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Ein sehr warmer Tag im Park

Clara Nilsdotter war 1880 nach Amerika gefahren. In Boston hatte sie Steven Clark kennengelernt, einen Bäcker aus Schottland, der zehn Jahre zuvor herübergekommen war. Steven war ganz vernarrt in Clara, sie zogen zusammen, reisten nach Montreal, wo Stevens Bruder Mitinhaber einer kleinen Bäckerei war. Sie hatten sich auf grobes Roggenbrot spezialisiert, verkauften an die Einwanderer, die aus England und Schottland gekommen waren. Die meisten Einwohner von Montreal waren Französisch sprechende Kanadier, die helles Brot bevorzugten.

Die Brüder Clark hielten nicht viel von fein gebackenem Weißbrot. Sie waren mit Roggenbrot und harter Arbeit aufgewachsen, sie sagten oft, dass sie Brot für Leute mit Zähnen im Mund backten. Es wurde zu einer Art geflügeltem Wort: Das Leben ist hart wie ein Laib Brot von Clarks.

Nach drei Jahren verließ Clara ihren Schotten. Er wollte Kinder, das wollte Clara nicht. Sie lieh sich Geld, machte eine eigene Bäckerei auf. Clara stellte einen Bäcker und einen Konditor ein, sie brachte ihnen bei, wie man schwedischen Kuchen backte, Apfeltorten und Erdbeergebäck. Claras Feinbäckerei konnte sich bald eines vermögenden Kundenkreises erfreuen. Unter den Kunden waren englische Bankiers und französische Ärzte. Das Geschäft lag an einem Park in der Nähe des St. Lawrence-Flusses. Im Erdgeschoss befand sich die Bäckerei neben einem kleinen Laden, in dem Clara auch manchmal selbst stand. Sie wohnte in der darüberliegenden Wohnung, in vier Räumen mit einer Küche.

Nach drei Jahren stellte Clara ein Mädchen als Verkäuferin für den Laden ein. Im Jahr darauf vermehrte Clara ihr Personal um einen weiteren Konditor und noch ein Mädchen, das sie als Verkäuferin und als Dienstmädchen für ihre Wohnung beschäftigte.

Im April 1893 kam Claras Nichte Hedvig Eriksson nach Montreal. Clara hatte sie ja gebeten zu kommen. Aber es war lange her, seit Clara diesen ermunternden Brief geschrieben hatte. Da hatte sie gerade ihr eigenes Geschäft eröffnet.

Was sie damals gemeint hatte, war, dass für denjenigen, der bereit war anzupacken, nichts unmöglich war. Nur das hatte sie sagen wollen.

Na ja, jetzt war Hedvig nun einmal in Montreal. Vielleicht könnte sie im Laden helfen?

»Natürlich will ich das«, antwortete Hedvig, »aber ich will mir auch eine richtige Arbeit suchen.

»Ist das denn keine richtige Arbeit, im Laden zu stehen?«

»Ja, das ist es schon, aber ich habe mir vorgenommen, mir etwas in einem Büro zu suchen.«

»Das schaffst du nicht, dort werden Sprachkenntnisse verlangt.«

»Ich will es trotzdem versuchen.«

Das fing nicht gut an. Hedvig fühlte sich unerwünscht. Sie half wirklich mit, putzte Claras Wohnung, wusch die Wäsche, verrichtete Botengänge. Das Dienstmädchen wurde hinunter in den Laden geschickt. Aber es schien, als ob Clara ihrer jungen Verwandten nicht traute. Hedvig verstand das nicht. Sie hatte ihre Tante nicht mehr gesehen, seitdem sie selbst fünf Jahre alt gewesen war. Sie waren sich natürlich nur einige wenige Male begegnet, aber Hedvig erinnerte sich an Clara als eine fröhliche und verspielte Person, die ganz und gar nicht so barsch und verschlossen wie Hedvigs Mutter Matilda war.

Jetzt jedoch hatte sie eine völlig andere Frau vor sich. Clara sprach nur, wenn sie Befehle erteilte, fragte nie danach, wie es der Nichte ging.

Hedvig wohnte in einer kleinen auf den Hof hinausgehenden Kammer neben der Bäckerei. Im Stockwerk darüber gab es ein großes helles Gästezimmer mit gemachtem Bett und herausgelegten Handtüchern. Dieses Gästezimmer wurde nie benutzt. Hedvig betrachtete das als eine Art Markierung: Sie war nicht der Gast ihrer Tante.

Jede Woche nahm sich Hedvig die Zeitungen vor, buchstabierte sich durch die Stellenangebote. Sie war auch bei einer Arbeitsvermittlung gewesen und hatte gefragt. Ihre schlechten Sprachkenntnisse waren wirklich ein Hindernis. Sie erzählte es Clara nicht, sie antwortete ausweichend. Aber Clara verstand es auch so, ihre Ungeduld wuchs, sie gab Hedvig zu verstehen, dass ihre Zeit bald abgelaufen war.

Es war Anfang Juni, an einem Sonntag. Hedvig hatte die Bäckerei und den Laden gefegt. Die Tante war nicht zuhause, sie würde später am Nachmittag zurückkommen.

Hedvig war mit dem Fegen fertig geworden. Sie hatte noch einen Fleck auf dem Boden neben der Hintertür der Bäckerei entdeckt, vielleicht verschüttete Sahne, die angetrocknet war. Sie kratzte und rieb, war nicht zufrieden, fand ein Messer und kratzte weiter.

Sie schwitzte, es war warm, mehr als fünfundzwanzig Grad. Sie kniete auf dem Boden und bearbeitete den Fleck.

Dann machte sie eine Pause. In dem Schrank, in dem Marzipan und Butter verwahrt wurden, fand sie eine Flasche Erdbeersaft und drei nicht ganze frische Plunderstücke. Hedvig vermischte etwas Saft mit Wasser und aß das erste Plunderstück. Sie saß barfuß mit baumelnden Beinen auf der Kante des Knetbrettes. Sie biss in das zweite Plunderstück. Da wurde leise die Türe geöffnet. Hedvig bemerkte es nicht. Sie hatte den Kopf nach hinten gebeugt und ließ die letzten Safttropfen aus dem Glas in den Mund fließen. Hedvig hatte nicht gesehen, dass Clara in den Raum gekommen war.

»Du bedienst dich«, sagte Clara.

Hedvig zuckte zusammen, sprang schnell vom Tisch herunter. Sie trocknete sich den Mund ab.

»Ich habe mir ein Plunderstück genommen«, sagte sie.

»Du hast dir wohl ein paar Plunderstücke genommen, oder?«

»Ja, es waren zwei.«

»Und dann das da, das macht zusammen drei.«

Hedvig nickte, sie schämte sich etwas. Aber nicht deshalb, weil sie die Plunderstücke genommen hatte, sondern weil sie überrascht, ertappt und zurechtgewiesen worden war.

Clara verließ die Backstube, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Hedvig stand noch eine Weile da und überlegte, ehe sie den Entschluss fasste. Eigentlich hatte sie ihn schon gefasst. Nun blieb ihr nur noch eines übrig.

Sie packte ihren Koffer, zog den Mantel an, dann ging sie hinauf in Claras Wohnung, klopfte leicht an die Tür, wartete jedoch nicht, bis Clara sie hereinrief.

»Vielen Dank für alles, ich gehe jetzt«, sagte Hedvig.

Clara schwieg, sie sah nicht erstaunt aus; nur das, was sie schon hatte kommen sehen, kam etwas plötzlich.

»Vielleicht melde ich mich einmal«, sagte Hedvig und streckte ihr zum Abschied die Hand hin.

Clara ergriff die Hand. Hedvig drückte Clara kurz die Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, drehte sich um und ging zur Türe hinaus.

Als sie auf die Straße hinaustrat, schlug ihr die Sommerhitze entgegen. Sie ging schnell mit dem Koffer in der Hand die zwei Häuserblocks bis zum Park mit der Reiterstatue hinunter. Zuerst stellte sie den Koffer ab, dann zog sie den dicken Mantel aus.

Hedvig wohnte im Hotel. Für die ersten beiden Nächte blieb sie in einer kleinen Pension am Fluss, dann zog sie um in eine Herberge, die die katholischen Schwestern des Monklandklosters betrieben. Sie hatte von ihrer Arbeit in der Schuhfabrik noch etwas Geld übrig. Jetzt konnte sie ihre gesamte Zeit darauf verwenden, Arbeit zu suchen. Aber sie sah bald ein, dass niemand sie als Bürogehilfin haben wollte. Sie stellte sich darauf ein, alles, was sich anbot, nehmen zu müssen. Die Tage vergingen, nach zwei Wochen wohnte sie immer noch in der Herberge. Ihre Tante hatte sie nicht mehr gesehen.

Jeden Tag las Hedvig die Zeitung Montreal Gazette. Sie kaufte sie an der Windsorstation oder an einem Stand neben einem Bankpalast in der St. James Street. Dann setzte sie sich auf eine Parkbank und las. Ein paar Mal gönnte sie sich auch eine Tasse Kaffee in der Konditorei am Park hinter dem Rathaus, wo man auch im Freien sitzen konnte.

Eines Sonntagnachmittags saß sie allein an einem Kaffeetisch in der Nähe des länglichen kleinen Teichs, der an die Konditorei angrenzte. Der Tisch stand direkt neben dem Spazierweg, der in einem Bogen zum Teich hinunterführte. Einige Paare gingen vorbei. Hedvig hatte sich in ihre Zeitung vertieft.

Dann blickte sie auf, ein Mann mittleren Alters und eine junge Frau waren am Teich stehen geblieben, sie betrachteten die Seerosen, die auf der Wasseroberfläche schaukelten. Vermutlich gab es in dem Teich auch Fische, denn es plätscherte ein wenig. Der Mann sagte etwas zu der Frau, sie antwortete und lächelte ihm zu. Hedvig vermutete, dass es sich um Vater und Tochter handelte.

Sie gingen weiter und ließen sich an einem Tisch ganz in Hedvigs Nähe nieder. Der Mann nickte Hedvig freundlich zu, nahm den Hut ab und legte ihn auf den Tisch.

Er sagte wieder etwas auf Französisch. Hatte er Hedvig angesprochen? Es war ihr so vorgekommen. Sie hatte es nicht verstanden, versuchte, eine fragende Miene aufzusetzen, runzelte leicht die Stirn.

»It’s a really hot day«, sagte der Mann.

Jetzt verstand Hedvig ihn, sie lächelte, nickte zustimmend, ja sicher war es heiß.

Jetzt lächelte auch die junge Frau Hedvig zu. Sie war in Hedvigs Alter, aber groß und schlank.

»I wish I were a fish«, sagte die Frau und lachte.

»I cannot swim so I prefer drinking water from my glass«, antwortete Hedvig.

Das Mädchen lachte laut auf; sie fand das, was Hedvig gesagt hatte, offenbar komisch. Auch ihr Vater lachte.

»Where are you from?«, fragte der Vater.

Hedvig vermutete, dass ihre Aussprache schlecht war, aber sie war froh, dass die beiden sie verstanden hatten.

»From Sweden«, erwiderte Hedvig.

»Really«, sagte der Mann, »that is interesting.«

Er erhob sich und kam an Hedvigs Tisch. Er fragte, ob sie sich nicht zu ihnen setzen wolle, vielleicht durfte er sie zu einem Stück Kuchen einladen, hier gab es eine vorzügliche Marzipantorte.

Das wusste Hedvig; ihre eigene Tante lieferte diese vorzügliche Torte, aber das sagte sie nicht. Sie nahm die Einladung an und stellte sich vor.

Der Name des Mannes war Marc Lorraine, seine Tochter hieß Laura. Er war Professor für Geschichte am McGill College, der größten Universität der Stadt. Hedvig sagte nicht, dass sie nur vier Jahre in eine kleine Schule auf dem Land gegangen war.

Sie saßen lange dort, amüsierten sich, es gab plötzlich so viel zu erzählen.

Es war der 27. Juli 1893. Hedvig sollte fast zwei Jahre als Hausmädchen bei Professor Lorraine verbringen. Hedvig freundete sich auch mit Laura an. Die Familie Lorraine war zweisprachig. Als der Professor merkte, wie leicht Hedvig das Erlernen von Sprachen fiel, begann er, mit ihr die englische und die französische Aussprache zu üben; er stellte ihr auch kleine Schreibaufgaben. In diesen zwei Jahren lernte Hedvig beide Sprachen zu sprechen und zu schreiben.

Jede Woche schrieb sie etwas in das Tagebuch, das ihr Karl Gustaf geschenkt hatte, sie schrieb mit ganz kleiner Schrift, damit der Platz lange reichte.

16. Juli 1893

Kleines Zimmer mit schöner Aussicht. Der Fluss, grüne Bäume, Wolken im Westen. Der Großstadtlärm verschwindet nie. Gute Menschen mit eigener Bibliothek in der Wohnung, zugänglich auch für mich. Jonathan Swift, Jane Austen, Daniel Defoe sind neue Freunde.

27. August 1893

Brief von Karl Gustaf. Ob er jemals kommt? Karte von Fredrik mit kleinem Vers. Wie ungleich die Brüder sind.

6. Oktober 1893

An KG geschrieben, um Antwort gebeten. Will er überhaupt kommen? Das Gespenst von Canterville von O. Wilde gelesen.

12. Dezember 1893

Schnee und Eis auf den Straßen. Von meinem Fenster aus kann ich sehen, dass der Himmel von drei Kirchtürmen geteilt wird, der Berg Mont Royal wie ein runder Hut darunter, die Flocken sind wie Puderzucker, der Fluss ist wie flüssiger Sirup, Eisschollen in der Nähe des Ufers.

7. Januar 1894

Ich lese David Copperfield von Ch. Dickens. Habe gerade Oliver Twist ausgelesen. In der Bibliothek der Familie gibt es eine Reihe von Büchern vom selben Verfasser.

Das Erbe von Samara und New York

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