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Antike Geographie

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Welches geographische Wissen konnte der Bischof von Sevilla kommenden Generationen vermitteln? Beschränkte es sich auf den Mittelmeerraum und das vergangene Imperium Romanum oder ging es darüber hinaus? Anders gefragt: Wie weit reichte der Horizont der Antike? Wo lagen die Grenzen der Welt für Griechen und Römer?

Das geographische Wissen der Antike wurde dauerhaft in drei großen Schüben vermehrt: zuerst durch die „Große griechische Kolonisation“, die das Siedlungsgebiet der griechischen Stämme auf die Küsten Kleinasiens, des westlichen Mittelmeerraums und des Schwarzen Meers ausdehnte, dann durch die Feldzüge Alexanders des Großen bis nach Indien, schließlich durch die Expansion des Römischen Reichs in alle Himmelsrichtungen. Hinzu kamen die Unternehmungen Einzelner, die Unternehmungen von Kaufleuten, Abenteurern und Gesandten, die mit ihren spektakulären Berichten die Lücken des Wissens auffüllen konnten und deshalb stets Aufmerksamkeit fanden. Doch je weiter sie kamen, desto mehr verschwammen ihre Erzählungen ins Ungewisse oder wurden als aufregende Nachrichten von weit entfernten, entweder idealen oder schrecklichen, Welten begriffen. Auf diese Weise waren die Weltkenntnisse der Antike ebenso ausgreifend wie umhegt und begrenzt.

Als äußerste westliche Grenze wurden die „Säulen des Herkules“ (d. i. die Meerenge von Gibraltar) betrachtet. Der Halbgott selbst soll sie aufgestellt haben, und nur ihm war es vergönnt, über sie hinaus auf den Atlantik zu fahren, um eine seiner mythischen Taten dort zu vollbringen. Den Menschen dagegen sollten sie die Grenze ihres Wagemuts anzeigen. Noch in römischer Zeit fühlte man sich im Mittelmeer (dem mare nostrum), nicht aber auf dem Ozean zu Hause. Die Kanarischen Inseln galten als die „Glücklichen Inseln“ (Fortunatae insulae) und wurden nur von ganz wenigen aufgrund besonderer Umstände betreten. Ihre Entdeckung gelang auch nicht einem Römer, sondern einem Expeditionskorps des Königs Juba von Mauretanien. Doch gerade in der Abgeschiedenheit lag ihr paradiesischer Reiz. Ein mildes Klima, sanfte Winde, mäßige Niederschläge und Überfluss an allem sagte man ihnen nach. Bis zu den Barbaren habe sich der Glaube verbreitet, „dass dort das Elysische Gefilde und die Wohnung der Seligen liegen, die Homer besungen hat“ – so noch Plutarch im 2. Jahrhundert n. Chr.2

Wenn schon der atlantische Westen den Blicken der Römer entzogen blieb, so erst recht der äußerste Norden. Zwar hatte schon im 4. Jahrhundert v. Chr. Pytheas, ein griechischer Seefahrer aus Massalia (Marseille) die karthagischen Sperren bei Gibraltar umfahren und die nördlichen Meere erkundet. Er erzählte von Packeis, Nebelbänken und endlosem Dunkel, schließlich auch von einer fernen Insel, auf der Menschen von wilden Früchten, Wurzeln, Kräutern und etwas Viehzucht überleben konnten. Er nannte sie Thule, der Dichter Vergil fügte das Attribut ultima hinzu, und so war der Mythos von der „entferntesten Insel Thule“ (ultima Thyle) geboren.3 Man versuchte, sie zu identifizieren, hielt sie aber für unzugänglich und gab sich gerne damit zufrieden. Schon Britannien, geschweige denn Skandinavien, zählten die Römer nicht zu Europa. Denn je rauer das Klima, desto wilder seien die Menschen. Man hatte eine Vorstellung von Ostsee und Nordsee; schließlich gab es auch Handelsverbindungen dorthin. Aber jenseits des Rheins verschwammen die Kenntnisse der Geographen. Tacitus rühmte zwar das einfache Leben der Germanen, um seiner römischen Umgebung ein Muster an unverdorbener Moral vor Augen zu halten; aber er vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, wie schaurig die Urwälder und Moore Germaniens seien. Er schloss daraus, dass die Germanen die Ureinwohner sein müssten; denn wer hätte „Asien oder Afrika oder Italien verlassen und Germanien ansteuern mögen, das so ungestaltet in seinen Landschaften, rau in seinem Wetter und unfreundlich in Anbau und Aussehen ist – es müsste denn sein Heimatland sein?“4 Aus freien Stücken gehe niemand dorthin. Rhein und Donau galten als äußerste Grenzen einer Zivilisation, die ihre Wurzeln am Mittelmeer hatte.

Einer ausgreifenden Kenntnis des Südens, also Afrikas, standen das Atlasgebirge und die Wüste Sahara im Wege. Sie bildeten eine Grenze des antiken Wissens. Nur den Norden kannte man gut. Die Provinzen Africa und Cyrenae gehörten bereits in republikanischer Zeit zum Römischen Reich, Mauretania wenig später, und für die Kultur Ägyptens hatten sich schon die Griechen sehr interessiert. Herodot zeigte an ihrem Beispiel, was er sich unter einer ganz anderen, einer „verkehrten Welt“ vorstellte. Denn alles schien dort der griechischen entgegengesetzt. Gern hätte er auch gewusst, von wo die fruchtbaren Fluten kamen, die alljährlich das Niltal überschwemmten. Wie viele andere stellte er sich die Frage nach den Quellen des Stroms, und wie viele andere tappte er im Dunkeln. Auch eine römische Expedition, von Kaiser Nero im Jahr 61 n. Chr. befohlen, kam nicht an ihr Ziel. Seitdem gingen die Meinungen vollends auseinander. Die einen nahmen an, dass der Nil in Westafrika entspringe und von dort – zum Teil unterirdisch – nach Ägypten abfließe. Die anderen vermuteten den Ursprung des Stroms weit im Süden, in zwei Seen bei den sogenannten Mondbergen. Doch das alles war pure Spekulation. Das Land der „Schwarzen“, der Äthiopen, blieb das, was es schon für Homer war, nämlich das Land der „äußersten Menschen“. Niemand hatte eine Vorstellung, wie weit der Kontinent nach Süden reichte. Die Expedition des Karthagers Hanno entlang der westafrikanischen Küste (um 525 v. Chr.) wird immerhin noch von Plinius erwähnt. Eine andere, frühere, die um den ganzen Kontinent herumgeführt haben soll, kannten nur Herodot und nach ihm auch Strabo, aber keiner der lateinischen Schriftsteller. Sie war fast völlig in Vergessenheit geraten.

Weiter reichte die Kenntnis des Ostens. Das hängt mit den vielfältigen und immer besonderen Beziehungen zusammen, die das werdende Europa mit Asien unterhielt. Oft lagen die Reiche des Ostens mit denen des Westens im Krieg miteinander. Die Griechen wehrten sich gegen die Ansprüche der persischen Großkönige und ergriffen schließlich selbst die Initiative. Auch als Söldner wurden sie interessant. Daraus ergaben sich geographische Kenntnisse, wie sie etwa Xenophon vermittelte, als er den Zug der „Zehntausend“ von Mesopotamien zum Schwarzen Meer beschrieb. Alexander den Großen (den man auch den Maßlosen nennen könnte) zog es über Persien hinaus nach Indien, wo er mit Kleinkönigen am Oberlauf des Indus in Kontakt und Konflikt geriet. Einige seiner Gefolgsleute beschrieben seine und ihre Taten. Die Römer traten insofern ein weiteres Erbe der Griechen an, als auch sie mit Asien Krieg führten und zuerst mit den Parthern in Iran, dann mit deren Nachfolgern, den Sassaniden, fast unentwegt im Streit lagen.

Doch da man nicht immer Krieg führen kann, blieb auch Raum für friedliche Kontakte. Ein gewisser Skylax von Karyanda fuhr im Auftrag des persischen Großkönigs die südasiatische Küste entlang (512/509), der Arzt Ktesias aus Knidos in Kleinasien lebte 17 Jahre am Hof in Persepolis (405 – 388), und Megasthenes, von dem wir sonst nicht viel wissen, wurde als seleukidischer Gesandter an den Hof des Maurya-Kaisers Chandragupta in Pataliputra (Patna) am Ganges geschickt (um 302 v. Chr.). Alle drei hörten und erzählten von seltsamen Menschenrassen, die in Indien ihr Wesen oder Unwesen trieben: Kynokephale (Hundsköpfige), die einen Hundekopf auf einem menschlichen Körper trugen; Akephale (Kopflose) oder Blemmyer, die gar keinen Kopf besaßen, sondern Mund, Nase, Augen auf der Brust hatten; Skiapoden oder Monopoden, die sich selbst mit ihrem einen großen Fuß Schatten spenden und auf diesem auch noch besonders schnell laufen konnten; Pygmäen, die immerwährend gegen Kraniche kämpften; mundlose Astomen, die sich vom Geruch von Wurzeln, Blüten oder Äpfeln ernährten; Makrobier, die 120 Jahre, andere, die nur acht Jahre alt wurden, deren Frauen aber schon im Alter von fünf Jahren gebärfähig waren; Opisthodaktylen (Rückwärtsfüßler), Struthopoden (Straußenfüßler), Panotier (Großohrige), Ichthyophagen (Rohfischesser), Großlippler, Nasenlose, Giganten, Zyklopen und andere mehr. Sie wurden später als „Wundervölker“ (homines monstruosi) bezeichnet und sollten in der mittelalterlichen Literatur und Kosmographie eine bemerkenswerte Karriere erleben.

Über Indien hinaus reisten nur die Kaufleute. Zwar wurde im Jahr 166 n. Chr. am chinesischen Kaiserhof in Luoyang eine Gruppe von Besuchern registriert, die sich als Gesandte des römischen Kaisers Mark Aurel ausgaben. Aber wahrscheinlich handelte es sich um Kaufleute, die sich davon eine bessere Behandlung und wohl auch bessere Geschäfte versprachen. Etwas früher, wohl um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert kamen Agenten eines gräko-syrischen Geschäftsmanns Maës Titianos ins östliche Turkestan und erfuhren dort einiges über die Handelsrouten, die ins Innere Chinas führten. Sie erkundeten also die zentralasiatischen Verkehrswege, während ihre Nachfolger ein halbes Jahrhundert später über die sogenannte maritime Seidenstraße, auf dem Seeweg über Südostasien, nach China gelangten. Immer ging es um die chinesische Seide als wertvollstem Handelsgut, und die Leute, die sie herstellten (oder verkauften), nannte man Serer („Seidenleute). Zahlreiche römische Autoren befassten sich mit ihnen, hatten also einen vagen Begriff von China und den Chinesen. Nur in der griechischen Tradition sprach man auch (und zutreffender) vom Land Thin und den Sinern, die es bewohnten.

Aus all dem ergab sich ein Bild: Asien galt bei Griechen und Römern als der mit Abstand größte und bevölkerungsreichste Kontinent. Mehrere Großreiche gehörten zu ihm, und noch von fernen Inseln wie Taprobane (Ceylon, Sri Lanka), Chrysé (Goldinsel) oder Argyre (Silberinsel) wurden großartige Dinge erzählt. Asien galt in vielem als überlegen, überlegen durch sein warmes, feuchtes Klima und die davon herrührende Fruchtbarkeit, überlegen durch Reichtum und Luxus. Plinius beklagte den andauernden Abfluss von Edelmetall durch den Handel mit Seide und warnte vor den langfristigen Folgen. Man konnte sich damit trösten, dass Reichtum die Menschen verdirbt. Orientalen galten deshalb als weich, dekadent und effeminiert, als schwach, feige und dem Wohlleben ergeben. Doch je größer die Entfernung, umso idealer schienen die Welten. Das galt schon für die „barbarischen“ Skythen, also die Völker jenseits des Schwarzen Meeres, des Tanais (Don) und der Mäotischen Sümpfe (Asowsches Meer), deren Lebensweise man für frugal und vorbildlich hielt. Das galt erst recht für die Serer, denen Langlebigkeit, Gerechtigkeit und moralische Integrität nachgesagt wurden. Eine Art Serer-Mythos war in Umlauf. Doch die meiste Bewunderung wurde Indien und den Indern entgegengebracht. Man hörte von der Weisheit der Brahmanen und Gymnosophisten, hielt sich den Reichtum des Landes an Edelsteinen, Gewürzen und Duftstoffen vor Augen, staunte über indische Witwen, die sich (angeblich) freiwillig verbrannten, und erfreute sich an den Kapriolen, die die Natur dort schlug. Auch von den „Wundervölkern“ wurde immer wieder Neues und Faszinierendes erzählt. Indien blieb im Weltbild der Europäer eine „verzauberte Welt“, deren Schätze als „das Köstlichste“ galten, „was es auf Erden gibt“.5

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