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Kapitel 12

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„Du musst verstehen, Aline, dass die Vorkommnisse der letzten Zeit für alle von uns eine Ausnahmesituation dargestellt haben.“

Alan hatte sich von seinem Platz erhoben und schritt nun hinter seinem Sitzplatz auf und ab. Dabei zwirbelte er sich wiederholt seine braunen Haarsträhnen um die Finger. Normalerweise trug Franzis Freund seine Frisur steil nach oben gegelt, doch mittlerweile waren seine Haare so lang, dass das übliche Styling nicht mehr ausreichte und die Strähnen sich an den Spitzen langsam nach unten bogen. Er war offenbar seit Langem nicht mehr zum Friseur gekommen. Wenn ich an die vergangenen Wochen dachte, konnte ich mir den Grund dafür sehr gut vorstellen. Ein Haarschnitt lässt sich eben schlecht zwischen Folter, Kidnapping und der Sorge um das Leben der Freundin einschieben. Da hatte man definitiv andere Prioritäten.

„Fakt ist, dass es Franziska, Laurin und Oona genauso gegangen ist wie dir. Sie wussten nicht, dass sie ebenfalls Bewahrerinnen sind. Sie haben davon erst erfahren, als du schwanger geworden bist.“

Im Stillen zählte ich die Wochen rückwärts und schauderte, als ich an den Zeitpunkt der Empfängnis angelangt war. An Maels gewaltsamen Ritt auf mir zur Rettung meines geliebten Riesen.

Darons Leben oder meine Reinheit.

Ich hatte mich für sein Leben entschieden.

Wenn ich jetzt daran dachte, schien es mir, als hätte ich damit trotz meiner guten Absichten ein derartiges Schlamassel in Gang gesetzt, das bis heute unaufhörlich in unsere Richtung rollte und mit jeder weiteren Drehung größer und zerstörerischer wurde. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis wir endgültig zermalmt wurden.

„Das ist aber schon eine ganze Weile her. Darf ich fragen, wieso ich erst jetzt davon erfahre und nicht schon früher?“

„Aline, überleg mal“, antwortete Franziska und rückte ihre Brille zurecht, „als wir von unserem Los erfuhren, da wusstest du selber noch gar nicht, dass du schwanger warst. Wir konnten es dir vorher gar nicht sagen. Als du es dann selber herausgefunden hast, hatten wir genug damit zu tun, Maels und Gefions Plan zu überleben. Danach waren Daron und du im Urlaub. Viel früher hätten wir es dir also gar nicht sagen können.“

„Moment mal. Das heißt ja dann im Umkehrschluss, dass du als meine Freundin von meiner Schwangerschaft schon wusstest, als wir zu viert oben im Zimmer über Phelans Traumwandlung beratschlagt haben.“ So langsam wurde mir klar, weshalb Franzi damals einen Schwangerschaftstest in der Tasche gehabt hatte. Ich hatte ihr bis heute nicht wirklich abgekauft, dass es ihr eigener gewesen war.

„Zugegeben, das stimmt. Es tut mir auch sehr leid, dass ich da schwindeln musste. Es war keine böse Absicht Aline, es war eine Notwendigkeit. Du hattest in dem Moment schon genug, womit du klarkommen musstest. Da hätte es wenig Sinn gemacht, dich auch noch mit unserem Pakt zu belasten.“

Jetzt wurde es allmählich richtig interessant.

„Ich verstehe und nehme die Entschuldigung an. Aber dafür will ich endlich wissen, was es mit diesem ominösen Pakt auf sich hat, der ständig erwähnt wird.“

Und da erinnerte ich mich.

Ich war wieder in Gefions Höhle, an dem Zeitpunkt, als ich ihr mit an Verzweiflung grenzendem Mut entgegengetreten war und von ihr die ungeschönte Grausamkeit ihres Plans erfuhr. Sie hatte damals ebenfalls von einem Pakt gesprochen ... einem Pakt der Hüterinnen des Zugangs ... und davon, dass sie Phelans endlose Wiedergeburt veranlasst hatten.

„Die Hüterinnen des Zugangs ...“, flüsterte ich.

„Das ist die offizielle Bezeichnung aus den Geschichtsbüchern. Mit der Zeit hat sich das einfach nur zu Bewahrerinnen abgekürzt. Weil sie eben genau das sind, Bewahrerinnen.“ Cayden verzog keine Miene und blickte mich aus seinen silbrigen Augen intensiv an. Er dachte wohl, damit sei alles erklärt.

Falsch gedacht.

Mein Hirn ratterte wie eine alte Dampflok kurz vorm Überhitzen.

„Phelan war Gefions Zugang“, überlegte ich laut. „Das habe ich damals erkennen müssen. Ich erinnere mich auch noch an einige Gedankenfetzen zu diesem Thema, aber dann kam es zum Kampf, und ...“

Da dämmerte es mir. Hilfesuchend sah ich Daron an.

„Seine Seele war der Zugang. Irgendwas ist mit euren Seelen, habe ich recht?“

Daron wurde unter seiner sonst schon hellen Haut noch blasser als ohnehin schon.

„Dann weißt du bereits doch mehr, als wir vermutet hatten.“

Nervös strich sich mein sanfter Riese gleich zweimal die eine widerspenstige Strähne hinters Ohr.

Ich kannte diese Geste so verdammt gut.

Und dann gleich zweimal hintereinander.

Das was jetzt kam, hatte sicher die zerstörerische Kraft von fünf Atombomben.

Mindestens.

„Seit Anbeginn der Zeit, allen Seins und Nichtseins, ist es die Aufgabe einer bestimmten Gruppe von Bewahrerinnen, der Erhabenen die Seelen für ihre Kinder zu bringen, die jene für sich ausgesucht hat.“

Mein Gehirn war wie schockgefroren. So sehr ich mich auch bemühte, den Inhalt des Gesagten zu begreifen, es gelang mir einfach nicht. Irgendetwas hielt mich zurück und versuchte, mir noch ein wenig mehr Verschnaufpause zu gönnen, bevor mich das Grauen in seiner ganzen Farbenpracht überrollte. Bran missdeutete mein Schweigen allerdings als Verständnis, und fuhr stellvertretend weiter fort.

„Diese Gruppe bezeichnen wir umgangssprachlich als Pakt, den Pakt der Bewahrerinnen. Wir wissen nicht genau, wie er zustande kam, es ist uns hierzu leider nichts Konkretes übermittelt. Fest steht jedoch, dass diejenigen Bewahrerinnen zu diesem Pakt gehören, welche zum Zeitpunkt der beginnenden Schwangerschaft der Erhabenen ebenfalls mit einem Ewigen fest verbunden sind.“

„Das wären somit Franziska, Oona und ich“, ergänzte Laurin.

Kopfschmerzen meldeten sich bereits drohend hinter meiner Stirn wie ein heraufziehendes Sommergewitter. Mir wurde das alles gerade zu viel.

„Pause“, schnaufte ich und rubbelte mir wie wild über meine Augen. Ich wollte, nein ich musste Sternchen tanzen sehen. Ansonsten wäre ich auf der Stelle ausgeflippt.

„Wollt ihr damit sagen, dass Kian und Lior nicht hier sind, weil sie nicht fest vergeben sind?“

Statt einer Antwort erhielt ich nur irritierte Blicke. Offenbar hatte man eine andere Reaktion meinerseits erwartet. Da ich aber kurz vorm Zusammenbruch stand, schien es mir hilfreich, mit einer richtig simplen Frage zu beginnen. Die harten Nüsse hatte ich später so oder so noch zu knacken.

„Ja ... auch ...“, antwortete Alan zögerlich.

„Und da Kian Mael in sich trägt und Phelan nicht mehr bei uns ist, sind wir hier somit die Einzigen, die das alles direkt betrifft?“

Erneut bejahte Alan sehr vorsichtig. Er wusste nicht, was demnächst von mir kommen würde, und versuchte wohl, vorsorglich so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten.

Ich war allerdings zu sehr geplättet, als dass ich irgendwen hätte angreifen können.

Als ich nichts weiter sagte, drückte Daron meine Hand, sodass er all meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Er schluckte einmal schwer, dann sah er mir direkt in die Augen.

„Was wir dir erklären wollen, ist, dass Franziska, Laurin und Oona deine Helferinnen sind.“

Eine heisere Stimme, die ich kaum mehr als die meine erkannte, löste sich aus meiner Kehle.

„Helferinnen wobei?“

„Mit dir zusammen die Kinder auszuwählen, deren Seelen später als neue Ewige wieder geboren werden sollen.“

„Wieder ... geboren ...?“

Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde brach das Schloss meines geistigen Schutzsystems, und mein Gehirn ergab sich der Wucht der Informationen, welche wie eine Sturmflut über seine malträtierte Oberfläche raste.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in die Runde und bedachte jeden mit einem Blick, der Franziska eine solche Gänsehaut verpasste, dass sie sich umgehend die Arme rieb. Aber vielleicht war es auch gar nicht mein Blick, der sie frösteln ließ. Vielleicht war es eher die Abscheu vor dem, was in den letzten Minuten so neutral als ‚Aufgabe’ betitelt worden war.

„Soll das etwa bedeuten, dass ich mir irgendwelche Kinder auf Spielplätzen rauspicke wie reife Früchte und dann deren vorzeitiges Ableben bestimme?!“

Ich musste husten, so trocken war inzwischen meine Kehle und so zugeschnürt vor Entsetzen über den Abgrund, der sich hier gerade vor mir auftat.

Keiner antwortete.

Fassungslos schaute ich erneut zu Daron.

„Soll das heißen, ich nehme Eltern ihre Kinder weg und stürze damit ganze Familien ins Unglück?“

„Nein, tust du nicht. Du bestellst nur ihre Seelen für deinen Nachwuchs. Die Drecksarbeit dürfen dann wir für dich machen.“

Schlagartig drehten sich alle Köpfe Richtung Eingang.

Von uns allen unbemerkt lehnte Oona betont unbeteiligt im Türrahmen. Fast gelangweilt betrachtete sie ihren roten Nagellack, so als sei er viel interessanter als das, was hier gerade eben auf den Tisch gekommen war.

„Oona“, fauchte Bran und wies seine gehässige Freundin an, sich umgehend neben ihn zu setzen. Die jedoch dachte gar nicht daran.

„Aber falls du es immer noch nicht verstanden hast, kann ich es dir auch gern in eine Sprache übersetzen, die du verstehst.“ Überheblich stolzierte die dunkelhaarige Schlange an den Tisch und stützte sich genau mir gegenüber mit den Händen auf der Tischplatte ab. Ihre Augen funkelten wie die einer Wildkatze, kurz bevor sie zum Sprung auf ihre Beute ansetzte.

„Du bist der Auftraggeber. Und wir sind deine Profikiller.“

Ich sprang auf und lief zum Ficus, der in einer der Ecken als dekoratives Element dienen sollte. Mit einer Wucht, so stark wie mein Ekel vor dem soeben Erfahrenen, stülpte sich mein Magen um und ergoss das vorhin verdrückte Erdnussbrötchen mit einem unaufhaltsamen Schwall in die Hydrokultur. Seit meiner Schwangerschaft war mein Magen noch empfindlicher als ohnehin schon. Das gerade Gehörte hatte ihm den endgültigen Rest gegeben.

Als ich fertig war mit Würgen, schlossen sich sanfte Hände um meine Schultern und gaben mir Halt. Mit vor Tränen verschwommenem Blick betrachtete ich die arme Grünpflanze.

Der sensible Ficus würde diesen fiesen Magensäure-Anschlag garantiert nicht überleben.

In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich könnte es ihm einfach gleichtun.

Entfesselt

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