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Isidor von Sevilla
ОглавлениеIsidor von Sevilla wurde wahrscheinlich um 560 in der ehemaligen römischen Provinz Baetica in Hispalis (Sevilla) geboren. Die Eltern stammten aus Carthago Nova (Cartagena) in der Nachbarprovinz Carthaginiensis, mussten aber von dort emigrieren. In beiden Provinzen verfügten sie über Vermögen. Die Familie gehörte zur hispanoromanischen Oberschicht, die nach dem Untergang des Imperium Romanum bestrebt sein musste, auch unter schwierigen und oft wechselnden politischen Bedingungen ihren Rang und Einfluss zu bewahren. Nach dem frühen Tod der Eltern sorgte der älteste Sohn, Leander, für die Erziehung und Ausbildung seiner drei Geschwister. Alle schlugen eine geistliche Laufbahn ein. Jeder der drei Söhne erlangte ein Bischofsamt. Die einzige Tochter, Florentina, leitete einen Nonnenkonvent, den (möglicherweise) ihre Mutter gegründet hatte. Man kann von einer geistlichen Dynastie sprechen.
Man weiß zwar nicht, wie und worin der junge Isidor unterrichtet wurde, ob er die Kathedralschule besuchte oder ob er häuslichen Privatunterricht genoss und welche Bücher zu seiner Schullektüre gehörten; aber die Belesenheit, die er später als Autor an den Tag legte, lässt darauf schließen, dass er schon als Schüler nicht nur mit der Heiligen Schrift, sondern auch mit der antiken literarischen Tradition vertraut gemacht wurde. Als er schließlich nach dem Tod Leanders (599/600) seinem Bruder als Bischof von Sevilla und Metropolit der Kirchenprovinz nachfolgte, war es ihm ein Anliegen, die Schultradition aufrechtzuerhalten und das Bildungsniveau des Klerus zu heben. Er selbst scheint ein glänzender Prediger und engagierter Seelsorger gewesen zu sein. Zwei Provinzialkonzilien und vor allem dem Reichskonzil von Toledo 633 saß er vor, sein Einfluss auf deren Beschlüsse war beträchtlich. Gleichzeitig unterhielt er enge Beziehungen zur Politik. Denn gerade zu seiner Zeit und in seinem Wirkungskreis waren politische und religiöse Fragen nicht exakt voneinander zu trennen.
Isidor lebte und wirkte in einem geographischen Raum, der von politischen, ethnischen und religiösen Spannungen geprägt war. Von Norden dehnte sich das junge Reich der Westgoten über die Pyrenäen hin aus. Dessen Mittelpunkt lag zunächst in Toulouse, dann in Narbonne und Barcelona, schließlich in Toledo im Zentrum der Iberischen Halbinsel. Der Schwerpunkt der königlichen Herrschaft verlagerte sich allmählich nach Süden. Doch ein Küstenstreifen, den Kaiser Justinian hatte besetzen lassen, um das Römische Reich zu erneuern, blieb für ein halbes Jahrhundert in byzantinischer Hand. Die hispanoromanische Oberschicht hatte es nicht leicht, sich zwischen den Fronten zu behaupten. Das Zahlenverhältnis zwischen den gotischen Eroberern und der einheimischen Bevölkerung war extrem asymmetrisch. 100.000 Goten sollen über 9 Millionen Hispanoromanen geherrscht haben. Hinzu kam der religiöse Konflikt. Die Fremdherrschaft wurde als besonders bedrückend empfunden, weil die Goten sich zum arianischen Christentum bekannten und deshalb von der katholischen Bevölkerungsmehrheit als Ketzer betrachtet wurden.
Die Konfrontation war am heftigsten in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts und löste sich in der zweiten schrittweise auf. Zuerst kam es hier und da zu gemischten Ehen, schließlich wurde das bis dahin gültige Eheverbot aufgehoben. Die Rechte von Goten und Romanen näherten sich allmählich einander an. Weniger ein Verschmelzungs- als ein Romanisierungsprozess kam in Gang. Dessen Abschluss bildete die Konversion der Goten zum katholischen Bekenntnis. Ein erster Versuch, über die Taufe eines rebellischen Prinzen die konfessionelle Einheit zu erreichen, war noch am Widerstand des Vaters, König Leovigilds, gescheitert. Leander, Isidors älterer Bruder, hatte sich beteiligt, indem er nach Konstantinopel reiste, um der Rebellion Rückendeckung zu verschaffen. Doch schon wenige Jahre später, sofort nach dem Thronwechsel, nahm der neue König Reccared eine religionspolitische Kehrtwende vor und trat zum katholischen Glauben über (587). Das anschließende Konzil in Toledo konnte triumphal die konfessionelle Einheit im Reich der Westgoten verkünden. Leander hatte die Beratungen geleitet und hielt die abschließende Predigt. Reccared wurde gar als neuer Konstantin gepriesen.
Anders als sein Bruder und Vorgänger musste sich Isidor nicht mit der arianischen Häresie befassen. Dieser Konflikt war bereits ausgestanden, als er zum Bischof und Metropoliten berufen wurde. Er sah seine Aufgabe vielmehr darin, die neu gewonnene Einheit zu festigen und deren Grundlagen zu präzisieren. Mindestens drei seiner Werke leisteten dazu charakteristische Beiträge:
Eine „Geschichte der Goten“ (Historia Gothorum) rühmt die Traditionen, aus denen das gotische Volk hervorgegangen war, und beschreibt dessen Weg in die antike Zivilisation. Dem Werk steht ein „Lob Spaniens“ (Laus Spaniae) voran.
„Zwanzig Bücher Etymologien“ (Etymologiarum libri XX) versammeln das gesamte Wissen der Antike und stellen dem Leser das kulturelle Fundament der neuen Gemeinschaft vor Augen.
Die Schrift „Gegen die Juden über den katholischen Glauben“ (De fide catholica contra Iudaeos) bestärkt die konfessionelle Einheit, indem sie sie von einem Gegenüber, der jüdischen Minderheit, abgrenzt.
Isidors „Etymologien“ hatten also nicht einfach einen pädagogisch-schulischen Zweck, sondern waren hochpolitisch gemeint. Indem sie ein kulturelles Erbe vermittelten, sollten sie daran mitwirken, dem nunmehr katholischen Reich der Westgoten eine die beiden wichtigsten Bevölkerungsgruppen zusammenschließende Identität zu verschaffen und die Synthese von antiker Bildung, (katholisch-)christlichem Glauben und gotischer Herrschaft zu befördern. Die Anregung dazu ging von König Sisebut aus, und Isidor widmete ihm eine erste Fassung. Denn beide hatten ein gemeinsames Interesse an dem Werk.
Dessen Abschluss erlebte keiner von beiden. Sisebut starb schon 621, Isidor 15 Jahre nach ihm. Das unfertige Werk musste ein Schüler und Freund ordnen und redigieren. Doch alle Weichen hatte der Verfasser gestellt. Erstens hatte er sein Werk als Enzyklopädie angelegt, also als umfassende Sammlung alles Wissenswerten, geordnet nach Themenbereichen und Sachverhalten, über die man nachdenken konnte, die zu beobachten waren oder von deren Existenz man überzeugt war. Zu diesem Zweck trug er alle ihm erreichbaren Bücher zusammen (schon das war in den Wirren seiner Zeit eine Leistung) und entnahm ihnen, was er für mitteilenswert hielt. Die Liste seiner Quellen und Vorlagen ist auch dann noch erstaunlich, wenn man unterstellt, dass er manches nur indirekt, anderes nur oberflächlich kannte. Zweitens gab er das, was er vorfand, nur in verkürzter Form wieder. Zum Beispiel die „Naturgeschichte“ (Naturalis historia) des älteren Plinius war viel umfangreicher als Isidors „Etymologien“. Er benutzte sie eifrig, übernahm aber nur einen Bruchteil ihrer Informationen. Es ging ihm nicht um jedes Detail, sondern auf das Wesen der Dinge kam es ihm an. Dieses aber glaubte er – drittens – zuerst in deren Namen zu erkennen. Sein Griechisch war bescheiden. Aber er wusste, dass to étymon „das Wahre“ bedeutet und dass der tiefere Sinn einer Sache sich über ihren Namen erschließt – „denn jede Einsicht in eine Sache ist klarer, wenn man die Herkunft des Wortes erkannt hat“.1 Deshalb nannte er sein Werk – nach einigem Schwanken – ein Buch der Etymologien.
Auf diese Weise entstand ein Text, der eine Brücke von der Antike zum Mittelalter schlug. Er handelt von Grammatik, Rhetorik und Musik, von Mathematik, Medizin und Recht, von Gott, der Kirche und den Engeln, von Menschen, Tieren und Steinen, von Landwirtschaft, Hausbau und Kriegen, nicht zuletzt von Geographie. Auf allen diesen Feldern wurde das Wissen der Vergangenheit für die Zukunft bewahrt.