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Symbolkartographie
ОглавлениеSelbst dort, wo noch ein enger Zusammenhang mit Isidors „Etymologien“ erhalten blieb, konnte das Schema deutlich über seine ursprüngliche Aufgabe hinausgehen und Inhalte in sich aufnehmen, die die Aussage des Kartenbilds in eine neue Richtung drängten. Eine Münchener Handschrift aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhundert enthält eine ganzseitige Weltkarte, die Isidors Kapitel über den Erdkreis (De orbe) illustriert. Das TO-Schema ist gut erkennbar, wenn auch an den Kontinentalgrenzen in Auflösung begriffen. Insofern hält sich das Bild an den Text. Doch die Karte bietet mehr, als dieser verspricht. Es handelt sich nämlich nicht einfach um eine Darstellung geographischer Verhältnisse, sondern um eine Verortung von Geschichte. Fast alle Ortsnamen bezeichnen Schauplätze, an denen in der Vergangenheit etwas Bedeutsames stattfand. Einige erinnern an Taten der Griechen und Römer (Rom, Athen, Karthago, Karrhae), andere sind der biblischen Geschichte entnommen (Tyrus, Babylon, Kapernaum, der Berg Sinai), und davon die wichtigsten spielen auf die Heilsgeschichte an. Durch Noahs Arche wurde die Menschheit, am Roten Meer das Volk Israel gerettet. Der Durchgang durch die Fluten ist mit einer Art Landbrücke kenntlich gemacht. Die rote Farbe weist auf das Blut Christi voraus. Geburt und Tod des Herrn werden durch die Stadt Bethlehem und die Grabeskirche in Jerusalem repräsentiert, und das apokalyptische Ende der Geschichte wird durch die Völker Gog und Magog eingeleitet, die aus ihrem Gefängnis hinter dem Kaukasus, hinter den porte Caspie, ausbrechen werden, in das sie Alexander der Große eingeschlossen hatte. Überhaupt sind die Taten des ruhelosen Welteroberers und vorchristlichen Gottsuchers (so hat das Mittelalter Alexander gesehen) gleich mehrfach verzeichnet (are Alexandri, castra Alexandri, columpne Alexandri, civitas Alexandria u. Ä. m.). Bei Isidor hatte er keine vergleichbare Rolle gespielt.
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Anonyme Isidor-Karte aus dem späten 11. oder frühen 12. Jh., deren Einträge auf Ereignisse der weltlichen, biblischen und Heilsgeschichte anspielen, am auffälligsten mit der Farbe des Roten Meers, die auf das Blut Jesu Christi vorausweist (München, Bayer. Staatsbibl., clm 10058, fol. 154v).
Die Aussage der Karte geht also weit über den von ihr illustrierten Text hinaus. Dem großen Philosophen und Theologen Hugo von St. Viktor (†1141), der die irdischen Dinge als Zeichen begriff, die auf die jenseitigen verweisen, hat sie so gut gefallen, dass er sie (oder eine ihr zum Verwechseln ähnliche) ausführlich beschrieb. Ihr Anliegen war die Darstellung der Heilsgeschichte im Spiegel ihrer Schauplätze auf Erden, die Durchdringung geographischer Gegebenheiten mit geistlichem Sinn. Sie stellt ein frühes Beispiel einer „heilsgeschichtlich orientierten Symbolkartographie“13 dar, wie sie im ganzen Hochmittelalter und sogar darüber hinaus als beispielhaft galt. Antike Bildung und christliche Deutung gingen in ihr eine charakteristische und lange Zeit überzeugende Verbindung ein.
1 Isidor von Sevilla, Etymologiae I, XXIX 3: Omnis enim rei inspectio etymologia cognita planior est.
2 Plutarch, Vita des Sertorius 8 (zit. Sonnabend, Grenzen der Welt, S. 76).
3 Vergil, Georgica I 30.
4 Tacitus, Germania 2.
5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 174, 178.
6 Franz Ferdinand Schwarz, zit. Schneider, Kosmas Indikopleustes, S. 266.
7 Von den Brincken, Fines Terrae, S. 45.
8 Isidor von Sevilla, Etymologiae XIII, I 2: Nihil enim mundo pulchrius oculis carnis aspicimus; Übersetzung Möller, S. 491.
9 Isidor von Sevilla, Etymologiae XIII, IV 18: terra omnibus pulcherrima, soli fertilitate, pabuli ubertate gratissima; Übersetzung Möller, S. 526f.
10 Lindgren, Abstraktion, S. 30.
11 Isidor von Sevilla, Etymologiae XIII 6,1: in circumductione sphaerae existunt; Übersetzung Möller, S. 495.
12 Isidor von Sevilla, Etymologiae XIV, V 17: solis ardore incognita nobis est; Übersetzung Möller, S. 530.
13 Anna-Dorothee von den Brincken, Descriptio Terrarum. Zur Repräsentation von bewohntem Raum im späteren deutschen Mittelalter, in: dies., Studien zur Universalkartographie, S. 623 – 646, hier S. 628.