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Der polnische Leutnant

In dem Jahr, als Magda fünf Jahre alt wurde, heiratete Erika. Sie war sechzehn Jahre alt, sechs Monate zuvor hatte sie Jurij Spilewski kennengelernt. Erika wurde schwanger; als sich das nicht länger verbergen ließ, gab Oscar sehr widerwillig seine Zustimmung zu der Hochzeit. Die Alternative wäre eine große Schande gewesen, eine unverheiratete minderjährige Tochter mit Kind in der Familie, dann lieber die Hochzeit.

Oscar hatte schon, ehe Alvine etwas gemerkt hatte, den Verdacht geschöpft, dass Erika ein Kind erwartete. Er traf seine Töchter nicht häufiger, als ihre Mutter es tat; er verfügte jedoch über eine bessere Intuition, vielleicht hatte er auch verstohlene Blicke auf die Tochter geworfen und gesehen, dass sich ihre Figur verändert hatte.

Er tobte vor Wut, drohte, Erika hinauszuwerfen, hob die Hand, hielt sich jedoch zurück. Ein Kind hatte er schlagen können, das war hin und wieder vorgekommen, aber jetzt war die Tochter eine junge Frau. Oscar schlug Erika nicht ins Gesicht. Sie hatte sich auf seine Ohrfeige gefasst gemacht, sie war am Tisch sitzen geblieben, hatte den Kopf nicht eingezogen, sie hatte noch nicht einmal die Augen geschlossen.

Er schämte sich etwas. Es war sein Recht, die Kinder und die Dienstboten zurechtzuweisen, ja seine Pflicht. Es lag ihm jedoch daran, sich Damen gegenüber wie ein Gentleman zu benehmen. Also hielt Oscar Peterson an diesem Sonntag, an dem er Erika gefragt und die Antwort erhalten hatte – »Ja, Papa, ich erwarte Jurijs Kind« – seinen Schlag zurück.

Als sich Oscars Empörung gelegt hatte, fragte er, wann mit der Geburt zu rechnen sei, oder wusste Erika es nicht? Er deutete also an, dass sie vielleicht nicht wusste, wer der Vater war, dass sie ein loses Frauenzimmer sei.

Erika tat so, als ob sie es nicht gehört hätte, und antwortete, dass das Kind zum Herbst hin erwartet würde.

Erika gebar einen Jungen. Er wurde Vladimir genannt.

Jurij Spilewski kam aus Minsk in Weißrussland. Seine Familie stammte ursprünglich aus Polen, aber Ende des 18. Jahrhunderts hatte sie in Gegenden gewohnt, die von Russland besetzt worden waren. Jurij war nach seiner Wehrdienstzeit zwei Jahre auf eine Kriegsschule gegangen und Leutnant in einer Nachschubtruppe in der Armee des Zaren geworden. Er hätte vielleicht Karriere machen können, aber seine polnische Herkunft hatte sich als Hindernis erwiesen. Jurij hatte seinen Abschied genommen, als er begriffen hatte, dass sein Regiment gegen revoltierende polnische Nationalisten eingesetzt werden sollte. Er selbst war ja in seinem tiefsten Inneren einer von ihnen.

Er war nach seiner Soldatenzeit nach Samara gekommen und hatte dort ein Jahr als Lehrer gearbeitet. Dann hatte er eine Anstellung bei der Bahn erhalten. Als er Erika kennenlernte, war er achtundzwanzig Jahre alt. Sie war gerade sechzehn geworden.

Oscar hatte keine Ahnung von Jurijs polnisch-nationalistischer Gesinnung. Ihm imponierte der Offiziersrang. Oscar wollte gerne einen Offizier des Zaren in seiner Familie haben. Noch weniger ahnte er die aufkeimende Sympathie, die sein Schwiegersohn für die revolutionäre sozialdemokratische Partei hegte. Jurij hoffte, dass sein geliebtes Polen von einer sozialistischen Entwicklung in Russland profitieren würde. Er sollte Recht bekommen, das jedoch konnte er noch nicht wissen, als er Erika im Frühsommer 1916 heiratete.

Der erste Weltkrieg tobte. Russland nahm an dem großen Kampf gegen Deutschland teil. Jurijs junge Frau las keine Zeitungen, aber sie kam nicht umhin, all die Gerüchte zu hören. Die Züge mit den Truppen rollten durch Samara, verwundete Soldaten kehrten von der Front zurück. Die Armee des Zaren, die große Verluste erlitten hatte, brauchte Leute, der Feind rückte gegen Litauen und Weißrussland vor.

Jurij wurde eingezogen, aber er brauchte nicht an die Front zu gehen. Er war ja Offizier der Reserve; er war darin ausgebildet, die militärischen Nachschubtransporte zu organisieren. Er wurde in Samara, das zu einem wichtigen Knotenpunkt im Transportnetz der Armee geworden war, gebraucht.

Jurij und Erika waren zusammengezogen. Sie hatten ein Zimmer in der braunen Villa der Familie Peterson bekommen. Es wurde eng, aber es musste in Erwartung besserer Zeiten genügen. Wenn der Krieg erst vorbei war, würde sich alles zum Besten wenden.

Die frisch Verheirateten schliefen in einem großen Bett. Neben ihnen stand das Gitterbettchen des kleinen Jungen. Auch Magda schlief in diesem Zimmer – in den ersten Monaten nicht so häufig, dann jedoch wurde es zur Gewohnheit. Erika war schon immer wie eine Art Mutter für Magda gewesen, hatte sich um sie gekümmert, hatte sie getröstet, hatte mit ihr gelacht. Das blieb auch so, als sie ein eigenes Kind bekommen hatte.

Zweimal am Tag besuchte Magda zusammen mit ihren beiden größeren Schwestern Irma und Dagmar ihre Mutter Alvine. Das war eine alte Routine, nichts hatte sich verändert. Für Magda jedoch bedeutete Alvine immer weniger. Es war Erika, die ihr wirklich nahestand.

Magda hörte gelegentlich, wie Erika und Jurij über die Zukunft sprachen, über das Haus, das sie gerne kaufen würden, wenn die Zeiten besser geworden waren. Magda dachte nie darüber nach, was mit ihr selbst passieren würde, wenn dieser Tag kam. Sich von Erika trennen zu müssen, war ein unmöglicher Gedanke.

Das Erbe von Samara und New York

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