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Das Heilige Land

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Dass mittelalterliche Kartographen (und die Betrachter ihrer Karten) dem Heiligen Land besondere Aufmerksamkeit schenkten, liegt auf der Hand. Denn dort in Palästina hatte die Wiege des Christentums gestanden; dort lagen seine Wurzeln, und das war für fast jedermann von Belang. Da das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen war, übernahm es dessen örtliche Traditionen, die viel mit Jerusalem, weniger mit Ägypten, dem Sinai und dem Zweistromland, gar nichts mit dem Rest der Welt zu tun hatten. Zugleich schuf es neue Traditionen, die sich an das Leben Jesu knüpften. Christus aber hatte ausschließlich in Palästina gewirkt. Das Christentum definierte sich – nach schier endlosen Debatten, die sich um Christi Gottesnatur gedreht hatten – als monotheistische Religion auf trinitarischer Grundlage. Es erhob also wie das Judentum Anspruch auf alleinige Wahrheit und exklusive Geltung. In fremde Geistes- und Götterwelten konnte seine Glaubenslehre nicht „übersetzt“ werden. Doch anders als das Judentum verschrieb es sich der Mission und wollte alle Völker erreichen. Christi Missionsbefehl war von Beginn an in Geltung. Dadurch wurde die Botschaft von Sündenfall und Erlösung weit über ihren Ursprung hinaus verbreitet. Indem sie sich auf konkrete Orte bezog, waren diese ein integraler Bestandteil des christlichen Glaubens. Die geistige Bindung an das Heilige Land, wo der eine Gott sich mehrfach offenbart hatte, blieb dadurch immer präsent. Nirgendwo kam sie so deutlich zum Ausdruck wie auf Karten.

Man hat 21 mittelalterliche Karten gezählt, die allein das Heilige Land zeigen, also Regionalkarten darstellen. Für keine andere Region lassen sich auch nur annähernd vergleichbare Zahlen angeben. Nur Palästina zog so viel Aufmerksamkeit auf sich. Zwar stammen fast alle diese Karten aus dem 12. – 15. Jahrhundert. Aber die älteste Heiligland-Karte, ein Mosaik auf dem Fußboden einer byzantinischen Basilika im heute jordanischen Madaba, stammt aus der Mitte des 6. Jahrhunderts, also aus einer Zeit, bis zu der wir überhaupt nichts Vergleichbares besitzen, schon gar nicht in dieser Dimension. Mehr als zwei Millionen verschiedenfarbige Steinchen wurden aufgewandt, um auf einer Fläche von 144 Quadratmetern ein Bild des Heiligen Landes mitsamt den benachbarten Regionen entstehen zu lassen. Boote auf dem Toten Meer, Palmen bei Jericho, Gazellen in der Wüste und Fische in Jordan und Nil sollten die Illusion einer Landschaft erzeugen. Doch vor allem kam es darauf an, durch die den Baulichkeiten beigefügten Inschriften zu erklären, welcher Ort welche biblische Bedeutung besaß. Madaba war bis zu seiner Zerstörung im Jahre 746 Bischofssitz und Wallfahrtsziel. Vielleicht gab die Karte den Pilgern die Möglichkeit, sich auf das Erlebnis einer sakralen Landschaft einzustellen. Sicher aber bezeugt sie die definitive Inbesitznahme Palästinas durch das Christentum am Ende der Antike. Da mit den Muslimen bald weitere Mitbewerber auf den Plan traten und dann heftig mit den Christen konkurrierten, sollte es auch auf späteren Karten immer wieder um Besitz und Herrschaft in Gottes eigenem Land gehen.

Den Höhepunkt des Konflikts zwischen Christen und Muslimen bildeten die Kreuzzüge und das halbe Jahrhundert, das auf sie folgte. Eingeleitet wurde er durch die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099, neu entfacht durch die Rückeroberung der Heiligen Stadt 1187, nicht abgeschlossen durch die Einnahme Akkons als letztem christlichen Stützpunkt 1291, erst gemildert durch den Modus vivendi, der seit den 1330er-Jahren praktiziert wurde. Kartographen konnten zu all dem etwas beitragen, indem sie den Konflikt visuell feststellten, Grenzlinien zwischen den Konfliktparteien zogen und die Ansprüche der eigenen Seite hervorhoben.

Die christlichen Eroberer sahen sich zunächst vor die Aufgabe gestellt, ein Land zu erkunden, das sie bis dahin nur aus der Heiligen Schrift kannten. Man wusste von den benachbarten Wüsten, hatte eine Vorstellung vom Roten und vom Toten Meer und erwartete ein Land, in dem Milch und Honig fließen sollten. Mit der Wirklichkeit musste man zurechtkommen. Auf die Eroberung der Städte und festen Plätze folgte die Erfassung und Erkundung des Landes. Bewaffnete Expeditionen wurden ausgeschickt, um die Herrschaft der Kreuzfahrer zu sichern und gleichzeitig ein Bild von der natürlichen Beschaffenheit Palästinas zu gewinnen. Landnahme und Landesaufnahme fielen in eins. Fulcher von Chartres, Kaplan König Balduins I. von Jerusalem und Teilnehmer an einer dieser Streifzüge, berichtet, wie man mithilfe einheimischer Führer das Gelände explorierte, die Früchte des Landes kennenlernte (süße, wohlschmeckende Datteln zum Beispiel) und sich schließlich mit den Eigenarten des Toten Meeres (des „Salzmeers“ der Bibel) vertraut machte: Niemand könne darin „untertauchen oder ertrinken, selbst wenn er es wollte“,14 und das Wasser sei „bitterer als Nieswurz“;15 es sei „dermaßen salzhaltig, dass weder Vierfüßler noch Vögel es trinken können“.16 Die Erklärungen, die sich Fulcher zurechtlegte, lassen erkennen, wie sehr ihn die natürlichen Verhältnisse irritierten. An einer anderen Expedition, die zum Roten Meer führte, konnte er nicht teilnehmen. Aber er ließ sich von den Heimkehrern berichten und bekam auch Gesteinsproben vorgelegt. Aus ihnen schloss er, dass das Wasser des Roten Meeres „so hell und klar“ sei „wie jedes andere Meerwasser“ und nur der felsige Untergrund den Eindruck einer roten Färbung erzeuge. Isidors „Etymologien“, wo man eine ähnliche Erklärung lesen konnte, stand ihm offenbar nicht zur Verfügung.17


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Jerusalem auf der Mosaikkarte in Madaba (Jordanien) aus dem 6. Jh.

Aus diesen und ähnlichen Beobachtungen formte sich den Kreuzfahrern ein genaueres Bild von der Natur des Landes, in dem sie heimisch werden sollten. Ihr Wissen bildete die Grundlage für Landesbeschreibungen (wie die des Rorgo Fretellus aus Nazareth), wurde von Pilgern genutzt (Johannes von Würzburg zum Beispiel) und ging in die zahlreichen Palästina-Karten ein, die seit dem 12. Jahrhundert entstanden. Wie genau sie sein konnten, auch wenn sich der Verfasser nie in Palästina aufhielt, zeigen die vier Exemplare, die der gelehrte Geschichtsschreiber Matthaeus Parisiensis im fernen Kloster Saint Albans bei London um die Mitte des 13. Jahrhunderts verfertigte. Über Chroniken und Pilgerberichte hinaus standen ihm vermutlich auch mündliche Auskünfte zur Verfügung – so detailgenau sind seine Karten. Sie verzeichnen Straßen, Berge und andere topographische Merkmale, Entfernungen, Herrschaftsverhältnisse und eine große Zahl von Kreuzfahrerburgen, bis heute die eindrucksvollsten Zeugen christlicher Präsenz im Heiligen Land. Überall bemüht sich der Autor um größtmögliche Aktualität seiner Darstellung. Freund und Feind werden mit Namen genannt. Zwar ist Jerusalem mittlerweile verloren. Noch aber befindet sich Akkon in christlicher Hand. Deshalb treten Hafen und Festung übergroß in Erscheinung. Diese Stadt sei die „Hoffnung und Zuflucht aller Christen im Heiligen Land“.18 So heißt es auf einer der vier Karten.


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Matthaeus Parisiensis: Akkon, der letzte christliche Stützpunkt im Heiligen Land (um 1250; London, British Library, Royal MS 14 C VII, fol. 4v – 5r)

Ein halbes Jahrhundert später war auch Akkon verloren. Von der christlichen Herrschaft war nichts mehr geblieben. Karten, die Palästina als Heiliges Land der Christen wiedergeben, brachten keine tatsächlichen Verhältnisse, sondern Forderungen zum Ausdruck. Namentlich auf die Heilige Stadt Jerusalem richteten sich die Ansprüche.

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