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Die Heilige Stadt

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Bis heute wird in der Grabeskirche zu Jerusalem, exakt unter der Vierungskuppel im griechischen Katholikón, der „Nabel der Welt“ gezeigt. Christus selbst soll die Stelle bestimmt haben: Hic est medium mundi – „hier ist die Mitte der Welt“. Kyrillos, Bischof von Jerusalem im 4. Jahrhundert, deutete daher die Passion als ein auch kosmographisch zentrales Ereignis: Der Herr habe am Kreuz die Hände ausgestreckt, um den ganzen Erdkreis zu umfassen; denn der Hügel Golgatha sei der Mittelpunkt der Welt. Mehrere Argumente ließen sich dafür anführen. Besuchern zeigte man gern eine Säule, die zur Zeit der Sommersonnenwende keinen Schatten warf; das sei der Beweis. Zwar wusste der eine oder andere, dass so etwas auch anderswo vorkommen konnte. Doch als frommer Pilger wollte man nicht widersprechen. In jedem Fall war man besser beraten, die Aussagen der Heiligen Schrift heranzuziehen. Beim Propheten Hesekiel heißt es: „Das ist Jerusalem. Mitten unter die Völker habe ich es gesetzt und rings um es her die Länder“ (Ez 5,5). Dort sei der Nabel der Welt. Man konnte darunter auch die Mitte des Landes Palästina verstehen. Aber schon die jüdische Kommentarliteratur legte sich auf die Weltmitte fest, und dem folgte die christliche Deutung. Der Kirchenlehrer Hieronymus brachte zudem ein theologisches Argument ins Spiel: Im Osten liege Asien, im Westen Europa, im Süden Afrika, und im Norden lebten die Völker Skythiens, Armeniens und des Pontus. In Jerusalem, in medio terrae, habe der Herr das Heil der Menschen bewirkt, und alle Völker könnten daran teilhaben. Hieronymus selbst war deshalb ins Heilige Land gekommen, stand aber mit seinen Wünschen und Erwartungen nicht allein. Jeder fromme Christ hegte den innigen Wunsch, dorthin zu reisen, wo sich das „Herz der Erde“ befand: das Grab des Erlösers, das „niemand sein Eigen nennen durfte, weil es ausnahmslos allen gehörte“.19

Schon um die Mitte des 2. Jahrhunderts setzte ein christliches Pilgerwesen ein, das den jeweiligen politischen Umständen entsprechend mal besser, mal schlechter funktionierte, nie aber vollständig verschwand. Die Auffindung des Heiligen Kreuzes durch die Kaiserin Helena (326/27) gab ihm Auftrieb. Ihr Sohn Konstantin ließ das Grab Christi, die Schädelstätte Golgatha, die Weltmitte und andere Gedenkstätten unter dem Dach der Grabeskirche vereinen und gab damit der Wallfahrt ein herausragendes Ziel. Nach der muslimischen Eroberung Jerusalems (638) sahen sich christliche Pilger zahlreichen, aber keineswegs unüberwindlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Im 12. Jahrhundert dagegen, zur Zeit der Kreuzfahrerstaaten, hatten sie ungehinderten Zugang.

Alle Pilger wollten dort beten, wo die Füße des Herrn gestanden hatten (ubi steterunt pedes eius, Psalm 131,7). Bei den heiligen Stätten konnten sie das Leben und Sterben Jesu imaginieren. Sie wussten aber auch, dass die Passion eine Vorgeschichte hatte und ein Nachspiel haben würde. Beides hatte mit Jerusalem zu tun. Das Grab Adams, der Gott nicht gehorcht und Eva erkannt hatte, wurde auf Golgatha lokalisiert, sodass Christi Kreuzestod den Sündenfall unmittelbar sühnte. Am Ende der Geschichte aber sollte das himmlische Jerusalem, ein Prachtbau mit Edelsteinen und Diamanten, so hoch wie breit und lang, das irdische ersetzen. Die Apokalypse des Johannes, ein Grundtext der christlichen Geschichtsauffassung, erzählte davon. Im Tal Josaphat, dem Kidrontal zwischen der Stadt und dem Ölberg, sollte das Jüngste Gericht stattfinden. Es gab Pilger, die sich mit einem Stein einen guten Platz reservierten. Das irdische Jerusalem hatte zwar wenig von einer himmlischen Stadt. Aber wer es wollte, erhielt wenigstens „eine Vorstellung von jener Stadt, nach der wir uns sehnen“.20 Denn die gesamte Heilsgeschichte fand in Jerusalem statt. Nirgendwo sonst wusste sich der fromme Christ der Wahrheit des Glaubens so nahe wie hier.


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Hochmittelalterliche Pläne von Jerusalem zeigen örtliche Baulichkeiten wie die Grabeskirche, den Davidsturm oder den Felsendom, geben aber die Heilige Stadt meistens in idealer Rundform wieder. Die umliegenden Orte haben alle mit der biblischen Geschichte zu tun. Die Kampfszene darunter situiert die Karte in das Zeitalter der Kreuzzüge (13. Jh.; ’s-Gravenhage, Koninklijke Bibliotheek, Cod. 75 F 5, fol. 1r).

Da mittelalterliche Karten nicht einfach die Wirklichkeit abbilden, sondern die eigentliche Bedeutung der Orte spiegeln sollten, musste Jerusalem von den Kartographen ganz anders als alle anderen Städte behandelt werden. Schon die große Zahl der erhaltenen Stadtpläne und Ansichten spricht eine deutliche Sprache. Keine andere Großstadt, nicht einmal Rom oder Konstantinopel, konnte da mithalten. Offenbar gab es großes Interesse daran, die überragende Bedeutung der Heiligen Stadt durch eine ihr allein vorbehaltene Zeichnung gewürdigt zu sehen. Es gibt sogar Stadtpläne (sogenannte Situs-Karten), die man heute als zwar einfache, aber doch an der örtlichen Realität orientierte Kartierungen gelten lassen würde, Pläne, die nicht nur Kirchen, sondern auch weltliche Gebäude benennen, die Unregelmäßigkeiten im Verlauf der Straßen wiedergeben und die parallelogrammförmigen Umrisse der ummauerten Stadt, der heutigen Altstadt, erkennen lassen.


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Auch das Jerusalem der biblischen Geschichte wurde bevorzugt in kreis runder Form wiedergegeben. Die Miniatur, eingezeichnet in die Initiale A, zeigt die Belagerung der Heiligen Stadt durch Nebukadnezar, wie sie im Buch Daniel beschrieben wird (1. Viertel 15. Jh.; London, British Library, Royal MS 1 E IX, fol. 222r).

Doch die meisten Kartenzeichner verfolgten andere Absichten. Auch ihnen war daran gelegen, die Heilige Stadt so zu zeigen, wie sie zur Zeit der Kreuzfahrer aussah: mit der (neu erbauten) Grabeskirche und den anderen christlichen Gedenkstätten, dem sogenannten Davidsturm, der als erste königliche Residenz diente, dem Felsendom und der al-Aqsa-Moschee, die man für den Tempel Salomos hielt, aber auch mit Mauern, Toren, Wechselstuben und Märkten. Doch nicht nur die äußere Erscheinung, sondern auch das ideale Wesen der Heiligen Stadt sollte auf den Stadtplänen hervortreten. Schließlich spielte das irdische Jerusalem immer schon auf das himmlische an, galt als zeitliche Vorform dessen, was zeitlos kommen würde. Die idealste Form aber, die man einer Stadt zuschreiben konnte, war die Rundform, der Kreis, das Rad. Sie ist ein Bild der Vollkommenheit, ein Bild der Unendlichkeit und Allgegenwart Gottes, der als Mitte gedacht wird. Daher hat man die Umrisse Jerusalems, der „Stadt des Königs aller Könige“,21 ganz selten als schnödes Parallelogramm und nicht viel öfter als ebenmäßiges Quadrat, sondern am liebsten als vollkommenen Kreis wiedergegeben. Selbst dort, wo ausdrücklich die himmlische Stadt gezeigt wurde und folglich ein Kubus zur Darstellung hätte kommen müssen, zog man oft genug die Rundgestalt, das Mauerrund, vor.

Jerusalem liegt in der Mitte der Welt, idealerweise in Kreisform. So könnte man die Vorstellung des Mittelalters beschreiben. Doch die kartographischen Beispiele sind nicht zahlreich. Ohnehin wird es schwerfallen, vor dem 12. Jahrhundert auf Jerusalem zentrierte Weltkarten zu identifizieren. Die Oxforder Karte von 1100/1110 mit dem Kreuz in der Mitte und dem das ganze Bild dominierenden Namen der Heiligen Stadt wirkt wie eine triumphale Reaktion auf die Eroberung durch die Kreuzfahrer. Auch die auf ihr zu sehende Ausdehnung Europas auf Kosten Afrikas und die „Auslagerung“ Konstantinopels nach Asien lassen sich mit den Erfahrungen des Ersten Kreuzzugs erklären. Die Lateiner machten sich breit, mit den Griechen bekamen sie immer öfter Probleme. Doch es sollte noch gut eineinhalb Jahrhunderte dauern, bis es nicht verbindlich, aber üblich wurde, Jerusalem in die exakte Mitte der Ökumene zu platzieren. Manchen Kartenmachern genügte der Name der Stadt. Andere verstärkten den Eintrag, indem sie eine Darstellung der Grabeskirche (Ranulf Higden, 1342/43), eine Phantasiearchitektur mit dem Lamm Gottes (Evesham Map, um 1390), eine prachtvolle Stadtlandschaft (Weltkarte von Sainte-Geneviève, um 1370; Andreas Walsperger, 1448) oder auch nur ein schlichtes rotes Kreuz (Heinrich van Beeck, 1469/72) hinzufügten, vom himmlischen Jerusalem (Ebstorfer Weltkarte, um 1300) ganz zu schweigen. Ähnliches, wenn nicht noch mehr bewirkte ein kreisrundes Stadtsymbol. Brachte es doch Unübertreffliches, nämlich Vollkommenheit zur Anschauung. Die kleine Londoner Psalterkarte mit ihrem dreifachen Rund gibt davon den besten Eindruck. Gerne wüsste man, wie ihre größere Vorlage aussah.

Ale diese Karten entstanden nicht im Vollgefühl des Besitzes, sondern in Anbetracht des schwer empfundenen Verlusts der Heiligen Stadt. Wer Jerusalem in den Mittelpunkt seines Weltbildes stellte, der verlieh einer allgemeinen Sehnsucht Ausdruck und machte die nochmalige Eroberung zum Thema. Gerade weil der Besitz des Heiligen Landes in weite Ferne gerückt war, blieb Jerusalem der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Denkens. Seit dem 13. Jahrhundert leistete sich Europa eine geistige Mitte, die außerhalb seiner selbst lag. Vielleicht liegt darin eine der Wurzeln der europäischen Expansion in die außereuropäische Welt. Von der Kartographie wurde sie vorausschauend erdacht.

1 Vgl. Borst, Bild der Geschichte, S. 4.

2 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 4. Aufl., Bern 1963, S. 33.

3 Zit. Drews, Juden und Judentum, S. 13.

4 Flint, Honorius, S. 97.

5 Vgl. Loris Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter. Von Bonifatius bis zu Albert dem Großen (748 – 1280), München 1993, S. 119ff.

6 Flint, Honorius, S. 49: dispositio totius orbis in eo quasi in speculo conspiciatur.

7 Ebd., S. 49, 51.

8 Seneca, Ad Helviam matrem 8,1: doctissimus Romanorum.

9 Simek, Erde und Kosmos, S. 32ff.

10 Ebd., S. 44: rehte geschaffen alse ein bal (ebd., S. 42ff. die anderen Zeugnisse).

11 Gautier/Gossuin de Metz, Image du monde, zit. Ch.-V. Langlois, La connaissance de la nature et du monde au Moyen Age d’après quelques écrits français à l’usage des laïcs, Paris 1911, S. 78: S’il n’y avait pas d’obstacles, l’homme pourrait en faire le tour, comme une mouche circule autour d’une pomme. Si le globe était percé de part en part, suivant son axe, on verrait le ciel à travers.

12 C. W. R. D. Moseley (Hg.), The Travels of Sir John Mandeville, Harmondsworth 1983, S. 129.

13 Reudenbach, Londoner Psalterkarte, S. 177.

14 Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana (1095 – 1127), hg. von Heinrich Hagenmeyer, Heidelberg 1913, S. 377: demergi autem quis in profundum eius nec de industria facile est.

15 Ebd., S. 377: elleboro amariorem.

16 Ebd., S. 376f.: adeo salsus est, ut nec bestia quaelibet neque volucris ex eo bibere queat.

17 Ebd., S. 597: tamquam aliud mare limpidum est et album. Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae, XIII, XVII 2.

18 Zit. Baumgärtner, Das Heilige Land, S. 48: esperance e refui as tuz crestiens ki en la terre seinte vivent.

19 Petrus Venerabilis, In laudem sepulcri domini (MPL 189, Sp. 978): cor terrae; … nemo sibi vindicaret, ut proprium, quod erat absque ulla exceptione generaliter universorum.

20 Baldericus von Bourgueil, Historia Jerosolimitana, in: Recueil des Historiens des Croisades 4, Paris 1874, S. 100: haec civitas illius ad quam suspiramus forma est.

21 Siegel König Balduins IV.: civitas regis omnium regum (Vorholt, Herrschaft über Jerusalem, S. 226).

Das Bild der Welt im Mittelalter

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