir Gedanken darüber, dass mein Gehirn austrocknen könnte, so oft wie mir in der letzten Zeit der Mund offen stand. Der Konferenzraum im dritten Stock des kleinen Familienschlosses erwies sich als überraschend modern und freundlich eingerichtet. Das unebene, düstere Mauerwerk war komplett abgeschliffen und aufgehellt worden, sodass es zusammen mit den Chromstühlen und dem dazu passenden Tisch für eine geradezu einladende Atmosphäre sorgte. Als Daron mich ins Zimmer schob, spürte ich als Erstes den angenehm weichen Teppichboden unter meinen Schuhen. Sein warmes Schokoladenbraun gefiel mir sofort, und ich wippte ein paar Mal auf ihm auf und ab.
„Was machst du da?“, fragte Daron verwundert.
„Ihr habt Teppich.“
„Ja. Und?“ Daron konnte mir nicht ganz folgen.
„Im ganzen Schloss habe ich bisher keinen einzigen verlegten Teppichboden gefunden, nur harten Stein mit ein paar abgenutzten Persern oder was auch immer darüber. Ich habe deswegen ständig kalte Füße, egal, wohin ich in diesem Kasten gehe. Hier in diesem Zimmer wirkt auf einmal alles so neu und warm.“ Spontan schlüpfte ich aus meinen Sneakers, um die weichen Fasern noch intensiver unter meinen Sohlen zu spüren.
„Er wirkt nicht nur so, er ist tatsächlich warm.“
Verdutzt sah ich Daron und Alan an.
Letzterer konnte sich ein Grinsen nur mühsam verkneifen.
„Wenn du Geschäfte machst, ist es immer von Vorteil, wenn dein Gegenüber wohltemperierte Füße hat. Das steigert die Erfolgsquote ungemein.“
Darüber hatte ich bisher noch nie nachgedacht, doch leuchtete es mir ein.
„Dann nehme ich an, so mollig warm wie der Boden hier ist, wird das, was wir gleich besprechen, für mich nur schwer zu verdauen sein?“
Alans Grinsen geriet in Schieflage, während mir Daron – ganz Gentleman – einen Sitzplatz an der Seite des Tisches zuwies und sich anschließend neben mir niederließ. Mir fiel dabei meine Aufnahmezeremonie im Schlosskeller wieder ein. Ein düsterer Raum, erhellt durch zahlreiche Fackeln, mit jeweils vier imposanten Holzstühlen für die Söhne Luans zu beiden Seiten ausgestattet, während sich das Clanoberhaupt an deren Kopf auf einem derart imposanten Thron niedergelassen hatte, dass mir fast die Spucke weggeblieben wäre. Damals hatte sich Daron zusammen mit seinen Brüdern auf die kleineren Throne begeben und mich wortlos mitten im Raum stehen gelassen. Oder besser gesagt stehen lassen müssen. Dass er sich jetzt gleich neben mich setzte, signalisierte mir, dass ich diese Episode ausnahmsweise mal nicht alleine meistern musste. Als hätte er meine Gedanken erraten, nahm mein Liebster in diesem Moment meine Hand.
„Wir kriegen das hin. Ich hab‘s dir versprochen.“
„Ja“, seufzte ich und streichelte langsam mit meinem Daumen über seine blasse Haut, „ich werde dich beim Wort nehmen.“
Missmutig dachte ich dabei an die letzten Minuten in der Küche zurück.
Nachdem ich dort nämlich erneut gefährlich nah an den Ausbruch des Eyjafjallajökull herangekommen war, als mir klar wurde, was mir schon wieder alles nicht aus der wunderbaren Welt der übernatürlichen McÉags bekannt war, hatte mir Daron wiederholt die Hände auf die Schultern gelegt. Die Kraft, mit der er mich dabei auf dem Sitzplatz fixierte, hatte ich bisher nur selten bei ihm erlebt.
„Nein, Aline, du wirst jetzt nicht durchdrehen“, hatte er mich ruhig, aber eindringlich ermahnt und mich dabei mit seinen hypnotisierend grünen Augen geradezu eingelullt. „Ich weiß, was du jetzt wieder denkst, aber diesmal hat dir niemand etwas verheimlicht. Wir sind aufgrund der Geschehnisse der letzten Wochen nur nicht dazu gekommen, es dir zu erzählen. Du weißt doch, was wir ausgemacht hatten? Dass wir dich in den nächsten Monaten Schritt für Schritt in alles, was unsere Familie betrifft, einweihen werden?“
Fest hatte ich meine Lippen aufeinander gepresst und kurz widerstrebend genickt.
„Gut. Dann gibt es jetzt auch keinen Grund, auszuflippen ...“ Daron hatte umgehend bemerkt, wie unglücklich diese Wortwahl war, denn was das betraf, konnte ich ihm gleich eine ganze Reihe von Gründen aufzählen, die mich berechtigterweise hätten durchdrehen lassen können. „Also, was ich meine ist, dass dir nichts verschwiegen wurde. Ich wollte dir das alles erzählen. Jetzt ist es leider mal wieder anders gekommen als gedacht.“
„Ja“, hatte ich geseufzt angesichts Darons schlüssiger Logik, „so wie immer.“
Mein Kopf war auf einmal so leer und dabei doch so schwer, als wäre er mit Blei gefüllt. Einmal mehr fragte ich mich, wie viel ich noch zu ertragen in der Lage war. Ich wollte die Antwort darauf lieber gar nicht wissen.
Nachdem sich Daron sicher gewesen war, dass ich nicht ausrasten würde, hatte er Alan weggeschickt, um irgendetwas zu organisieren, während er selber mir erst mal ein dickes Erdnussbutterbrötchen geschmiert hatte. Nervennahrung, hatte er gesagt. Als ich es nicht hatte anrühren wollen, hatte er es in kleine Vierecke geschnitten und versucht, mich wie ein kleines Kind zu füttern. Zunächst hatte ich mich weiterhin gesträubt, denn mir war der Sinn eindeutig nicht nach Essen gestanden. Aber als Daron plötzlich begann, Motorengeräusche zu imitieren und die Brotstücke gleich kleiner Autos auf meinen Mund zutuckern zu lassen, hatte ich so lachen müssen, dass mein Widerstand sich verzog wie Frühnebel an einem sonnigen Herbsttag. Wenigstens die Hälfte der zerstückelten Brotscheibe konnte ich mit Mühe runterwürgen, denn mein Magen war wie zugeschnürt. Normalerweise liebte ich Erdnussbutter. Wenn ich mal keine wollte, dann war die Kacke so richtig am Dampfen. Das wiederum war der Grund dafür, dass sich Daron solche Mühe mit mir gab. In diesen Momenten blendete ich für wenige Sekunden alles um uns herum aus und sah nur uns beide. Ihn und mich, Seite an Seite, glücklich und tapfer zusammen in unbesiegbarer Liebe gegen all das, was da draußen noch auf uns lauerte. Tief hatte ich in seine gütigen Augen geblickt und mir vorgestellt, wie ich mich auf einem Bett aus frischem Moos unter dem dichten Blätterdach eines immergrünen Waldes eng an seinen Körper schmiegte, seine gestählte Form an meinem Rücken spürend, während seine kräftigen Arme mir Schutz und Stärke zugleich waren.
„Wie schlimm wird es werden?“
Der Ansatz einer Sorgenfalte hatte sich daraufhin auf Darons sonst so makelloser Stirn gebildet. Mit seiner mir so vertrauten Geste hatte er sich eine Strähne seines nachtschwarzen Haares hinters Ohr gestrichen, welche sich immer wieder hartnäckig aus seinem Pferdeschwanz löste. Diese Geste hatte mehr als alle Worte dieser Welt gesagt.
„Also so schlimm.“
„Nicht so schlimm, wie du vielleicht meinst“, hatte Daron gesagt und mir dabei sanft ein Erdnussstückchen aus dem Mundwinkel gestrichen. Keine Ahnung, wie das dahin gelangt war. „Es kommt jetzt einfach nur alles auf einmal. Das macht es zunächst heftiger, als wenn ich es dir häppchenweise über die nächsten Wochen verteilt hätte beibringen können.“
„Mag sein“, flüsterte ich, „rosig sind diese Aussichten dennoch nicht.“
Behutsam hatte Daron meine Hände genommen und sie sich hinter seinen Hals gelegt. Dann war er aufgestanden und hatte mich mit sich in die Senkrechte gezogen. Liebevoll und doch nachdrücklich hatte er seine Arme um mich geschlungen, seine Hand an meinen Hinterkopf gelegt und mir einen Kuss gegeben, der mir mit seiner Innigkeit und Sanftmut fast die Sinne benebelt hatte. Wie liebte ich es, seine weichen Lippen zu kosten, seiner fordernden Zunge zu folgen und in nur einem einzigen Kuss all das zu schmecken, was unsere Seelen für alle Zeiten miteinander verband.
„Wir schaffen das. Ich verspreche es dir. Es kommt nämlich nicht darauf an, ob es rosig ist oder nicht. Es kommt darauf an, was du daraus machst.“
Meine Lippen verzogen sich schmerzerfüllt.
„Aus welchem Abreißkalender hast du denn diese Weisheit geklaut?“
Eine Antwort hatte ich nicht erhalten. Stattdessen hatte mich Daron erneut so intensiv geküsst, dass für diesen Augenblick, und waren es auch nicht mehr als nur wenige Sekunden, mein Herz alles Leid aus seinem Umfeld verbannt und sich der Gegenwart hingegeben hatte.
In dieser Situation hatte uns Alan vorgefunden, doch anstatt einen seiner üblichen neckenden Sprüche vom Stapel zu lassen, hatte er höflich in der Tür gewartet. Lediglich als es ihm zu lang dauerte, hatte er mit einem Räuspern auf sich aufmerksam gemacht und uns mitgeteilt, dass alles vorbereitet sei.
Da saßen wir also nun, Daron, Alan und ich, und blickten stumm auf den riesigen Tisch, den man schon fast als Tafel bezeichnen konnte. Nervös krallte ich meine Zehen in den flauschigen Teppich. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Schuhe noch neben dem Eingang standen.
Typisch.
Just in dem Moment, als ich mich erheben und sie holen wollte, öffnete sich die Tür und Cayden betrat mit Bran den Raum. Allein dieser Umstand ließ mir bereits Ungutes schwanen, doch als nach den Männern auch drei Frauen erschienen, rollte mir erst recht eine Gänsehaut nach der anderen über meine Arme. Die erste war Laurin. Das hatte mich nicht sonderlich verwundert. Die zweite war mir völlig unbekannt, und wäre nicht Franziska als Letzte eingetreten, so hätte ich ihr sicher einen ausführlicheren Blick gewidmet. So aber machte mein Herz einen Satz und lief im Schweinsgalopp auf meine Freundin zu. Diese schien meine Reaktion bemerkt zu haben und schenkte mir ein überraschend trauriges Blinzeln sowie ein flüchtiges, schüchternes Lächeln, kaum merklich und so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Fast schien mir, als ob es unter einer unsichtbaren Last zerdrückt wurde. Mein Herz legte wie in einem Comic eine Vollbremsung hin und landete mit kräftigem Schwung auf der Nase. Auf einmal war alle Freude über das Wiedersehen dahin und machte Platz für ein flaues, leicht ätzendes Gefühl in meiner Körpermitte.
Ich wusste zwar, dass das hier jetzt kein Kinderspiel werden würde.
Aber wenn Franziska so derart niedergeschlagen dreinblickte, dann würde mir die kommende Offenbarung ganz sicher nicht gefallen.
Und daran konnte dann selbst der wärmste Teppich der Welt nichts ändern.