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Antike Kartographie
ОглавлениеOhne Mittelalter keine Antike. Das gilt grosso modo auch für die Kartographie. Denn aus der Zeit vor 500 n. Chr. sind fast keine Karten im Original erhalten geblieben, und bei den wenigen, die es gibt, handelt es sich um rohe Skizzen oder topographische Ansichten von begrenzter Reichweite. Dass es viel mehr und auch weiträumigere gegeben haben muss, wissen wir aus Andeutungen, Hinweisen, praktischen Anleitungen und gelehrten Diskussionen. Karten wurden im Katasterwesen, für die Kriegführung, auf Reisen und zu didaktischen Zwecken gebraucht. Sogar Globen sind textlich wie bildlich bezeugt. Doch nur der Tätigkeit mittelalterlicher Kopisten verdanken wir einen anschaulichen Eindruck von der kartographischen Expertise der alten Griechen und Römer. Es genügt, auf die drei bekanntesten und wichtigsten Beispiele einzugehen.
Klaudios Ptolemaios (Claudius Ptolemäus, um 100 – um 170 n. Chr.) lebte und wirkte in Alexandria, dem bedeutendsten Zentrum hellenistischer Gelehrsamkeit. Das zum Königshof gehörende Museion mit seiner berühmten Bibliothek bestimmte den Ruf der Stadt. Namen wie die des Dichters Kallimachos, des Geographen Eratosthenes, der Philologen Aristophanes von Byzantion und Aristarchos von Samothrake bezeichnen die intellektuelle Tradition, in die sich Ptolemäus mit seinen Forschungen einreihte. Sie galten zunächst dem Kosmos und den Gestirnen (Mathematiké sýntaxis, der sogenannte Almagest, ferner der Tetrábiblos, ein Handbuch der Astrologie), wandten sich dann den irdischen Dingen zu (Schriften zu Mathematik, Harmonielehre und Optik) und nahmen schließlich die Erde im Ganzen in den Blick: Sein letztes Werk, die Geographiké hyphégesis, wörtlich: „Einführung in die Geographie“ (kurz: Geographia), setzt sich mit dem Werk eines Vorgängers, Marinos von Tyros, auseinander, gibt eine Anleitung zum Zeichnen von Welt- und Regionalkarten und bespricht die Möglichkeiten, den dreidimensionalen geographischen Raum auf eine zweidimensionale Fläche zu projizieren. Den anschließenden Hauptteil füllen endlose Listen mit geographischen Namen, etwa 8100 an der Zahl, Namen von Orten, Flüssen und Bergen, alle mit genauen Daten zu ihrer Lokalisierung auf Längen- und Breitengraden versehen. Mit ihnen ließen sich Karten zeichnen, die den Anspruch erhoben, die Welt genau so wiederzugeben, wie sie in Wirklichkeit aussah. Wann das geschah, ob Ptolemäus selbst solche Karten zeichnete oder zeichnen ließ, ob sie bald nach ihm oder viel später entstanden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die heutige Forschung nimmt an, dass eine Weltkarte und eine größere Anzahl von Regionalkarten von Anfang an zu dem Werk gehörten. Die ältesten erhaltenen Exemplare stammen allerdings aus dem späten 13. Jahrhundert, als in Byzanz das Interesse an Ptolemäus neu erweckt wurde. Der lateinische Westen bekam die ersten Ptolemäuskarten mehr als ein Jahrhundert später zu Gesicht. Zu ihren Stärken gehörte die mathematische Genauigkeit, mit der sie die Welt zwischen den Kanarischen Inseln im Westen und der (bis heute nicht plausibel identifizierten) Stadt Kattigara im äußersten Osten verzeichneten. Ihre Schwächen (ein gestauchtes Indien, eine viel zu große Insel Taprobane, der Indische Ozean als Binnenmeer) lassen sich mit den mangelhaften Unterlagen erklären, die Ptolemäus zur Verfügung standen.
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Griechische Weltkarte nach Ptolemäus, 14. Jh. (London, British Library, Additional MS 19391, fol. 17 v – 18 r).
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Ausschnitt aus der Tabula Peutingeriana, die in gedrängter Form das antike Straßennetz abbildet. Alle Wege führten nach Rom (Wien, Österreich. National bibl., Cod. Vind. 324; Faksimile von Konrad Miller, 1887).
Auch die bekannteste antike Weltkarte, die sogenannte Tabula Peutingeriana, ist nicht im Original, sondern lediglich in einer Kopie aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert überliefert. Sie entstand in der Mitte des 4. Jahrhunderts, fußte aber auf älteren Vorlagen und wurde später bei Gelegenheit ergänzt. Im 5. oder 6. Jahrhundert kamen Einträge zu Jerusalem und dem Sinai dazu, und noch der Augsburger Humanist Konrad Peutinger (1465 – 1547), von dem sie ihren Namen erhielt, fügte mit Regensburg und Salzburg zwei Ortsnamen aus seiner eigenen Lebens- und Erfahrungswelt in das Kartenbild ein. Anders als die Ptolemäuskarten erhebt die Tabula Peutingeriana keinen wissenschaftlichen Anspruch und will nicht über das Aussehen der Welt spekulieren. Vielmehr gibt sie das verzweigte, höchst effiziente und das ganze Reich erfassende Straßennetz wieder, auf das die Römer so stolz waren. Deshalb die Hervorhebung der Hauptstadt, auf die nicht weniger als zwölf große Straßen zulaufen, und deshalb auch die ungewöhnliche Form eines aus zwölf Segmenten zusammengesetzten, 675 cm langen, aber nur 34 cm breiten Streifens, auf dem die Entfernungen in nord-südlicher Richtung ganz anders als die ost-westlichen behandelt werden mussten. Dadurch wirkt die ganze Karte auf den modernen Betrachter extrem verzerrt. Der zeitgenössische Betrachter dagegen wurde durch die Berechnung der Abstände zwischen den einzelnen Orten und Stationen ausreichend informiert. Ob man damit reisen oder – wie aus einer Aussage des römischen Militärschriftstellers Vegetius hervorzugehen scheint – einen Krieg führen konnte, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin reicht die Tabula Peutingeriana von der Iberischen Halbinsel im Westen bis nach China (Sera maior), Taprobane und an den Ort, wo Alexander der Große das Orakel der Bäume der Sonne und des Mondes über seine Zukunft befragt haben soll. So weit im Osten führte Rom keine Kriege. Aber so weit reichte sein Blick. Wahrscheinlich diente die Karte repräsentativen Zwecken und wies ihren Besitzer (der ein vermögender Mann gewesen sein muss) als wohlinformierten, traditionsbewussten und einflussreichen römischen Bürger aus.
Ganz andere Akzente setzte ein Autor, der wie Ptolemäus in Alexandria lebte, aber keinen Beitrag zur alexandrinischen Wissenschaft vorlegen wollte, sondern – ganz im Gegenteil – als Autodidakt ein geographisches Weltbild nach dem Wortlaut der Bibel propagierte. Man hat sich daran gewöhnt, ihn Kosmas den Indienfahrer (Kosmas Indikopleustes) zu nennen; aber weder ist der Name Kosmas gesichert, noch ist er dorthin gefahren, was man heute unter Indien versteht. Immerhin konnte er in seiner Eigenschaft als Kaufmann auch Gegenden bereisen, die später unter einen erweiterten Begriff von Indien fielen: Axum, Südarabien und die Insel Sokotra. Er war wohl nestorianischer Christ, vielleicht sogar Mönch; in jedem Fall meinte er es mit seinem Glauben sehr ernst. In seinem einzig erhaltenen Werk, einer „Christlichen Topographie“, entstanden um die Mitte des 6. Jahrhunderts, verteidigte er die Weltsicht der Heiligen Schrift gegen die Theorien der Philosophen und Kosmographen, gegen den „Heiden“ Ptolemäus und seine christlichen Adepten, die versuchten, dessen Lehren mit dem Schöpfungsbericht der Genesis zu versöhnen. Kosmas dagegen bestand auf einer reinen, kompromisslosen Lektüre. „Gehorsam bis zum Unverstand hat man einmal seine Weltsicht genannt.6 Die der „Christlichen Topographie beigegebenen Karten und Illustrationen zeigen keine kugelförmige, sondern eine flache rechteckige Erde, die ein zweigeschossiger Himmel in Form der Stiftshütte überwölbt. Vier Meere bzw. Golfe (Mittelmeer, Rotes Meer, Persischer Golf, Kaspisches Meer) ragen in den Kontinentalblock hinein. Im Osten, jenseits des Ozeans, schließt sich das Paradies an, von dem vier Flüsse, die Paradiesflüsse Gihon, Phison, Euphrat und Tigris, ausgehen. Weite Verbreitung war dem Werk und den Karten nicht beschieden. Nur drei vollständige Handschriften sind überliefert, alle aus dem 9.-11. Jahrhundert, alle geschrieben im byzantinisch-orthodoxen Raum. Eine Übersetzung wurde in Russland viel gelesen. Im lateinischen Westen spielte Kosmas bis zum 18. Jahrhundert keine Rolle. Doch das Prinzip, die irdische Welt ganz aus christlichem Blickwinkel zu deuten und zu beschreiben, lag zu nahe, um nicht über kurz oder lang auch dort praktiziert zu werden.
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Die Welt nach Kosmas Indikopleustes: Die Erde erscheint als flaches Rechteck, in das drei Meerbusen und das Mittelmeer einschneiden. Jenseits des östlichen Ozeans ist das irdische Paradies zu erkennen (Rom, Bibl. Apost. Vat., Ms. Vat. Gr. 699, fol. 40v).