Читать книгу Das Erbe von Samara und New York - Erik Eriksson - Страница 17
ОглавлениеDie Fackel der Göttin leuchtet rot
Carl war mit dem Zug von Boston nach New York gefahren, um Hedvig abzuholen. Er hatte geschrieben und gesagt, er würde am Kai warten, sie brauche sich keine Sorgen zu machen.
Er war früh am Morgen eingetroffen, fragte sich nach Süd-Manhattan durch, suchte die Stelle auf, an der die Fähre von Ellis Island anlegen sollte. Er musste lange warten. Er konnte das Riesenschiff schon erkennen, mit dem Hedvig aus England gekommen war, es lag jetzt an einem Kai weit draußen im Hudson River. Aber die Passagiere waren gezwungen, zuerst durch die Kontrolle auf Ellis Island zu gehen. Carl wusste ja, dass das lange dauern würde. Er war selbst vor einigen Jahren auf diesem Weg gekommen. Damals allerdings hatte die Ankunftshalle in Castle Garden auf Manhattan gelegen. Die Station auf der Insel in der Hafeneinfahrt war neu eröffnet worden. Carl konnte das Gedränge dort draußen ahnen. Er hatte mehrere Ozeandampfer im Hafen gesehen, sie waren aus Europa gekommen, aus Frankreich und Italien.
Irgendwo da draußen auf der kleinen Insel war Hedvig.
Sie kam glimpflich davon. Sie war jung und gesund, und sie hatte etwas Geld mitgebracht. Sie erhielt ein Papier mit einem Stempel. Sie war nach Amerika hineingelassen worden. Bei anderen dauerte es länger. Einige wurden auf die Seite geführt, ein alter Mann weinte vor Verzweiflung.
Hedvig fand eines der Mädchen, mit denen sie vor der Abreise in Göteborg das Zimmer geteilt hatte. Es war Susanna aus Molkom in Värmland. Sie war unterwegs zu ihrem Onkel, der nach Minnesota ausgewandert war.
Susanna drückte Hedvigs Arm, als sie nebeneinander in der Schlange vor der Fähre standen. Es war am besten, wenn sie zusammen blieben; es waren ja so viele Leute hier draußen. Susanna hatte ihre Handtasche dicht an sich gedrückt.
Sie fragte Hedvig, ob diese glaube, dass es hier Diebe gebe.
»Das kann man nicht wissen«, sagte Hedvig, »richtig sicher sein kann man nie.«
»Man versteht nicht, was die Leute sagen«, sagte Susanna.
Hedvig nickte, es kam ihr so vor, als ob sämtliche Sprachen der Welt um sie herum gesprochen wurden.
»Hast du die da gesehen«, flüsterte Susanna, »die sehen aus wie Zigeuner oder Türken, sie haben ganz dunkle Haut.«
»Vielleicht Wallonen aus Eskilstuna«, sagte Hedvig.
Susanna verstand nicht, was Hedvig damit meinte. Sie blickte sich um, aber niemand sah zurück, alle schienen genug mit sich selbst beschäftigt zu sein. Der eine hatte kleine Kinder dabei, ein anderer kümmerte sich um seine alte Großmutter, eine junge Mutter trug ein kleines Mädchen zu einem Busch in der Nähe.
»Das müsste ich jetzt auch einmal«, flüsterte Susanna.
Hedvig versprach, auf die Koffer aufzupassen. Susanna schlich sich zu dem kleinen Gebüsch, verschwand hinter den Blättern. Nachdem sie zurückgekommen war, kam Hedvig an die Reihe.
Dort, wo Hedvig sich hingehockt hatte, roch der Boden. In der Schlange vor der Anlegestelle der Fähre standen mehrere hundert Menschen. Sie hatten schon stundenlang gewartet, alle waren mindestens einmal in die Büsche verschwunden, die Frauen in der Nähe, die Männer weiter hinten. Der Boden zwischen all den kleinen struppigen Ahornbäumen und Erlen war mit Urin durchtränkt. Hedvig genierte sich etwas, doch niemand nahm Notiz von ihr, all die müden Reisenden hatten dasselbe Problem.
Die Schlange stand fast still. Hedvig und Susanna hatten sich auf ihre Koffer gesetzt, sie rutschten einen halben Meter auf dem Kies vor, setzten sich wieder, rutschten weiter. Abends um halb sechs waren sie vorne an der Fähre angelangt, um sieben Uhr ging es dann endlich los. Als sie draußen auf dem Fluss waren, sahen sie das Schiff, mit dem sie gekommen waren, an einem Kai weit entfernt vor einigen ungeheuer hohen Häusern liegen. Als sie rechts über das Wasser blickten, sahen sie eine Brücke, die größte, die sie jemals gesehen hatten, sie schien an bogenförmigen Seilen zu hängen, hoch über dem grauen Wasser, auf dem die Schlepper Lastkähne und Dampfschiffe zogen.
Am eindrucksvollsten jedoch war die Riesenstatue, die Freiheitsgöttin, draußen im Hafen hinter der Insel, von der sie kamen. Sie hatten zuhause in Schweden über sie gelesen und Bilder von ihr gesehen. Sie war so groß, wie sie sie sich vorgestellt hatten, doch viel schöner. Die Strahlen der untergehenden Sonne verliehen der Göttin einen goldenen Glanz, um ihren Kopf herum leuchtete es, die Fackel glänzte rot.
Hedvig und Susanna standen auf dem hinteren Deck der Fähre. Es wehte ein kühler Wind, aber sie achteten nicht darauf, all das Neue war so groß und überwältigend. Sie hatten in ihren Briefen nicht übertrieben, die Verwandten, die vor ihnen hierhergefahren waren.
Carl hatte die Fähre den ganzen Tag über hin und her fahren sehen. Er hatte den Kai verlassen, Kaffee in einer Imbissstube getrunken, und er hatte überlegt, wie er seine Schwester am besten würde finden können. Wie sollte er sie in dem Gedränge erkennen, sie war ja so klein.
Da kam ihm eine gute Idee. Er ging in die Imbissstube zurück, erhielt gegen Bezahlung ein großes Stück weißer Pappe. Er fragte nach Malerfarbe, aber da es die nicht gab, begnügte er sich mit etwas Sojasauce, die er ebenfalls kaufen konnte. Na ja, zwanzig Cent, aber er stand ja nicht ganz ohne Geld da.
Carl malte mit dem Zeigefinger, den er in die Sojasauce tunkte. Er schrieb den Namen seiner Schwester mit großen Buchstaben. Aber er hatte den Platz schlecht berechnet, der letzte Buchstabe passte nicht mehr auf das Pappstück. Jetzt stand dort: HEDVI mit dunkelbraunen zerfließenden Buchstaben.
Carl wartete jetzt etwas oberhalb der Stelle, an der die Landungsbrücke der Fähre ausgefahren wurde. Er war auf eine längliche Mauer geklettert und konnte die Menschenmenge von oben sehen.
Die Fähre legte wieder an. Als Hedvig und Susanna an Land stiegen, wurden sie schnell von dem Menschenmeer verschluckt. Sie wurden nach vorne gestoßen, mitgezogen, konnten nicht selbst die Richtung bestimmen, in die sie gehen wollten.
Carl stand mit seinem Plakat da. Die Sojasauce tropfte ihm auf Stirn und Nase. Dort stand er braun bekleckert und groß auf der Mauer und hielt das Plakat in die Höhe. Aber er konnte Hedvig nirgendwo entdecken.
Susanna ging vor. Hedvig trug in der einen Hand den Koffer, in der anderen ihre Handtasche. Sie hielt sich dicht hinter Susanna, wollte sie nicht aus den Augen verlieren.
Da drehte sich Susanna um und lachte Hedvig zu, stellte ihren Koffer auf den Boden.
»Das da muss dein Bruder sein«, rief sie.
Hedvig sah Carl nun auch. Sie winkte, rief, er konnte sie bei all dem Lärm nicht hören, dann jedoch erblickte er sie ebenfalls.
Es dauerte eine Weile, bis sie zueinander fanden. Sie nahmen sich bei der Hand, lächelten lange, hielten einander fest, wollten nicht loslassen.
Susanna betrachtete sie etwas erstaunt, dann begann sie zu lachen und gab Carl einen kleinen Schlag auf die Wange.
»Du hast einen netten Bruder«, sagte sie zu Hedvig. »Und du, Carl, hast eine nette Schwester.«
Hedvig sagte nichts, sie wollte die Hand ihres Bruders gar nicht loslassen.
»Du bist ganz schön gewachsen«, sagte sie schließlich.
»Du bist auch groß geworden«, antwortete Carl.
»Aber jetzt sind wir jedenfalls in Amerika«, sagte Hedvig.
»Ja, hier ist alles groß.«
An diesem Abend übernachteten sie bei Maartens, einer kleinen Herberge im unteren Teil von Manhattan. Lower East Side, hatte Carl gesagt. Hier hatte er selbst ein paar Tage gewohnt, als er nach New York gekommen war. Das musste gut genug sein, die Mädchen waren wohl nicht sehr verwöhnt? Nein, sie waren es gewohnt, einfach zu übernachten. Aber sie waren so viele Leute nicht gewöhnt.
Carl schlief in einem Männer-Schlafsaal, die Mädchen teilten sich mit zehn anderen Frauen, die auch gerade aus Europa gekommen waren, einen Raum. An diesem Abend konnte man hier viele Sprachen hören, es wurde auf Schwedisch und Dänisch gute Nacht gemurmelt, eine junge Mutter summte ein polnisches Wiegenlied für ihren Säugling, ein Mädchen mit langen Haaren sprach ein Abendgebet auf Italienisch.
Als Hedvig die Augen geschlossen hatte und den Schlaf erwartete, sah sie ziemlich einförmige Bilder vorbeiziehen: das schaukelnde Meer, Wolken und fliegende Möwen, nichts Besonderes. Meist schaukelte es.
Mitten in der Nacht wachte sie davon auf, dass das kleine polnische Mädchen weinte. Die Mutter nahm das Kind in den Arm und trug es zwischen Koffern und Körben auf und ab.
Das Fenster war angelehnt. Irgendwo da draußen bellte ein Hund. Im Hafen heulte eine Schiffssirene. Dann begann das Fenster gegen die Wand zu schlagen, es war nicht festgehakt. Da niemand sonst etwas dagegen unternahm, stand Hedvig auf. Sie blickte hinaus, sah auf eine schmale Gasse hinunter. Dort unten lag jemand vor einer Tür, es war ein kleiner Junge. Dann erblickte sie noch einen Jungen. Die beiden lagen zusammengerollt dicht nebeneinander.
Als Hedvig wieder zurück zu ihrem Bett schlich, schlug eine Uhr in der Ferne viermal.