Читать книгу Das Erbe von Samara und New York - Erik Eriksson - Страница 14

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Die Brände kommen näher

Oscars Vater Johan Peterson war ein schwedischer Schiffsmaschinist gewesen. Er stammte aus Schonen, war mehrere Jahre auf Dampfschiffen zur See gefahren, war in Odessa in Südrussland an Land gegangen. Johan war ins Landesinnere gefahren, hatte Emilie Goldbach aus Astrachan, der großen Stadt im Wolgadelta am Kaspischen Meer kennengelernt.

Sie hatten geheiratet und sich in Sarajewo siebenhundert Kilometer flussaufwärts niedergelassen. Johan Peterson arbeitete weiterhin auf Dampfschiffen. Er wurde Maschinenaufseher auf einem Wolgaschiff, dessen Kapitän Däne war. Wenn das Schiff vertäut war, tranken sie zusammen Wodka. In einer kalten Winternacht rutschte Johan am Kai aus, fiel ins Wasser, zog sich eine Lungenentzündung zu und starb nach zwei Wochen.

Oscar war drei Jahre alt gewesen, als er seinen Vater verloren hatte. In der Familie gab es vier Schwestern. Anna war die Älteste. Sie kümmerte sich um Oscar, wurde wie eine Mutter für ihn, wenn Emilie es nicht schaffte.

Anna wurde Oscars Haushälterin, seine Gehilfin, die große Stütze seines Lebens. Sie wachte über ihn, ließ ihn bestimmen, fällte jedoch auch oft Entscheidungen, ohne ihn vorher zu fragen, sie wusste ja, wie er es haben wollte.

Als Oscar Alvine heiratete, wurde Anna ängstlich. Würde Oscar sie im Stich lassen? Nein, er versprach, Anna mitzunehmen. Sie durfte in das Haus einziehen, das er gekauft hatte. Sie betätigte sich weiterhin als seine persönliche Haushälterin. Anna bügelte Oscars Hemden und Kragen, sie bereitete ihm das Frühstück, brachte ihm warmes Waschwasser, packte seinen Koffer, wenn er verreisen musste. Sie blieb immer auf und wartete auf ihn, wenn er von den Abenden in seinem Herrenclub in Samara spät nach Hause kam.

Alvine ließ es geschehen. Sie hatte keine Wahl. Anna und Oscar hatten so viel gemeinsam, ein Urbild alter Abhängigkeiten. Oscar und Alvine waren miteinander verheiratet, aber Anna hatte das Sagen im Hause, sie kommandierte die Dienerschaft, beriet mit Oscar über wirtschaftliche Angelegenheiten, hatte sein Vertrauen.

Oscar ließ seine Schwester nicht im Stich, noch nicht.

Das Haus lag ein Stück vom Fluss entfernt, im nördlichen Außenbezirk von Samara, in der Nähe einer kleinen blauweißen orthodoxen Kirche. Es war eine schöne Gegend, schattig im Sommer, nicht allzu lehmig, wenn im Herbst der Regen fiel, im Frühling dufteten die Lilien.

Aber das Haus war alt. Es war solide gebaut, hielt im Winter die Wärme, aber es hatte kein fließendes Wasser, die Mägde mussten Wasser mit Eimern vom Brunnen auf dem Hof holen. Alvine hatte in ihrem Elternhaus alle Annehmlichkeiten der modernen Technik der damaligen Zeit gehabt. Sie und ihre Schwestern hatten ein eigenes Dienstmädchen zur Verfügung, die Familie hatte eigene Kutscher, die auch für die Kinder den Wagen vorfuhren.

Jetzt war Alvine gezwungen, sich selbst um ihre Kleidung zu kümmern. Sie bekam zwar die Mahlzeiten hingestellt, aber sie musste sich selbst bedienen. Wenn sie in die Stadt fahren wollte, mussten Pferd und Wagen bestellt werden.

Im Spätwinter 1900 gebar Alvine ihr erstes Kind, es war ein Mädchen, das Erika genannt wurde.

Die Kleine schlief zunächst eine Zeitlang in einem Kinderbettchen neben Alvine. Anna stand immer zur Verfügung, sie nahm Erika auf, wenn Alvine darum bat, ließ das Kind eine Weile neben seiner Mutter liegen, legte es recht bald wieder zurück in das Bettchen. Anna wechselte die Windeln, wusch, brachte Erika in ein anderes Zimmer, wenn Alvine sich ausruhen wollte.

Nach einem Monat war es soweit, dass Anna bestimmte, wie Erika versorgt werden sollte. Nach vier Monaten schlief das Kind nicht länger bei seiner Mutter. Als Erika ein Jahr alt war, aß sie zusammen mit Anna und der Dienerschaft in der Küche. Die jungen Eltern bekamen ihre Mahlzeiten oben in dem kleinen Speisezimmer neben dem Schlafzimmer serviert.

Oscar und seine junge Frau waren der Auffassung, dass es so am besten sei. Alvine wurde beim Essen nicht durch Kindergeschrei gestört, Oscar musste nach einem langen Arbeitstag nicht nach Hause kommen zu übelriechenden Windeln.

Er hatte einen Laden eröffnet, er verkaufte Küchengeräte, meist aus Deutschland importierte Waren. Oscar hatte Alvines Mitgift in den Laden gesteckt, er selbst hatte kein Geld gehabt. Das Geschäft lief jedoch gut, er hatte zwei Angestellte, selbst würde er es bald etwas ruhiger angehen können, vielleicht etwas häufiger zuhause sein können. Das würde Alvine doch wohl gefallen?

Das tat es sicher, ja, natürlich.

Er könne morgens länger im Bett bleiben, das wolle sie wohl gerne?

Sie antwortete ausweichend. Oscar nahm an, dass sie dasselbe wie er wollte, dass sie nur zu schüchtern sei, ihm zu antworten.

Alvine gebar noch ein Mädchen, das Dagmar genannt wurde. Jetzt wusste Anna, was von ihr erwartet wurde. Schon nach zwei Monaten wurde das Kind von seiner Mutter getrennt.

Im Sommer 1904 wurde Alvine zum dritten Mal schwanger.

Die Kälte war um Neujahr herum sehr schneidend. Das Wasser der Wolga war gefroren, die Rauchsäulen aus den tausenden von Schornsteinen in Samara stiegen kerzengerade hinauf in die stillstehende Luft, sie vereinigten sich über der Stadt zu einem weißen Schleier. Das Mondlicht war gedämpft, alles stand still, in der Neujahrsnacht zeigte das Thermometer minus neununddreißig Grad.

Alvine war im siebten Monat. Sie war umfangreicher als die vorigen Male, bewegte sich weniger. Sie las Romane, blieb im Bett liegen. Die Hebamme, die nach ihr sah, bat sie aufzustehen, es sei für das Kind besser, wenn sich die Mutter etwas mehr bewege, auch sei es gut für die Mutter.

Widerwillig stand Alvine auf und zog sich an. Die Hebamme ließ absichtlich eine Dose mit Knöpfen auf den Boden fallen, schlug vor, dass Alvine sie als ein kleines Training aufsammeln sollte. Als Alvine sich weigerte, änderte die Hebamme ihre Taktik, fand, dass sie gemeinsam die Knöpfe auflesen sollten.

Alvine ließ sie liegen. Sie stellte sich ans Fenster, die Scheibe war von Frostblumen überzogen, sie konnte nicht hinaussehen. Sie überlegte, was sie am Neujahrstag anziehen sollte, wenn sie, Oscar und die Kinder zu Alvines Eltern zum Essen fahren würden.

Am ersten Tag des Jahres war es nicht ganz so kalt. Die Leute gingen ohne einen Wollschal vor dem Gesicht nach draußen.

Der Schlitten holte sie um ein Uhr ab. Es war ein überdachter Schlitten, sie saßen in Decken eingewickelt, Oscar hielt seinen Arm um Erika, die kleine Dagmar saß neben Alvine.

Die beiden Pferde hatten Schellen um den Hals. Sie zogen den Schlitten langsam auf dem Weg an der Kirche vorbei, hinauf bis zur Salzsiederei, über das Feld, auf dem der verharschte Schnee in kleinen harten Wehen lag, die Kufen knarrten auf dem verkrusteten Schnee.

Dann ging es etwas schneller, sie befanden sich auf der geraden Strecke, die an dem Stall der Kosaken vorbeiführte, an den Gebäuden der Wachmannschaften, vorbei an dem Platz, auf dem die Wagen und Geräte standen, die den Soldaten gehörten. Alvine nahm flüchtig einige Soldaten auf dem Hof wahr, sowie ein paar Reiter. Sie schienen irgendwohin aufzubrechen, sie ritten sehr schnell weg.

Jetzt war der Schlitten nur noch ein kleines Stück von der Katarinastraße, auf der sich der Palast des Gouverneurs befand, entfernt. Sie würden gleich an dem großen gelben Gebäude vorbeifahren und dann abbiegen hinunter in Richtung Innenstadt.

Da verlangsamte sich die Fahrt plötzlich. Der Kutscher rief den Pferden etwas zu, es schien so, als ob er sie zurückhielt.

Oscar steckte den Kopf auf der Seite hinaus und rief dem Kutscher zu, die Fahrt fortzusetzen.

»Du sollst uns zu der Adresse, die du erhalten hast, bringen, ohne zu trödeln«, schrie Oscar.

»Mein Herr, mein Herr«, rief der Kutscher zurück, »sehen Sie nicht, was wir vor uns haben?«

Jetzt verlangsamte er die Fahrt noch mehr. Oscar sah wieder hinaus, er sagte nichts, der Schlitten hielt an.

»Eine Schar Krawallmacher«, murmelte Oscar.

»Was für Leute?«, fragte Alvine.

»Ein Haufen Menschen auf dem Weg dort hinten.«

»Was sind das für Leute?«

Oscar antwortete nicht. Er rief dem Kutscher zu, einen anderen Weg zu nehmen.

Der Kutscher sprang vom Schlitten herunter, zog die Zügel an, versuchte, die Pferde ein Stück zurückzuführen, damit er den Schlitten wenden konnte. Es ging sehr langsam, eine große Schneewehe war im Weg.

»Beeil dich, du fauler Kerl«, schrie Oscar.

Der Kutscher riss an den Zügeln, sprach auf die Pferde ein, führte sie ein Stück zurück, dann wieder vor. Jetzt hatte er es fast geschafft, den Schlitten zu wenden. Die dunkle Schar vor ihnen kam näher. Die vordersten der Männer trugen eine große Prozessionsfahne, ein Bild der Jungfrau Maria, einige der anderen an der Spitze hielten brennende Kerzen in den Händen. Jetzt konnte man Gesang hören. Sie sangen einen Psalm, eine Neujahrshuldigung an den Erlöser.

Als sich die Schar noch etwa hundert Meter vom Schlitten entfernt befand, bog die Spitze ab. Die Männer, die die Standarte trugen, begannen, über das Feld hinauf zum Gouverneurspalast zu gehen. Sie stapften durch den Schnee, die anderen folgten, bald hatte der ganze Zug den Weg verlassen. Die Volksmenge bewegte sich hinauf auf den offenen Platz vor dem Palast zu. Dort machte die Spitze halt, die anderen blieben ebenfalls stehen.

Jetzt konnte Alvine sehen, wie viele Leute in dem Zug waren. Es waren fast nur Männer, sicher mehrere hundert, einige hielten Bilder von Maria, Josef und dem Jesuskind in den Händen.

Dann begann jemand zu sprechen, es klang laut und eintönig. Alvine konnte zunächst nur einzelne Wörter verstehen, dann Teile von Sätzen: »Als Diener des Zaren … bringen wir unsere Huldigung … seine guten … rechtgläubigen Kinder. Jesu Leiden … Huldigung.«

Hier wurde der Redner von dem Psalmengesang unterbrochen. Die Männer hielten die angezündeten Kerzen hoch, der Gesang tönte über das Feld, hinauf gegen die Wände des Palastes. Jetzt verstummte der Gesang wieder. Neue Worte erreichten Alvine: »Hungernde Kinder … treue … hungernde … hör uns … Jesu Gnade … hungern … Kinder hungern … sei gnädig.«

Wieder Psalmengesang. Wieder Hunderte erhobener Hände mit brennenden Kerzen, donnernder Gesang über das Feld.

Dann hörte man andere Geräusche, zuerst schwach, dann lauter werdend. Es waren Pferdehufe, dumpf im Schnee, viele galoppierende Pferde. Alvine wandte den Kopf, blickte in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Da kamen Pferde heran, eine Reitertruppe, die Kosaken. Der Schnee stob um die Hufe der Pferde.

Sie waren unterwegs über das Feld, hin zu den singenden Menschen. Sie machten vor den Männern mit den Kerzen nicht Halt. Die Reiter ritten direkt in die Schar auf dem Feld hinein. Einige Menschen wurden umgestoßen, andere versuchten wegzulaufen, wieder andere fielen mit gefalteten Händen auf die Knie.

Einer der Reiter schwang seinen Säbel und schlug zu, andere machten es ihm nach, sie schlugen ununterbrochen auf die Wehrlosen ein, die Säbel trafen Gesichter und Hälse, der Schnee färbte sich rot. Viele lagen schon am Boden, andere liefen davon, die Reiter nahmen die Verfolgung auf, und auch diese wurden niedergehauen.

Dann war der schonungslose Angriff plötzlich vorbei. Vielleicht hatte ein Offizier den Befehl erteilt, vielleicht war der Auftrag erfüllt. Die Reiter formierten sich in Reihen und entfernten sich langsam. Überall lagen tote und verletzte Menschen, einige versuchten, in Sicherheit zu kriechen, ein junger Mann saß mit hängendem Kopf im Schnee.

In weiter Entfernung war eine Kirchenglocke zu vernehmen. Vielleicht war es die Kirche in der Nähe von Oscars und Alvines Haus. Der Ton kam aus der Richtung.

Der Kutscher hatte die ganze Zeit über bewegungslos neben den Pferden gestanden. Jetzt kletterte er wieder auf den Schlitten, zog die Zügel leicht an. Die Pferde setzten sich in Bewegung und zogen den Schlitten hinunter auf die Alexanderstraße.

Die Kälte hielt an. Es war mitten im Winter, eine schwere, stille Zeit. Samaras Zeitung schrieb über die Ereignisse am Palast, aber als Alvine die Zeitung las, fand sie, dass die Beschreibung nicht mit dem übereinstimmte, was sie gesehen hatte.

In den folgenden Wochen standen in der Zeitung Berichte von ähnlichen Vorkommnissen überall in Russland, wo sich Menschen versammelt hatten und vom Militär auseinandergetrieben worden waren. Offenbar war irgendetwas Bemerkenswertes in St. Petersburg geschehen, aber es wurde nicht klar, was wirklich vorgefallen war. Viel später würden Oscar und Alvine von dem blutigen Sonntag im Januar vor dem Winterpalais des Zaren erzählen hören. Sie nahmen jetzt an, dass es sich hauptsächlich um Übertreibungen handelte oder dass böse umstürzlerische Mächte zu Recht zurückgeschlagen worden waren.

Im Februar gebar Alvine ihre dritte Tochter. Sie wurde Irma genannt. In diesen Tagen gingen in Samara Gerüchte um über Ereignisse, die sich auf dem Land am gegenüberliegenden Ufer zugetragen hatten. Einige große Güter waren von hungernden Bauern geplündert und in Brand gesetzt worden.

An stillen Tagen konnte man weit hinten die Rauchsäulen erkennen. Die Brandherde rückten immer näher. Eines Nachts loderten die Flammen aus einem großen brennenden Hof direkt vor der Stadt.

Das Erbe von Samara und New York

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