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Kapitel 6
ОглавлениеNach diesem ausgesprochenen Gedanken hatte Daron nicht lange gefackelt, sondern mich entschlossen auf seine starken Arme gehoben, zurück zum Auto getragen und wie ein zitterndes, kleines Hündchen auf dem Beifahrersitz festgezurrt. Offenbar hatte er Angst gehabt, was ich in meiner Situation noch alles laut ausposaunte und dadurch unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns zog. Ehrlich gesagt, ich war in diesem Moment wirklich nicht mehr Herr über mein Gehirn geschweige denn meinen Mund gewesen. Ein älteres Ehepaar hatte noch gefragt, ob sie uns helfen konnten, als Daron mich kurz an den Geländewagen gelehnt hatte. Mein Gefährte hatte versucht, sie mit einem kurzen „Nein danke, ihr ist etwas schwindelig“ abzuwimmeln. Doch wie es so ist in kleinen Käffern, Neugier und Misstrauen gegenüber Fremden wurden so sorgsam gepflegt wie die Geranien am heimischen Balkon. Als das Paar immer noch nicht weitergehen wollte, sah sich Daron genötigt, mehr Information preiszugeben, als den Rentnern eigentlich zugestanden hätte. Aber worauf wir noch weniger Lust gehabt hatten als auf zwei neugierige Alte war eine Begegnung mit der Polizei, falls die beiden annahmen, ich würde soeben entführt.
„Sie ist schwanger“, hatte Daron hastig angefügt und mich derweil in den Wagen gestopft. Sofort war die Stimmung des Paares von misstrauisch auf begeistert umgeschwungen, und nur mit merklicher Anstrengung war es Daron gelungen, die freudigen Glückwünsche anzunehmen. Auch ich hatte ein kurzes „Danke“ gemurmelt und war dann wieder in meinen geistigen Nebel des Grauens abgetaucht. Nur kurz darauf war mein sonst so sanfter Riese entnervt hinter das Lenkrad gesprungen und hatte uns mit mehr Schwung als eigentlich notwendig aus dem Parkplatz und kurz darauf zurück auf die Landstraße befördert.
„Entschuldige, ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte“, hatte er sich mit einem lauten Seufzer an mich gewandt und dabei meine Hand gedrückt.
„Schon gut“, hatte ich genuschelt und mir gleichzeitig gedacht, wie unfassbar das alles war. Soeben war es noch die Wahrheit gewesen. Jetzt nichts weiter als eine einzige, vor Verrat und Verzweiflung triefende Lüge.
„Ich hoffe, ich habe sie nicht zu unfreundlich abgespeist. Sie hatten gerade angefangen, nach Fotos von ihren Enkelkindern zu kramen. Da ist mir dann fast die Beherrschung abhandengekommen, und ich habe nur noch geschaut, dass wir da wegkommen.“
„Schon gut“, hatte ich mich wiederholt, denn mehr Vokabular war aktuell nicht mehr auf meiner Festplatte gespeichert. Was hätte ich auch sonst sagen sollen?
Die Fahrt zurück zum Schloss schien Daron entgegen seiner sonst so ruhigen Natur mit dem Bleifuß zurückzulegen. Nach unserem Ausstieg hatten wir uns vor dem Haupteingang so fest umarmt, als sei soeben unsere Welt komplett zerbrochen.
Zumindest ein Stück, das fehlte bereits.
Ich hatte mich in dem Moment ernsthaft gefragt, wie oft solche Sachen noch geschehen mussten, bis sie gänzlich in abertausend kleinen Scherben lag. Tief hatte ich Darons unverwechselbaren Duft nach tiefgrünem Wald und feuchter Erde nach einem Morgenschauer eingeatmet, hatte mich an seine Brust geschmiegt und einfach nur lautlos meine Tränen laufen lassen. Dabei hatte ich bemerkt, wie ein leichter Schauer durch Darons stattlichen Körper lief, und als ich zu ihm durch den Schleier meiner Tränen aufblickte, sah ich, dass er damit zu kämpfen hatte, nicht auch zu weinen. Er musste nichts sagen, damit ich wusste, was ihn bewegte. Ich wusste es schon längst, aber war nicht in der Lage, die richtigen Worte dafür zu finden.
Nach einer gefühlten Unendlichkeit hatte ich mich aus seinen Armen gelöst und um etwas Zeit für mich gebeten. Ich hatte nicht unhöflich sein wollen, weil ich wusste, dass Daron die ganze Sache ebenso sehr mitgenommen hatte wie mich, aber ich brauchte jetzt dringend Freiraum und Ruhe, um alle meine Gedanken zu ordnen. Nachdem mir Daron das Versprechen abnahm, keinen Blödsinn anzustellen – als ob ich schon jemals irgendetwas Dummes getan hätte – zog ich mich zurück an einen Ort, der mir mehr als jeder andere Grauen und Erlösung zugleich war.
Da saß ich nun auf dem Boden der Bibliothek vor dem prasselnden Kaminfeuer, die Arme fest um die Knie geschlungen, und ließ mir meine innere Kälte von den tanzenden Flammen vertreiben. Das Knistern und Knacken des Holzes erinnerte mich daran, wie Daron und ich unser erstes Date bei ihm im Penthouse mit einer Schlemmerorgie par excellence verbracht hatten und wie der Nachtisch ungeplant heißer und zugleich süßer als jeder flambierte Crêpe der Welt ausfiel. Automatisch musste ich lächeln bei dieser schönen Erinnerung und genoss in Gedanken erneut die Spannung des Geschehenen, schmeckte abermals salzige Haut und wilde Lust ... bis mein Gehirn unerlaubterweise einen flinken Haken schlug wie ein verwundeter Hase auf der Flucht und mir all die Szenen wieder ins Gedächtnis rief, welche jenes wunderbare Rendezvous zu dem Tag wandelten, ab dem nichts mehr in meinem Leben so war wie bisher. Zwar hatten die Erinnerungen, welche ich geschätzt mehrere tausend Mal geistig abgespult hatte, in der Zwischenzeit ein wenig an Schrecken verloren, doch besaßen sie immer noch genug Intensität, um mir die ein oder andere Gänsehaut zu verpassen.
Ich öffnete meine Augen, von denen ich gar nicht bemerkt hatte, dass ich sie geschlossen hatte, und blickte unbewusst auf die Stelle gleich neben dem Kamin, an der der schrecklich entstellte Phelan von dem verwandelten Mael mit aller Wucht an die Wand geschleudert worden war. Die private Putzkolonne der McÉags hatte mit sämtlichen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, das ganze Blut und alle anderen Körperflüssigkeiten, Hautfetzen und Fleischbrocken von den Steinquadern und dem alten Fußboden zu entfernen, doch war sie an der Hartnäckigkeit der übermenschlichen Absonderungen kläglich gescheitert. Luan, der Vater der Achtlinge, von seinem eigenen, wahnsinnigen Sohn grausam gefoltert und verstümmelt, hatte mich hierzu vor Kurzem zu sich rufen lassen. Wie groß war meine Angst gewesen, den einst so stattlichen Ewigen, von dem Daron den Großteil seiner hinreißenden Optik geerbt hatte, nach dem Geschehenen wieder zu sehen. Als ich ihn zusammen mit Cayden neben Daron, Alan und der ebenfalls schwer verletzten Franziska in einer der zahllosen Verzweigungen von Gefions Höhle gefunden hatte, war von dem sonst so imposanten Hünen nicht viel mehr übrig gewesen als ein blutverkrusteter Haufen. Trotz seiner Verwundungen hatte er den letzten Rest Kraft aufgebracht, mir per Gedankenübertragung die Information zu geben, mit deren Hilfe ich Gefions Verbannung aus dieser Welt letztlich entschlüsseln konnte.
Als ich zusammen mit Daron erneut den Thronsaal im tiefsten Herzen des Schlosses betreten hatte, war ich deutlich nervöser gewesen als beim ersten Mal, damals, als ich dort meine Einführung in die Familie erhalten sollte, welche für mich persönlich in ein Riesenfiasko gemündet hatte. Bibbernd hatte ich die schwere Tür geöffnet und einmal tief ausgeatmet, als Luans Anblick fast wieder dem vor Gefions und Maels Anschlag glich. Erfreut, uns zu sehen, hatte er uns an den Drachenthron gewunken und mich sofort in seine Arme gezogen, gerade als ich formell zu einem Knicks hatte ansetzen wollen.
„Danke“, war Luans tiefer Bass in meinem Kopf erklungen wie das weiche Versprechen einer tiefschwarzen Samtdecke, während er mir seine unversehrte Hand an die Wange gelegt hatte. Kribbelnde, wohlige Wärme hatte von dieser Stelle aus meinen ganzen Körper durchflutet und mir damit mehr mitgeteilt, als es Worte jemals hätten fassen können. Später hatte mir Darons Vater neben seiner Dankbarkeit unter anderem auch mitgeteilt, dass ich bei meinem ersten Betreten der Bibliothek nicht erschrecken sollte. Das Blut des Kampfes hätte sich so sehr in Wand und Boden gefressen, dass es mit normalen Mitteln nicht mehr zu entfernen sei. Eine Intensivbehandlung mit Chlor und anderem Chemiekram hatte Luan dennoch strikt abgelehnt, da dieses Bemühen nicht nur sinnlos gewesen wäre, sondern obendrein auch noch das uralte Gestein angegriffen hätte.
Nun saß ich vor dem Kamin und blickte auf die Wand, an die Mael den armen Phelan geschleudert hatte, welcher mich mit seinem selbstlosen Einsatz vor einer erneuten Entführung durch seinen wahnsinnigen Bruder hatte retten wollen. Eine dunkle Spur verlief von einem großen Fleck abwärts auf den Boden und verlor sich dort unter einem relativ neu wirkenden, riesigen Teppich, der so gar nicht zu diesem erhabenen und altehrwürdigen Ort passen wollte. Ich wusste, dort unter den gewobenen Fasern befand sich noch mehr von dem, was an der Wand nicht verdeckt werden konnte.
Ich straffte meine Schultern und versuchte, das soeben Erfahrene und das, was es bedeutete, der Reihenfolge nach zu verarbeiten.
Ich war nicht schwanger.
Nicht mehr.
Wie ich es drehte und wendete, ich kam nur zu einer Schlussfolgerung. Gefion, eine der ersten Bewahrerinnen und das intriganteste Miststück, das mir jemals untergekommen war, musste gewusst haben, dass der Tod Phelans als ihr Anker in dieser Welt ebenso das Ende des kleinen Lebens bedeute, das sich in meinem Uterus zu bilden begonnen hatte. Sicher war sie davon ausgegangen, dass wir dies ebenfalls wussten, und hatte darauf spekuliert, dass ich, die ich von Anfang an mit allen Mitteln für die Existenz des Kindes gekämpft hatte, aus diesem Grund niemals wagen würde, ihren Halt in dieser Welt zu vernichten. Ihre Rechnung war aber nicht aufgegangen. Auch wenn man mir eventuell zugestehen musste, dass sowohl mir als auch Phelan dieser nicht gerade unerhebliche Aspekt komplett durch die Lappen gegangen war, so änderte das unterm Strich nichts daran, dass Gefion zwar für immer geschlagen war, dieser Sieg aber mit einem Preis einherging, der mir im Nachhinein so schrecklich sinnlos und grauenvoll vorkam.
Phelan und seine Tochter waren gegangen.
Und ich war diejenige, die all das verschuldet hatte.
Für den Wolfsäugigen, der in seiner menschlichen Hülle mit seinen gelben Bernsteinen und den wilden, rotbraunen Locken ebenso schön war wie abschreckend entstellt, nachdem ich seinen Dämon angerufen und seine Transformation erzwungen hatte, war sein Abschied aus dieser Welt eine gewollte Erlösung gewesen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass Phelan, auch wenn sein Ableben Gefion nicht aufgehalten hätte, irgendwann trotzdem diesen Weg für sich gewählt hätte, an einem anderen Tag, in einer anderen Situation ...
Die Worte „Tod“ und „sterben“ bereiteten mir inzwischen massive Bauchschmerzen im Zusammenhang mit den Ewigen, denn der Tod selber konnte nicht sterben. Daron hatte mir versichert, dass es für mich absolut in Ordnung sei, diese Begriff zu verwenden, da es im menschlichen Sprachgebrauch nun einmal schwierig sei, den tatsächlichen Sachverhalt des Übergangs in die Anderswelt kurz und prägnant zu betiteln. Dennoch überkam mich jedes Mal bei deren Verwendung ziemliches Unwohlsein. Selbst wenn ich Darons Bruder von meinem gedanklichen Schuldschein strich, so musste ich mir ankreiden, trotz aller Bemühungen um das Leben meiner kleinen Tochter – Phelans Tochter – grandios versagt zu haben. Ihr Leben hatte geendet, bevor es überhaupt hatte beginnen können. Egal, wie sehr mir in Zukunft Daron und alle anderen beteuern würden, dass dem nicht so war, es änderte nichts am Sachverhalt.
Das Kind war tot.
Und ich war seine Mörderin.
Wie betäubt von dieser Erkenntnis stand ich auf und zog den schweren Teppich mit aller Kraft ein Stück zur Seite. Luan hatte nicht untertrieben. Man sah genau, wie die Putztruppe des Clans all ihren Schweiß darauf verwendet haben musste, die Unmengen übernatürlichen Blutes aus dem steinernen Boden zu schrubben. Die Lache war zwar um Einiges heller als sie wohl anfangs gewesen war, doch täuschte sie nicht über das grauenvolle Ausmaß und die unsägliche Brutalität des Spektakels hinweg, das sich letztendlich nur meinetwegen abgespielt hatte. Vorsichtig kniete ich mich hin und berührte beinahe ängstlich, so als wäre er noch feucht, den riesigen Fleck vergangenen Seins. Das Blut zweier Brüder hatte sich in den kleinsten Ritzen des Bodens für alle Zeit ein Denkmal des Grauens geschaffen. So sehr sie sich an dieser Stelle bis aufs Äußerste bekämpft hatten, so hatte sich ihrer beider Lebenssaft schlussendlich doch vereint. Was ich berührte und mit beinahe liebevoller Hingabe streichelte, waren nicht nur die letzten Erinnerungen an Phelan, sondern auch eine Warnung an mich, nicht zu vergessen, dass Maels Körper zwar zerstört, sein Geist aber weiterhin lebendig war. Ein eisiger Schauer durchlief mich bei diesem Gedanken. Mir war bewusst, dass ich mich in naher Zukunft persönlich davon überzeugen musste, dass Kian seiner Aufgabe gewachsen war und Maels wahnsinnigen Geist in seinem Zwillingskörper sicher verwahrt hielt. Erneut wanderte mein Blick über die vor mir liegenden Steinquader und meine Hand, welche ich gedankenversunken immer weiter über jede einzelne Furche wandern ließ.
„Das habe ich alles nicht gewollt. Ich wünschte so sehr, du wärst hier und könntest mir verzeihen.“
Ich wusste zwar, dass das eigentlich unnötig war, denn Phelan hatte mir meine Tat schon vor seinem Gang in die Anderswelt vergeben ... nun aber zweifelte ich daran, dass er mir tatsächlich jemals vergeben hätte, wenn er gewusst hätte, dass ich damit sein einziges Vermächtnis – seine Tochter – vernichtete.
„Es gibt nichts zu verzeihen. Deine Tat war die einer wahrhaften Bewahrerin, mutig und entschlossen in dem Glauben, alles für diejenigen zu wagen, die sie liebt.“
Mein Herz platzte gefühlt aus meinem Brustkorb und rollte wie ein triefender Kreisel über den sowieso schon blutgetränkten Boden. Keuchend und vor Schreck auf meinen vier Buchstaben gelandet blickte ich mit Augen so groß wie die alten McÉag´schen Suppenteller in die Richtung, aus welcher die eindeutig weibliche Stimme gekommen war.
Neben einem Regal voller antiker Bücher zum Thema der griechischen Mythologie lehnte wie ein Hauch aus feenhaftem Nebelzauber und atemberaubender Anmut eine derart betörend schöne Frau, dass ich fast meinte, sie sei einem meiner früheren Märchenbücher entsprungen. Ihre glatten, blonden Haare fielen wie ein Wasserfall aus feinster Seide über ihre Schultern und umrahmten neben einer zerbrechlich wirkenden Silhouette ein Gesicht so schmal und filigran wie das einer kostbaren Porzellanfigur. Riesige, rehbraune Augen musterten mich mit einer tiefen Weisheit, die ich fast bis in meine Seele vordringen zu spüren meinte.
„Wer bist du?“
Sehr kreativ, ich weiß, aber in dieser Sekunde fiel mir einfach nichts Besseres ein.
Einladend streckte mir die fremde Schönheit eine Hand entgegen und schenkte mir ein Lächeln, das Eis umgehend wie von Sonnenstrahlen schmelzen lassen konnte.
„Eine Bewahrerin, genau wie du. Mein Name ist Laurin.“