Читать книгу Das Erbe von Samara und New York - Erik Eriksson - Страница 6
ОглавлениеDer Entschluss zu reisen, ohne jemandem etwas zu sagen
Vielleicht hatte Hedvig gerade an diesem Nachmittag ihren Entschluss gefasst. Sie hatte lange darüber nachgedacht, sich gefragt, wie es sein würde. Ob es wirklich so etwas Besonderes sein könne. Aber es waren meistens Träumereien gewesen.
Sie ging über den Steg unten am Rande des Feldes, sie sah die Umrisse der Hütte, die Apfelbäume standen in Blüte, es war Anfang Juni. Sie hatte auf dem Rückweg von Södra Gården Schwalben gesehen, es war gegen neun Uhr abends.
An all das dachte sie später, als sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es früher gewesen war.
An jenem Morgen hatte sie den Brief ihrer Tante Clara gelesen. Darin stand, dass die jungen Leute herüberkommen und ihr Glück versuchen sollten; diejenigen, die arbeiten wollten und kräftig genug waren, würden ihren Weg schon machen. Es gab genug Arbeit, gute Verdienstmöglichkeiten, wohnen konnte man in der ersten Zeit bei Clara. Sie habe eine eigene Bäckerei eröffnet, die Geschäfte liefen ausgezeichnet. Das schrieb sie. Ja, sie betonte, dass es ihr außerordentlich gut gehe.
Als Hedvig fünf Jahre alt war, war Clara nach Kanada gefahren; jetzt war Hedvig vierzehn. Die Tante hatte also neun Jahre gebraucht, um in Amerika Erfolg zu haben. Es handelte sich zwar um Kanada, um die Stadt Montreal, in der Clara ihre Bäckerei eröffnet hatte, wenn Hedvig jedoch an die Größe und Weite dort drüben dachte, dann war es Amerika.
Als Hedvig auf den Hof zurückkam, vor die Kate, hatte sie sich wohl entschlossen. Das glaubte sie jedenfalls, ja sie hatte sich entschlossen. Aber sie sagte nichts. Weder zu ihrer Mutter noch zu ihrer Zwillingsschwester Hulda. Die beiden teilten sich das niedrige Dachstübchen der Kate. Die übrigen fünf Geschwister lebten zusammen mit den Eltern unten in der Küche und im Wohnzimmer. Der ältere Bruder Carl war ebenfalls ausgewandert, im April war er weggefahren. Ein Brief war gekommen, aber Carl hatte nicht sehr viel geschrieben, nur dass es ihm gut gehe und dass er gesund sei. Der Brief war in Boston abgeschickt worden. Hedvig wusste nicht, wo dieser Ort lag.
Hedvigs Zuhause, eine rote Kate, befand sich in der Nähe eines Gehölzes im Dorf Råberga in der Gemeinde Täby in Närke. Auf der einen Seite des Gehölzes breitete sich die Ebene aus. In der anderen Richtung lag der Hof Södra Gården, zu dem das Land im gesamten Umkreis gehörte, auch die Hütte, in der Hedvig lebte. Sie arbeitete in diesem Sommer auf dem großen Hof.
Hedvig Eriksson hatte braune Augen, ausgeprägte Wangenknochen, dunkles Haar. Sie war klein und zartgliedrig, aber ungewöhnlich kräftig für ihr Alter. Vor allem verfügte sie über eine erstaunliche Ausdauer. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, außer an den Sonntagen. Sie ging zu dem großen Hof hinüber, nahm etwas zu essen mit, und ihre Arbeit bestand darin, Unkraut zu jäten, Hackfrüchte zu lesen, manchmal blieb sie auch abends einige Stunden länger, um bei den Knechten sauber zu machen.
Etwas von ihrem Verdienst lieferte sie zuhause ab. Den Rest verwahrte sie in einer Blechdose unter einem losen Brett in einer Ecke des Dachbodens. Manchmal stieß Hedvig mit dem Fuß leicht gegen das Brett und horchte auf das schwache Knarren, das dadurch entstand. Dieses Geräusch würde sie niemals vergessen. Es gehörte auf eine eigenartige Weise zu einem Gefühl von Sehnsucht. Und jetzt wusste sie, wonach sie sich sehnte.
Im Sommer 1889 las Hedvig immer wieder die Briefe aus Amerika. Vielleicht könnte auch sie ihr Glück dort drüben finden? Sie hoffte es. Und abends, wenn sie mit geschlossenen Augen im Bett lag und noch nicht einschlafen konnte, sah sie seltsame Bilder, ein Blumenmeer, wogende Gärten mit bunten Früchten, Gesichter, Muster, die sich veränderten, auflösten, mit dem Himmel und dem Meer zusammenflossen. Hedvig fragte Hulda einmal, ob sie auch Bilder sehe, ehe der Schlaf kam. Hulda verstand sie nicht. Hedvig fragte niemanden mehr. Aber ihr ganzes Leben lang sollte sie Bilder sehen, ehe sie einschlief. In diesem Sommer und Herbst glaubte Hedvig, dass die Bilder aus Amerika kamen. Sie war schon unterwegs.
Es würde jedoch noch einige Jahre dauern. Auch das wusste Hedvig. Im November hatte sie vier Kronen und zwanzig Öre zusammengespart.
Der Winter kam zeitig. Im Januar wurde ihr Vater krank.