Читать книгу Das Erbe von Samara und New York - Erik Eriksson - Страница 21
ОглавлениеDer Vogel ist frei, zieht vorbei mit seinem Schrei
In Marc Lorraines Arbeitszimmer gab es einen Kamin. Auf der einen Seite dieses Kamins stand ein langer Tisch, auf dem Bücher aufgestapelt waren, auf der anderen Seite befanden sich zwei kleinere Tische mit Bergen von Tageszeitungen. Einige waren aufgeschlagen, andere hatten eingeknickte oder ausgerissene Seiten, angestrichene Spalten. Der Professor las ununterbrochen, wenn er vor dem Kaminfeuer saß, wenn er am Fenster stand und rauchte, wenn er in der großen Wohnung herumging, während er aß.
Er las und plauderte mit demjenigen, der gerade in der Nähe war. Oft war es Hedvig, die durch das Zimmer ging oder saubermachte. Zuerst hatte sie nicht geantwortet, da sie glaubte, dass der Professor laut dachte. Dann jedoch merkte sie, dass er eine Antwort erwartete, irgendeine Antwort, am liebsten eine durchdachte oder originelle.
Wie sollte Hedvig, die nur vier Jahre in eine Dorfschule zuhause in Råberga gegangen war, dem gelehrten Professor antworten können?
Eines Tages fragte er sie, was sie über die Folgen des nordamerikanischen Bürgerkrieges dachte. Sollte man von denjenigen, die Stimmrecht hatten, verlangen, dass sie lesen konnten?
»Das sollte man nicht verlangen«, antwortete Hedvig.
»Und warum nicht?«
»Derjenige, der Interesse hat, kann sich auf viele Arten Kenntnisse verschaffen, Bücher sind nicht alles.«
»Nein, sicher nicht, aber in unserer Zeit werden viele Kenntnisse in schriftlicher Form übermittelt, derjenige, der nicht liest, versäumt vielleicht etwas, was er wissen sollte, um sein Stimmrecht richtig wahrnehmen zu können.«
»In diesem Falle sollten die des Lesens Unkundigen auch das Recht haben, Schulen zu verlangen, in denen sie lesen lernen können.«
»Richtig, dieses Recht folgt daraus.«
»Also ist die Freiheit mehr wert als zersprengte Fesseln.«
»Sie reden ja wie ein Agitator, Hedvig.«
»Ich glaube, ich rede wie jeder, der nachgedacht hat.«
Der Professor widmete sich wieder seiner Zeitung oder dem Buch, das unter der Zeitung auf dem Schreibtisch lag. Hedvig trug den übervollen Aschenbecher hinaus.
Sie redeten meist englisch miteinander. Unvermutet konnte der Professor jedoch zum Französischen übergehen, um Hedvig zu prüfen. Ihr Französisch war schlechter als ihr Englisch, die Gespräche kamen ins Stocken, sie gingen wieder zum Englischen über.
Einmal machte Hedvig dasselbe. Sie wechselte mitten in einem Satz vom Englischen zum Schwedischen über.
Der Professor gab zu, dass Hedvig im Vorteil war, sie konnte drei Sprachen, er jedoch konnte nur zwei.
Er bat Hedvig um eine Einführung in die Grundzüge der schwedischen Sprache, kannte sie sich mit der Grammatik aus?
Nein, nicht sehr.
Er bestellte ein schwedisch-englisches Wörterbuch, gab Hedvig eine englische Grammatik. Sie lernte die Wortklassen und Satzteile, schlug im Wörterbuch nach, übersetzte Termini und Ausdrücke.
Sie erfanden eine Art Nonsenssprache, ein Dreisprachenspiel, hörten einander ab, wechselten die Sprache mitten in einem Satz, leierten Reihen von Reimen und Synonymen herunter.
Hedvig konnte mit einem Staubtuch durch das Zimmer gehen. Sie schlich auf Zehenspitzen, um den Professor, der mit einem Buch dort saß, nicht zu stören. Da murmelte er plötzlich:
»Today is too late to remember september.«
Hedvig blieb stehen, überlegte einen Augenblick, ehe sie antwortete.
»I morgon är hösten och trösten din vän.«
Der Professor sprach weiter, ohne von seinem Buch aufzusehen:
»Le fleuve comme la vie, la sortie comme un cri.«
»Även fågeln är fri, drar forbi med sitt skri.«
»Årrdet blir vatten på bårrdet till natten.«
Hedvig lachte. Sie hatte schon versucht, die schwedischen Vokale des Professors zu berichtigen, sie klangen genauso falsch wie ihre französischen Vokale. Sie lachten übereinander.
Aber Hedvig merkte, wie leicht ihr die Wörter fielen. Sie flogen ihr einfach zu, Wörter, Reime und Verse. Es war mit den Wörtern wie mit den Bildern, wenn sie kurz vor dem Einschlafen war. Sie brauchte nicht nachzudenken.
Karl Gustaf schrieb selten. Hedvig glaubte, dass es daran lag, dass er nicht gerne schrieb, im Gegensatz zu ihr, die bei jeder Gelegenheit gerne etwas zu Papier brachte.
Karl Gustaf hatte Amerika ein einziges Mal erwähnt. Er hatte sich den Gedanken, zu fahren, nicht aus dem Kopf geschlagen, aber es war ganz deutlich zu merken, dass er es nicht eilig hatte.
Hedvig hatte sich vorgenommen, nicht zu drängen. Sie hatte aufgehört, nach seinen Reiseplänen zu fragen, stattdessen berichtete sie, wie gut sie es hatte, wie hervorragend alles für sie gelaufen war. Das, was sie schrieb, war ja die Wahrheit. So gut wie bei der Familie Lorraine war es ihr noch nie in ihrem Leben ergangen.
Im Sommer 1895 war sie zwanzig Jahre alt geworden. Sie dachte so langsam daran, sich eine andere Arbeit zu suchen. Jetzt konnte sie die Sprachen, und sie schrieb auch mühelos. Sie müsste jetzt eigentlich eine Stelle in einem Büro finden können.
Im August schrieb Carl aus Boston. Er wollte sich verändern. Ein Freund in dem Büro der Schuhfabrik hatte eine Schwester, die bei einer Familie in New York angestellt war. Die Hausfrau suchte einen Gehilfen, der in der Schreibarbeit bewandert war. Sie bevorzugte Schweden, da sie schon einige tüchtige junge Leute aus Schweden in ihrem Haushalt beschäftigt hatte. Carl war von der Schwester seines Freundes empfohlen worden. Er konnte diese Arbeit bekommen.
Im September sollte er dort antreten. Jetzt war er dabei zu packen. In seinem Brief gab er die neue Adresse an: Die Straße hieß 5th Avenue. Hedvig fragte Professor Lorraine. Er erklärte ihr, dass das die Gegend war, in der die feinen New Yorker wohnten, in der Nähe des Central Parks.
»Wollen Sie dort hinziehen, Hedvig?«
»Ja, nicht direkt, aber ich denke so langsam daran, mich um eine Stelle in einem Büro zu bewerben.«
»Ich kann das verstehen. Sie wollen im Leben weiterkommen.«
»Ja, das ist so, aber besser als ich es hier gehabt habe, werde ich es niemals wieder treffen, das möchte ich Ihnen doch sagen.«
»Es ist ein besonderes Erlebnis gewesen, Sie im Hause gehabt zu haben, Hedvig, aber es gibt auch da draußen eine Welt, und die gehört Ihnen.«
Sie blieb noch zwei Monate dort. Dann kam wieder ein Brief von Carl. Hedvig könne vorübergehend eine Arbeit bei der Familie in New York erhalten. Sie hießen Graham, die Hausfrau brauchte ein Serviermädchen.
Carl schlug vor, dass Hedvig kommen solle. Sie könne sich in der Zeit, in der sie für Mrs. Graham arbeite, nach einer Büroarbeit umsehen.
Hedvig entschloss sich. In der letzten Novemberwoche verließ sie den Professor und die wunderbare Bibliothek in Montreal. Es war kalt geworden, aber Hedvig reiste in wärmere Gefilde.
Silvester 1895 servierte Hedvig Likör in der Bibliothek der Familie Graham. Es gab weniger Bücher als in Montreal, aber mehr Goldschnitte. An den Fenstern hingen schwere Samtvorhänge. Draußen lag der große Central Park mit seinen kleinen Seen und Hügeln und den gewundenen Spazierwegen.
Spät in der Neujahrsnacht glitzerten die Lichter zwischen den eisbedeckten Fichten des Parks.
Hedvig trank in der Küche zusammen mit den anderen Bediensteten ein Glas Wein. Die Familie Graham hatte sieben Angestellte. Hedvig war die Jüngste. An diesem Abend trug sie ein schwarzes Kleid und eine weiße Schürze. Auf dem Kopf hatte sie ein kunstvoll geklöppeltes Spitzenhäubchen.