Читать книгу Das Erbe von Samara und New York - Erik Eriksson - Страница 25

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Sie suchte eine Hand im Schlaf

Das Wasser der Wolga war gefroren, die Schiffe drängten sich am Kai zusammen, eisbedeckt und schäbig. Von einigen kleinen Dampfern stieg Rauch auf. An Bord wohnten Menschen; sie versuchten, dort zu überleben, dort unten unter den schneebedeckten Decks, saßen sie dicht gedrängt an den Kachelöfen und warteten auf den Frühling.

Bis dahin jedoch war es noch eine lange Zeit. Der Winter war hart, viele Menschen in Samara hatten nichts zu essen. Läden hatten zugemacht, die Regale waren leer, die Getreidelager der großen Güter wurden immer wieder von hungernden Landarbeitern geplündert.

Und der Krieg gegen Deutschland ging weiter. Er zehrte an den Kräften; für die Armeen des Zaren stand es nicht gut, die Verluste machten sich jetzt auch in der Heimat bemerkbar. Immer mehr Leute kannten jemanden, der einen Sohn oder einen Bruder verloren hatte.

Stille Nachmittage, glitzernde Schneekristalle auf den Hausdächern in Samara. Wenn jedoch die Dunkelheit hereinbrach, konnte man die Flammen sehen, die aus den brennenden Scheunen und Höfen entlang des Flusses schlugen. Der Rauch trieb über die Stadt hinweg. Und es war nicht der große Krieg, der bis an die Wolga gekommen war, es waren die immer härter werdenden Machtkämpfe, die die Russen untereinander austrugen.

Magda war in die Schule gekommen. Sie wurde jeden Tag in eines der Klassenzimmer in Koljas Haus gebracht, das in dem wohlhabenden Viertel hinter der Alexanderstraße lag. Es gab jetzt dort zwei Klassen in der Privatschule der Familie, eine für die Kinder über acht Jahre, und eine für die allerkleinsten in Magdas Alter.

Wenn Magda in die Schule gebracht wurde, befanden sich ihre beiden großen Schwestern Dagmar und Irma mit im Wagen; wenn Magda ausgestiegen war, fuhren die beiden weiter in die Mädchenschule hinter der lutherischen Kirche. Dem Kutscher war strengstens befohlen worden, die Mädchen unterwegs nicht aussteigen zu lassen. Aber Dagmar stahl zuhause Zigaretten, bestach den Kutscher und veranlasste ihn, gelegentlich kleine Pausen einzulegen. Die Mädchen stiegen aus, betrachteten die Schaufenster, kauften Schokolade, wenn sie Geld hatten.

Nachmittags nach der Schule kam der Kutscher wieder. Die Strecke, die er nahm, hing von dem Stundenplan der Schulen ab. Magdas Schulstunden waren früher zu Ende, aber sie blieb oft noch dort und spielte mit den Cousins in Koljas großem Haus.

Eines Nachmittags in der letzten Januarwoche 1917 kam der Kutscher wie immer. Er hielt vor dem Haus, in dem Magda abgeholt werden sollte, dann fuhr er weiter zur Mädchenschule. Es war ein geschlossener Wagen. Er hatte zwischen Schlitten und Wagen wählen können. Er zog den Wagen mit den großen leichten Rädern vor. In den letzten vierzehn Tagen hatte es nicht geschneit, die Wege waren passierbar, der Schnee festgefahren und hart.

Der Wagen wurde von einem braunen Pferd mit zottiger Mähne gezogen. Der Kutscher hieß Volodja, er war auf einem Auge blind, eine Verletzung aus dem gescheiterten Krieg gegen Japan zehn Jahre zuvor. Volodja hatte als Artilleriematrose an der Schlacht bei Tsushima teilgenommen, in der die russische Flotte vernichtet worden war.

Jetzt lenkte Volodja den Wagen mit Magda in Richtung auf die Alexanderstraße, auf der das Kaufhaus und alle Geschäfte lagen. Er hatte zwischen zwei Wegstrecken wählen können, entweder fuhr er die breite Geschäftsstraße entlang, oder er überquerte sie und nahm eine Parallelstraße etwas weiter oberhalb.

Er entschied sich gegen die Alexanderstraße, dort waren mehrere Schlitten stehen geblieben, es konnte eng werden.

Volodja ließ das Pferd laufen, wie es wollte, sie hatten keine Eile. Als er die schmale Straße, die zu der Mädchenschule führte, erreicht hatte, bog er rechts ab. Er blickte nach vorn, das Auge, auf dem er blind war, war das linke. Vielleicht war das der Grund, weshalb er die Männer, die aus der Gasse auf der linken Seite kamen, nicht sofort bemerkt hatte. Es waren vier junge Männer. Sie liefen zum Wagen, einer von ihnen ergriff das Pferd am Zaum und zog mit ganzer Kraft daran, brachte so das Pferd zum Stehen. Volodja schwang die Peitsche, aber in diesem Augenblick stieß ihn einer der anderen Männer von hinten an. Er fiel vom Kutschbock, schlug mit dem Kopf hart auf dem Eis auf und blieb liegen. Ein dritter Mann öffnete die Wagentür, zeigte auf Magda und schrie sie an zu verschwinden.

Sie tat, was der Mann verlangte. Er hielt die Tür auf, sie sprang in dem Moment hinaus, in dem der Mann das Pferd am Zaum die Straße entlang zu führen begann, die anderen Männer liefen vorne weg.

Magda blieb bei dem am Boden liegenden Volodja stehen. Er bewegte sich, sie hockte sich neben ihn. Jetzt hörte Magda Schreie aus einem Haus etwas weiter unten auf der Straße. Einige Männer begannen, Lasten auf den Wagen, der vor dem Haus stehen geblieben war, zu laden.

Volodja war aufgestanden. Er ergriff Magdas Hand, führte sie fort von dem Ort, an dem sie überfallen worden waren. Als sich Magda umdrehte, sah sie, dass das Beladen weiterging. Auf der Straße waren Säcke aufgestapelt, eine ganze Schar von Männern hatte sich um den Wagen versammelt, sie reichten Waren aus dem Geschäft heraus und beluden den Wagen in großer Hast. Ein Mann hob einen Sack auf und legte ihn oben auf den Wagen. Da platzte der Sack plötzlich auf, und sein weißer Inhalt ergoss sich über die Rücken der Männer, die daneben standen, und puderte sie weiß ein.

Magda fuhr nicht mehr in die Schule, auch die Schwestern blieben zuhause. Die Gouvernante Fräulein Feodorovna kam an drei Tagen in der Woche zu ihnen in die braune Villa. Erika wurde zur Nachhilfelehrerin.

Oscar las in der konservativen Zeitung Retj über die zunehmenden Geschäftsplünderungen. Er glaubte, dass der Pöbel losgelassen sei. Wenn das Militär Stärke bewiesen hätte, wäre das nicht passiert.

Jurij antwortete, dass die Soldaten damit beschäftigt seien, das Land zu verteidigen.

»Wir haben eine große Armee, sie reicht sowohl für die Verteidigung des Reiches als auch für die Niederhaltung des Pöbels«, antwortete Oscar.

»Die Armee wird jede Woche kleiner«, antwortete Jurij, »wir haben unzählige Soldaten verloren, vielleicht eine Million, Russlands tapfere Söhne können nicht mehr.«

»So etwas behaupten Defätisten und Propagandamacher.«

»Das habe ich nicht nötig, ich habe Soldaten getroffen, die sich das Wissen von dem, was da draußen passiert, teuer erkauft haben.«

»Vielleicht willst du den Zaren verleumden?«

»Ich weiß, dass das alte russische Reich in seinen Grundfesten erschüttert wird.«

»Dein Polen ist von der Karte verschwunden, aber Russland wird ewig Bestand haben.«

»Das werden wir bald sehen, die Zeit bleibt nicht stehen.«

Die Straßen in der Stadt wurden unsicher. Immer mehr Geschäfte wurden geplündert, Häuser von den hungernden Scharen, die des Nachts aus den ländlichen Gegenden kamen, in Brand gesteckt. Aber auch arme Menschen aus Samara beteiligten sich an den Hungerkrawallen.

Die Soldaten hatten einige Male das Feuer eröffnet, wie viele dabei getötet worden waren, wusste man nicht. Aber es hieß, dass auch die Aufständischen Waffen besaßen, sie hatten zurückgeschossen.

Kolja war nicht mehr in der Lage, seine Fabrik weiterzubetreiben, es gelang ihm nicht mehr, Mehl für die Herstellung seiner Nudeln zu kaufen. Die Fabrik machte zu, Kolja ließ Wächter aufstellen, er befürchtete Einbrüche. Sein Bruder Alfred schloss das Kaufhaus für eine Woche, öffnete es dann wieder, aber es kamen kaum Kunden. Für die Brüder Christensen waren keine Geschäfte mehr zu machen.

Die Kälte hielt sich weiterhin; Temperaturen von dreißig Grad unter Null waren normal. Alle waren daran gewöhnt. Jetzt jedoch lag etwas Trostloses und Gefährliches in der Luft. Der Rauch stieg gerade nach oben, er war weißer als sonst, so als ob etwas sehr Trockenes und Altes in den Öfen der Stadt verbrannt würde.

Anfang Februar gab es einige wärmere Tage. Jurij hatte, als er bei Tagesanbruch das Haus verließ, wie immer seinen Schafspelz an, einige andere Männer gingen in dieselbe Richtung, aber niemand sagte etwas.

In der Nacht war ein Zug eingetroffen, die Lokomotive sollte gewartet, Wasser nachgefüllt und Holz aufgeladen werden. Kohle gab es nicht, alle Dampfkessel wurden mit Birkenholz geheizt. Ein gesonderter Holzwagen war an die Lokomotive angekoppelt worden, zwei Männer kletterten während der Fahrt auf die Ladung und schleppten das Holz zum Heizer.

Jetzt jedoch stand die Lokomotive da und wartete. Sie sollte nach Osten fahren. Als Jurij eintraf, standen die Lokführer schon dort und diskutierten über etwas.

Hatte er die Neuigkeit schon gehört?

Nein, er hatte nichts Besonderes gehört, was war passiert?

Eine neue Regierung hatte die Macht in Petrograd, wie die Stadt jetzt hieß, übernommen. Der Zar hatte nichts mehr zu sagen.

Am Nachmittag wurde diese Nachricht bestätigt. Einer der Eisenbahner teilte Flugblätter aus. Jurij nahm eines davon, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche.

Am Abend erzählte Jurij Oscar, was er gehört hatte. Oscar glaubte ihm nicht, las ihm etwas aus der Zeitung Retj vor; er verließ sich mehr auf seine Zeitung, in der stand, dass alle Aufstände in Petrograd niedergeschlagen worden seien.

»Das ist jetzt veraltet«, sagte Jurij.

»Du hörst auf Verleumdungen, wie immer.«

»Ich höre auf solche, die mehr wissen als ich.«

Sie konnten sich nicht einigen. Oscar las seine Zeitung weiter, Jurij ging hinein zu Erika und Vladimir.

In dieser Nacht schlief Magda bei ihnen. Sie lag zwischen Jurij und Erika. Als sie eingeschlafen war, hob Jurij sie vorsichtig hoch und legte sie hinter Erikas Rücken hin.

Magda wachte nicht auf, aber sie wälzte sich unruhig hin und her und suchte im Schlaf nach Erikas Hand.

Am folgenden Tag wurde es wieder kälter. Als Jurij zum Bahnhof kam, sah er, dass jemand ein Plakat an einem der Lagerhäuser angebracht hatte. Darauf stand in roter Schrift: »Nieder mit dem Zaren.«

Jurij erzählte zuhause nichts von diesem Plakat. Zwei Wochen später wurde der Zar abgesetzt. Russland war jetzt eine Republik.

Im Sommer dieses Jahres wurde Erika wieder schwanger. Sie sagte der Familie zunächst nichts davon. Im Herbst erzählte sie es an einem Sonntag während des Essens. Dieses Mal freute sich Oscar.

Das war in derselben Woche, als die Bolschewiken die Macht in Petrograd übernommen hatten. Als diese Nachricht Samara erreichte, verstanden Oscar und Alvine nicht richtig, was das bedeutete.

Der Zar war nicht mehr da, schlimmer konnte es wohl nicht werden.

Das Erbe von Samara und New York

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