Читать книгу Das Erbe von Samara und New York - Erik Eriksson - Страница 15

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Niemand sah Erika je weinen

Die Jahre vergingen. Oscars Geschäft lief gut. Er war oft unterwegs, hatte eine Filiale in Kazan eröffnet und mit einem Händler in Novgorod eine Vereinbarung über den Verkauf von Waren getroffen, die er aus Deutschland importierte.

Oft war er über lange Zeit nicht zuhause, einen ganzen Monat lang, oder auch mehrere Monate. Einmal im Jahr fuhr er nach Deutschland, um neue Artikel für seinen Import auszusuchen. Diese Reisen beanspruchten viel Zeit. Oscar nahm sich die nötige Zeit, zwei, manchmal drei Monate. Er nutzte die Gelegenheit, alte Geschäftspartner zu besuchen oder neue Bekanntschaften zu knüpfen.

War er sehr lange von zuhause weg, dann schrieb er der Familie: Alvine würde ihn bestimmt vermissen, er würde bald zurück sein, mit Geschenken für all seine kleinen Mädchen in Samara.

Alvine jedoch vermisste ihn nicht. Sie empfand es als Erleichterung, dass Oscar weg war.

Nach den drei Töchtern hatte sie keine weiteren Kinder mehr bekommen. Irma, die zuletzt Geborene, war inzwischen fünf Jahre alt. Die drei Schwestern wohnten im Kinderzimmer im Erdgeschoss des Hauses. Anna kümmerte sich um sie, sie erzog sie, bestrafte sie, wenn sie ihr ungehorsam erschienen. Ein- oder zweimal am Tag sahen die Kinder ihre Mutter, meist fiel der Besuch jedoch sehr kurz aus. Nie nahmen sie gemeinsam eine Mahlzeit ein. Sie wurden zu Alvine hineingeführt, grüßten, setzten sich und unterhielten sich eine Weile, ehe Anna in die Hände klatschte. Das war das Signal: Der Besuch war zu Ende, es war an der Zeit, in das Kinderzimmer zurückzukehren, in die Küche oder sich an die Hausaufgaben zu machen.

Sie wurden von einer Gouvernante, Fräulein Feodorovna, unterrichtet. Jeden Vormittag wurden sie mit dem Wagen zum Unterricht gebracht, der in dem Haus stattfand, das Alvines Bruder Kolja gekauft hatte. Es kamen auch noch drei kleine Cousins dazu, zwei waren Kinder von Alvines ältester Schwester, der dritte war Koljas Sohn, der siebenjährige Mikael. Zusammen machten sie eine kleine Schulklasse aus.

Erika war jetzt neun Jahre alt. Sie las Bücher, die für Erwachsene bestimmt waren, machte Fortschritte im Rechnen und im Französischen, Deutsch sprach sie schon, da ihre Mutter die Tante Anna gebeten hatte, sich in dieser Sprache mit den Kindern zu unterhalten.

Erika half dem Fräulein Feodorovna. Sie las den jüngeren Kindern vor, erklärte Fremdwörter, hörte Hausaufgaben ab. Wenn Fräulein Feodorovna krank war, was recht oft vorkam, übernahm Erika die Klasse. Sie war eine tüchtige kleine Lehrerin, sie war immer zur Stelle, wenn weinende kleine Geschwister oder Cousins Trost brauchten.

Niemand hatte Erika je weinen gesehen. Die anderen waren, als sie klein waren, oft traurig, und dann gingen sie zu Erika. Sie trocknete Tränen, erzählte Märchen, brachte sie wieder zum Lachen.

Im Herbst 1910 zog ein Junge in die Küche auf der Etage der Kinder ein. Er hieß Vanja und war dreizehn Jahre alt. Oscar hatte Vanja als Laufburschen für seinen Laden eingestellt, aber Vanja hatte auch eine Reihe anderer Aufgaben; die Mädchen lernten schnell, Befehle zu geben, er wurde auch ihr Diener.

Er verließ die warme Küche vor dem Hellwerden, fegte die Straße vor dem Haus, ging schnell zu dem Laden in der Iverskijstraße, fegte auch dort, trug Holz und Wasser hinein, holte die Zeitung, die er auf Oscars Schreibtisch in dem kleinen Kontorraum hinter dem Ladenlokal legte.

Wenn Oscar gegen neun Uhr eintraf, wartete Vanja auf die Aufträge des Tages. Manchmal schickte Oscar ihn mit einer Rechnung auf die andere Seite der Stadt, und wenn er zurückkam, hatte Oscar eine weitere Rechnung oder einen Brief an jemanden geschrieben, der in der Nähe des Ortes wohnte, an dem Vanja gerade gewesen war.

Vanja nahm sein Essen in der Küche der braunen Villa ein. Erika hatte das Haus einmal so genannt, als sie in einem Aufsatz ihr Elternhaus beschreiben sollte. Die Geschwister hatten zugehört, als Fräulein Feodorovna Erikas Text vorgelesen hatte, und sie begannen, diesen Namen zu verwenden. Als Anna das hörte, wurde sie böse, sie verbot den Kindern, ihr Zuhause so zu nennen, es klang wie der Name einer Hütte, eines kleinen Holzschuppens.

Aber nun gab es den Namen einmal, die Kinder benutzten ihn, wenn Tante Anna es nicht hörte.

Vanja machte es ihnen nach. Er konnte weder lesen noch schreiben, aber er versuchte, wie die Mädchen zu reden, benutzte ihre Ausdrucksweise. Manchmal, wenn er in der Küche war und sie nicht wollten, dass er sie verstand, sprachen sie deutsch miteinander.

Ehe Vanja morgens die braune Villa verließ, aß er Brot und kalte Suppe, seine nächste Mahlzeit erhielt er erst spät abends. Zwischendurch trank er Wasser, um den Hunger zu unterdrücken. Er schlief oben auf dem Ofen, auf der dicken grauen Mauer, neben zwei jungen Mägden. Er lag auf einem Unterbett, das er mit Heu gefüllt hatte. Seine Kleider legte er selten ab. Einmal im Monat wurde Vanja gezwungen, in die Sauna zu gehen, alle halbe Jahr wurde ihm der Kopf kahl geschoren. Das sollte die Läuse vertreiben, aber sie kamen immer wieder.

In der Woche vor Weihnachten wurden Vanjas Kleider nach dem Saunabesuch verbrannt. Er erhielt neue Lumpen, die vorher in einer Lauge gekocht worden waren.

Eine der Aufgaben, die Vanja übertragen worden waren, war es, die Schuhe der Familie zu putzen. Besonders wichtig waren Oscars Stiefel aus Chevreauleder. Sie mussten glänzen, es durfte kein Schuhfett daran kleben, das Leder sollte weich bleiben. Oscar hatte die teuren Stiefel in der Leipziger Straße in Berlin gekauft. Er hatte den Mädchen von dem eleganten Geschäft erzählt, in dessen Eingang Palmen in Kupfertöpfen standen.

Die Chevreaulederstiefel gehörten der großen Welt an, ebenso wie Oscars Homburger, die Anzüge aus St. Petersburg und der Spazierstock aus Paris. All das verlieh Oscar Stil. Und die Anzüge sollten unbedingt gut gebügelt sein, die Stiefel mussten glänzen, das Leder blank sein.

Einmal war Oscar aufgefallen, dass die Stiefel Abdrücke auf dem Flurboden hinterließen, kleine kaum sichtbare Spuren von Schuhfett, aber trotzdem handelte es sich um eine auffallende Nachlässigkeit. Reste von Schuhfett unter den Sohlen.

Oscar ging schnell hinunter in die Küche. Vanja war natürlich nicht da, er war wohl mit einem Auftrag unterwegs, oder er hackte Holz auf dem Hinterhof des Ladens. Aber Oscar verlangte, dass Vanja geholt werden sollte. Die jüngste Magd wurde auf die Suche nach ihm geschickt.

Sie fand ihn vor dem Laden. Er putzte das Schaufenster auf Geheiß von Oscars Bürovorsteher. Vanja musste die Arbeit abbrechen und sofort in die braune Villa kommen.

Oscar hatte die Mädchen in der Küche versammelt. Er wollte, dass sie zusehen und zuhören.

Er schlug Vanja mit einer kurzen Weidenrute ins Gesicht, einen schnellen Schlag auf die rechte Wange und einen ähnlichen kurzen Schlag auf die andere Seite. Vanjas Kopf wurde hin und her geschlagen. Aber Vanja begriff nicht, warum Oscar ihn schlug. Er hob die Hände gegen die Wangen, Tränen liefen ihm aus den Augen.

»Für deine Nachlässigkeit«, sagte Oscar, »und dafür, dass du das nicht noch einmal tust.«

Vanja verstand es immer noch nicht.

»Denk genau nach«, sagte Oscar, »du weißt es bestimmt, und wenn du es nicht weißt, musst du darüber nachdenken.«

Er nickte den Mädchen zu. Dann ging er. Vanja stand da und drückte die Hände gegen seine brennenden Wangen. Die Tränen tropften ihm immer noch vom Kinn.

Spät am Abend fand Vanja ein kleines Paket mit zwei Butterbroten am Kopfende seines Bettes. Es war dickes Roggenbrot mit wunderbarer Butter bestrichen. Auf dem einen Stück Brot lag Ziegenkäse, auf dem anderen geräuchertes Fleisch. Vanja wusste nicht, wer die Brote dort hingelegt hatte. Er wollte nicht fragen. Er glaubte, dass es vermutlich Erika gewesen war.

In den Tagen nach der Bestrafung ging Vanja den Mädchen aus dem Weg. Er schämte sich, er war vor ihnen gedemütigt worden, und er verstand immer noch nicht, warum er geschlagen worden war.

Am Sonntagnachmittag, als er von der Andacht in der orthodoxen Kirche zurückkam, traf er die Mädchen auf dem Hof vor dem Haus. Sie waren mit ihren Eltern in der lutherischen Kirche unten in der Stadt gewesen. Sie kamen gerade im Wagen zurück. Vanja trat zur Seite, er hatte dort nicht zu stehen, wenn die Herrschaft nach Hause kam.

Aber Erika war schon aus dem Wagen gestiegen; sie ging schnell auf ihn zu. Er drehte sich um, und sie begrüßte ihn.

»Gottes Friede sei mit dir, Vanja«, rief Erika.

»Gottes Friede«, murmelte Vanja zurück.

Dann verschwand Vanja hinter dem Haus. Sie hatte ihn begrüßt, nur sie hatte es getan. Es war üblich, dass man einander etwas Gutes wünschte, wenn man aus der Kirche kam. Erika hatte nichts Besonderes getan.

Aber nur sie hatte ihn bemerkt.

Im Februar des darauffolgenden Jahres kaufte Alvines Bruder eine Fabrik in Samara. Dort wurden Nudeln hergestellt. Einiges wurde in der Umgebung verkauft, der größte Teil wurde mit dem Zug nach Westen transportiert. Samara lag an der Hauptbahnstrecke.

Der älteste Bruder Alfred hatte das Warenhaus übernommen. Er handelte außerdem mit Getreide. Er kaufte größere Posten bei den Großbauern des Gouvernements auf, ließ das Korn zu Mehl mahlen und verkaufte es an die Kaufleute, die das Mehl mit Schiffen auf der Wolga weitertransportierten.

Alvines Vater war gestorben, die Mutter Ida jedoch war trotz ihres Alters immer noch stark und dominierend. Sie kontrollierte ihre erwachsenen Kinder, machte zu aller Erstaunen den Töchtern gelegentlich kleine Geschenke. Es konnte Schmuck sein, Umschläge mit Geldscheinen, eine kleine Dose mit einer Goldmünze.

Für Alvine wurden die Geschenke der Mutter wichtig. Oscar gab ihr allzu wenig Geld für private Ausgaben, das Haushaltsgeld erhielt Anna. Alvine nahm die kleinen Geschenke ihrer Mutter dankbar an, und sie verkaufte oft den Schmuck und die anderen Wertgegenstände, die sie erhalten hatte.

Sie brauchte das Geld für Bücher. Sie las die ganze Zeit über Romane, sprach immer seltener mit den Bewohnern des Hauses. Wenn ihr die russischen Bücher ausgegangen oder zu langweilig geworden waren, bestellte Alvine Bücher aus Deutschland und Frankreich. Sie las in drei Sprachen, Bücher über die Liebe, über Reisen und Abenteuer, über exotische Orte, Liebe, ferne Meere, noch mehr Liebe.

Oscar reiste; wenn er zuhause war, versuchte Alvine, ihn von ihrem Bett fernzuhalten, sie schob Kopfschmerzen vor, Schmerzen im Unterleib nach den in kurzen Abständen erfolgten Entbindungen.

Im April 1911 gebar Alvine ihr viertes Kind, eine Tochter, die den Namen Magda erhielt. Erikas kleine Schwester, meine Mutter.

Das Erbe von Samara und New York

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