Читать книгу Das Bild der Welt im Mittelalter - Folker Reichert - Страница 18
Christliche Kartographie
ОглавлениеHonorius Augustodunensis hat keine eigene Weltkarte angefertigt oder konzipiert. Man kann nur vermuten, dass er in seinen Unterlagen auch kartographisches Material besaß. Doch keines seiner Werke, nicht einmal die Imago mundi, glaubte er mit einer Karte ausstatten zu sollen. Die Leser seiner Enzyklopädie mussten ohne kartographische Anschauung auskommen. Mehrere Kopisten sahen sich veranlasst, die Überlieferung zu korrigieren und den Mangel – so es denn einer war – zu beheben. Die meisten begnügten sich mit einer einfachen Skizze. Nur einer gab sich mehr Mühe. Er lebte und arbeitete im Domkapitel zu Durham im nordöstlichen England und schickte einer Abschrift der Imago mundi eine detaillierte Weltkarte voraus. Aufgrund eines Missverständnisses wurde er lange Zeit mit einem Kanoniker Heinrich von Mainz identifiziert. Doch mittlerweile verzichtet die Forschung auf eine namentliche Bezeichnung des Autors und spricht nur noch von der „Sawley-Karte“. Denn von Durham kam die Handschrift schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts in die kleine Zisterzienserabtei Sawley in Lancashire (ehemals Yorkshire) nahe der Irischen See, nach deren Auflösung (1536) schließlich in das Corpus Christi College in Cambridge.
Die Karte sollte den Text der Imago mundi illustrieren, gibt aber deren Inhalt nur in den Grundzügen wieder. Wahrscheinlich hatte der Kartenmacher eine großformatige, gerollte oder gefaltete Weltkarte zur Verfügung, die er auf Buchformat reduzierte. Sie war also für die Imago mundi zunächst nicht bestimmt und kennt Orte, die dort gar nicht vorkommen: Köln am Rhein, Paris in Frankreich, Meroë in Ägypten, den südindischen Hafen Kottonara (Coconare), über den – so Plinius – in der Antike der Pfeffer exportiert wurde, die Stadt Henoch (Enos), die Kain vorzeiten gebaut haben soll. Von all dem konnte man anderswo lesen, nicht aber bei Honorius Augustodunensis. Trotzdem waren Text und Karte miteinander kompatibel: Beide sind dem TO-Schema verpflichtet, verfolgen enzyklopädische Absichten und wollen das Wirken Gottes in der Welt erklären. Auch in der Auswahl der in Geschichte und Heilsgeschichte wichtigen Orte ähneln sie sich.
Der Kartenmacher machte sogar noch deutlicher, dass es ihm um eine christliche Sicht auf die Welt ging. Die Mittel der visuellen Reduktion und Konzentration, die den Kartographen privilegieren, brachte er dabei wirkungsvoll zum Einsatz: Den Rahmen bilden vier Engel, die auf die Schauplätze des Heilsgeschehens hinweisen. Ganz im Osten, wo nach dem Zeugnis der Genesis alles anfing, liegt das irdische Paradies, aus dem die vier Paradiesflüsse Gihon (Nil), Phison (Ganges), Euphrat und Tigris austreten und dann die Erde durchspülen. Westlich davon, weiter unten auf der Karte, erhebt sich der Turm von Babel. Mit der Verwirrung der Sprachen begann hier die Geschichte der Völker, die die Länder der Erde besiedeln. Als das heilsgeschichtlich bedeutsamste galt das Volk Israel, dessen Siedlungsgebiet sich unmittelbar anschließt. Von dort aus fand das Christentum seinen Weg nach Rom und von da bis an die Grenzen Europas. Weitere Orte, die in der Geschichte des Christentums eine Rolle gespielt hatten (das Rote Meer, der Berg Sinai, das Gefängnis der Völker Gog und Magog, die Wüstenklöster des heiligen Antonius, Antiochia, Konstantinopel, das Jakobus-Grab in Spanien u.a.m.), säumen den Weg des Heils, der nach Ansicht des Kartographen vom Paradies in gerader Richtung bis nach Rom geführt hatte. Man kann von einer „Heilsachse“ sprechen.13 Das scheinbare Zentrum der Karte bilden die Kykladen (Cyclades insule) mit dem Apollo-Heiligtum auf Delos. Man hat versucht, den merkwürdigen Sachverhalt mit dem Weiterwirken antiker Traditionen zu erklären. Doch der optische Eindruck täuscht. Der unmittelbar darüber liegende Raum zwischen Libanon, Gilead, Jordan und Mittelmeer mit den Wohngebieten aller zwölf jüdischen Stämme (nirgendwo sonst auf einer mittelalterlichen Weltkarte sind sie vollständig verzeichnet) und den Städten Jerusalem, Bethlehem und Jericho nimmt mehr Platz in Anspruch als jeder andere Landstrich auf der Karte. Er zieht alle Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich.
2
Sog. Sawley-Karte (um 1190; früher Heinrich von Mainz zugeschrieben): Eine „Achse des Heils“ führt vom irdischen Paradies über die Paradies flüsse nach Jerusalem und von da weiter nach Rom. Die Verzeichnung aller zwölf jüdischen Stämme lenkt den Blick des Betrachters auf das Heilige Land (Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 66, S. 2).
Die Karte aus Sawley, deren größere Vorlage wir nicht kennen, hatte Vorläufer und fand Nachfolger, vor allem in England. Schon die sogenannte Angelsächsische Weltkarte oder Cottoniana (benannt nach dem Handschriftensammler Robert Bruce Cotton, 1571 – 1631), entstanden im frühen 11. Jahrhundert, heute im Britischen Museum, gab den jüdischen Stämmen ähnlich viel (wenn nicht noch mehr) Raum, hielt sich aber mit weiteren christlichen Einträgen eher zurück. So gibt es im äußersten Osten kein Paradies, sondern nur einen Goldberg, die fruchtbare Insel Taprobane und ein Übermaß an Löwen (hic abundant leones). Eine Oxforder Karte von ca. 1100 oder 1110 sieht dagegen die Welt im Zeichen des Kreuzes und füllt deren Mitte mit dem Namen der Heiligen Stadt HIERUSALEM, geschrieben in Majuskeln, mit graphischer Emphase sozusagen. Dafür muss es besondere Gründe gegeben haben.
In der Dichte der Einträge und der Stringenz ihrer Konzeption wird die Karte aus Sawley von ihren Vorläufern nicht erreicht. Übertroffen wird sie von der sogenannten Psalterkarte in London. Das ist insofern bemerkenswert, als sie einen Durchmesser von gerade einmal 9 cm besitzt und mit extrem wenig Bildfläche auskommen muss. Wahrscheinlich wurde sie um 1265 nach einer viel größeren Vorlage, vielleicht einer Wandkarte, vielleicht in Westminster, gezeichnet. Nur so lässt sich die Fülle der Informationen erklären. Das Ergebnis schmückt ein kleinformatiges (14,4 × 10,3 cm) Gebetbuch, das einen Kalender und den Psalter enthält. Daher der Name, unter dem die Karte bekannt ist. Sie fungiert als eine Art bildlicher Prolog. Da die Psalmen die Schöpfung besingen und so das Lob Gottes verkünden, hätten sie gar nicht angemessener illustriert werden können.
3
Auf der Oxforder Weltkarte von ca. 1100/1110 scheint Europa die beiden anderen Kontinente zu dominieren. Erstmals erscheint Jerusalem als karto graphische Mitte der Welt. Wahrscheinlich gab die Eroberung der Heiligen Stadt im Ersten Kreuzzug dazu den Anlass (Oxford, St. John’s College, Ms. 17, fol. 6r).
4
Die Londoner Psalterkarte gibt einer christlichen Weltsicht Ausdruck. Ihr Rahmen beschreibt die Herrschaft Jesu Christi, das Kartenbild den Weg des Heils in der Welt. Jerusalem erscheint markant als deren Mitte (London, British Library, Additional MS 28681, fol. 9r).
Entschlossen folgt der Verfasser dem TO-Schema, und das in dreifacher Hinsicht: im Rahmen, auf der Karte selbst und auf deren Rückseite. Über der Welt thront Christus als allmächtiger Herrscher, als Pantokrator, dem allein ein Kreuznimbus zusteht. Gezähmte Drachen unterwerfen sich ihm, zwei Engel schwenken Weihrauch. Mit der Linken segnet Christus die Schöpfung, die Rechte hält einen Globus, den ein aufgetragenes T als Erdkugel kennzeichnet. Die Karte führt das Bild weiter aus und füllt das Schema mit bedeutsamen Orten. 145 Inschriften sind zu entziffern, manche nur bei genauem Hinsehen. Asien hat Geschichte, Europa die Gegenwart, Afrika vor allem wundersame Menschen zu bieten. Was auf der Vorderseite im Bild gezeigt ist, wird auf der Rückseite durch eine Beschreibung der Kontinente unterstützt. Christi Leib umspannt hier schützend den Globus.
Ins Auge springen die Orte, auf die es bei einer geistlichen Deutung des Kartenbilds ankommt. Wie ein Blickfang wirkt das irdische Paradies, nicht nur wegen der Nähe zu Christus, sondern auch weil nur hier zwei unbestritten menschliche Wesen zu sehen sind: nicht Adam und Eva, wie meistens gesagt wird, sondern die Propheten Henoch und Elias, die beide an ihrem Lebensende entrückt wurden. Dem Garten Eden entströmen die Paradiesflüsse (nicht vier, sondern fünf, weil der Ganges nicht wie sonst üblich mit dem Phison gleichgesetzt ist) und bewässern die Erde. Den Süden nimmt von dort aus das (wie immer blutig) Rote Meer ein, den Norden das Berggefängnis der Völker Gog und Magog. Sie sind zwar nicht eigens genannt, doch jedermann wusste Bescheid, wenn er die verschlossene Pforte im Kranz der Berge hinter Armenien sah. Man glaubte, sie mit dem Eisernen Tor bei Derbent im Kaukasus identifizieren zu können. Gog und Magog standen für die Gefährdung, das Rote Meer für die Erlösung des Menschengeschlechts. In den Räumen dazwischen wimmelt es von Reminiszenzen an die biblische Geschichte und den Alexanderroman. Die ganze Karte ist auf Symmetrie angelegt und bringt eine Ordnung in die Erscheinungen von Natur und Geschichte.
5
Die Rückseite der Psalterkarte zeigt Christus in schützender Haltung. Die Texte erläutern, was man sich unter Asien, Europa und Afrika vorstellen sollte (London, British Library, Additional MS 28681, fol. 9v).
Doch die kreisrunde Form verlangt eine Mitte, und wie auf der Sawley-Karte wird sie überbreit durch das Heilige Land eingenommen, nun konzentriert auf die Heilige Stadt Jerusalem, deren dreifaches Rund, bestehend aus Heiligem Grab, Namenszug und Ringmauer, dem Rund der Ökumene und auch des Paradieses entspricht. Aus mehreren konzentrischen Kreisen und einer „Heilsachse“, die auf Jerusalem zielt, setzt sich das Weltbild der Psalterkarte zusammen. Heiliges Land und Heilige Stadt bilden – geographisch und theologisch – die Mitte der Welt.