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Kosmos-Ei und Erdglobus
ОглавлениеHonorius Augustodunensis stellte sich das Weltall (mundus) kugelrund vor, so rund wie einen Ball. Allerdings setze es sich wie ein Ei aus verschiedenen Bestandteilen zusammen. Denn ein Ei werde ringsum von seiner Schale umgeben, und in der Schale befinde sich das Eiweiß, im Eiweiß der Dotter, am Dotter ein Fetttropfen. Genauso werde das Weltall vom Himmel umgeben, und unter dem Himmel befinde sich reiner Äther (purus ether), unter dem Äther stürmische Luft (turbidus aër), in der Luft die Erde, dem Fetttropfen vergleichbar. Deren Gestalt aber sei kreisrund, deshalb werde sie der Erdkreis (orbis) genannt.7 Wenn man nämlich von weit oben auf sie schauen könnte, würden sogar die Höhe der Berge und die Tiefe der Täler kleiner wirken als der Finger eines Mannes, der einen Ball in der Hand hält. Der Erde Umfang messe 180.000 Stadien oder etwas mehr als 12.000 Meilen. Sie befinde sich genau in der Mitte des Weltalls wie der Mittelpunkt eines Kreises, also von den Grenzen des Kosmos gleich weit entfernt, und werde nicht etwa durch Pfosten und Stützen, sondern durch die Allmacht Gottes in ihrer Lage gehalten. Auf allen Seiten werde sie von den Fluten des Ozeans umspült, und auch das Festland sei – wie der menschliche Körper von Blutadern – überall von Wasseradern durchzogen und mit Feuchtigkeit versorgt. Wo immer man grabe, werde man deshalb auf Wasser stoßen.
Es war nicht sonderlich originell, wie Honorius das Aussehen des Weltalls und der Erde beschrieb. Seine Vorlagen lassen sich leicht eruieren. Isidors Enzyklopädie war nur eine davon. Zitate aus den Psalmen schmücken den Text. Auch das Weltall als Ei zu beschreiben, war keineswegs neu. Der römische Universalgelehrte Marcus Terentius Varro, für Seneca „der gelehrteste der Römer“,8 hatte damit einen Anfang gemacht. Mittelalterliche Autoren wie Johannes Scotus Eriugena und Remigius von Auxerre, später auch Petrus Abaelardus und Hildegard von Bingen folgten ihm nach und verfeinerten die Metapher. Auch andere Varianten (wie etwa Eischale = Himmel, Häutchen unter der Schale = Äther, Eiweiß = Wasser, Eidotter = Erde) kamen in Umlauf. Honorius Augustodunensis befand sich also in guter Gesellschaft, als er das Bild vom „Kosmos-Ei“ aufgriff und es seinem eigenen Werk einverleibte. Indem aber seine Imago mundi weite Verbreitung erlangte, machte sie auch das „Kosmos-Ei“ populär.9
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Gedankenexperiment, mit dem sich die Rundheit des Globus zeigen ließ: Zwei Männer bewegen sich in entgegengesetzter Richtung voneinander fort und müssen irgendwann wieder aufeinander treffen (Paris, Bibl. Nationale, Ms. français 574, fol. 42r).
Daraus geht hervor, dass sowohl die Leser der Imago mundi als auch die ihrer Vorlagen und Vorläufer eine Vorstellung von der Kugelgestalt der Erde besaßen. Denn der Vergleich mit dem Fetttröpfchen am Eidotter unterstellt eine plastische Rundform, und auch das Bild vom Ball in der Hand lässt nur diese Interpretation zu. Die Forschung ist sich mittlerweile einig, dass die Gelehrten des Mittelalters nie einen Zweifel an der Kugelform der Erde hegten. In der Antike war sie nachgewiesen worden, und das Mittelalter trug das Wissen der Antike beflissen weiter. Auch in dieser Hinsicht hielt es an den Erkenntnissen der griechischen und römischen Wissenschaft fest. Das Modell der Zonenkarte setzt die Vorstellung der Erdkugel logisch voraus und wurde als Veranschaulichung eines von gleich großen Klimazonen umgürteten Erdglobus verstanden. Einige Kartenzeichner haben sogar versucht, den sphärischen Charakter der Erde durch gekrümmte Trennlinien zwischen den Zonen zu visualisieren. Das TO-Schema wirkt zwar, wie wenn es eine flache, runde Erdscheibe wiedergäbe. Es sollte aber zunächst nur zeigen, in welchem Nah- und Größenverhältnis die drei Kontinente zueinander stehen, und nimmt auf das Problem, die drei Dimensionen des Raums auf eine zweidimensionale Fläche zu projizieren, keine Rücksicht. Man kann von ihm nichts erwarten, was mit ihm nicht bezweckt war.
Dass das Mittelalter über die kosmographischen Verhältnisse nicht schlechter informiert war als die Antike, deren Kenntnisse es an Humanismus und Neuzeit übermittelte, geht aus zahlreichen Äußerungen sowohl gelehrten als auch populären Charakters hervor. Im 9. Jahrhundert wurde die Lehre von der Kugelgestalt von Gelehrten wie Theodulf von Orléans und Johannes Scotus Eriugena, im 10. von Gerbert von Reims, im 11. von Hermann von Reichenau vertreten. Ein lehrhaftes Werk aus dem späten 12. Jahrhundert, der mittelhochdeutsche Lucidarius, bezeichnete die Erde ausdrücklich als kugelförmig (sinewel). Später wurde sie dann gerne mit einem Apfel verglichen, und die wärmende Sonne sei wie eine Kerze, die man an die Frucht hält. Dadurch erklärten sich die unterschiedlichen Temperaturen in den unterschiedlichen Klimazonen der Erde. Der begnadete und deshalb viel beschäftigte Prediger Berthold von Regensburg schließlich stellte fest, sie sei „ganz so beschaffen wie ein Ball“, und ging dann dazu über, seinen Zuhörern das „Kosmos-Ei zu erklären.10
Wenn man genau hinsah, lagen die Beweise für die Kugelgestalt der Erde offen zutage. Bei einer Mondfinsternis war der Erdschatten zu erkennen, bei einer Reise von Norden nach Süden rückten die Sternbilder dem Horizont näher (um schließlich ganz zu verschwinden), und wenn man mit dem Schiff auf den Ozean fuhr, sah man den Mast länger als den Rumpf. Wer den Ausguck bestieg, hatte das Festland länger und das Ziel früher als alle anderen vor Augen. Sogar ein Gedankenexperiment konnte man sich zurechtlegen: Wenn sich zwei Männer in entgegengesetzter Richtung voneinander entfernten und immer geradeaus gingen, mussten sie sich eines Tages auf der anderen Seite der Erde begegnen. Denn „wenn es unterwegs keine Hindernisse gäbe, könnte man auf ihr eine Runde machen wie eine Fliege um einen Apfel“. Und „wenn der Globus seiner Achse nach durchstochen wäre, könnte man auf der anderen Seite den Himmel sehen“.11
Der viel gelesene, aber immer noch mysteriöse Johann von Mandeville machte daraus eine hübsche Geschichte, die er in seine um 1356 entstandene fingierte Beschreibung einer Reise von England nach Ostasien einfügte. Vielleicht kam er selbst nie weiter als bis zur nächsten ordentlich bestückten Bibliothek. Aber auch (wenn nicht gerade) dort konnte man erfahren, wie es um die Welt bestellt war. In seiner Jugend – so Mandeville – habe er von einem vornehmen Landsmann gehört, der es zu Hause nicht mehr aushielt; denn er wollte die Welt sehen. Er kam nach Indien und noch weiter bis zu den 5000 Inseln, die man dort angeblich vorfindet. Er reiste auf dem Land und zur See, immer um den Globus herum, bis er zu einer fernen Insel gelangte, wo er eine ihm vertraute, nämlich seine eigene Sprache gesprochen hörte. Er sah einen Mann, der mit einem Ochsengespann pflügte und dabei dieselben Worte gebrauchte, die in seiner Heimat beim Pflügen gebraucht wurden. Er wunderte sich sehr, weil er nicht verstand, wie das sein könne. Wäre er noch ein bisschen weiter gereist, wäre er bald nach Hause gekommen. Aber als er wenig später kein Schiff finden konnte, kehrte er um und machte sich auf den Heimweg – „so hatte er eine lange Reise“.12 Schließlich kam er nach Norwegen, und ein Sturm verschlug ihn auf eine Insel. Dort aber merkte er, dass er wieder genau dorthin zurückgekehrt war, wo die Ochsen in seiner Muttersprache zum Pflügen getrieben wurden. So also konnte es jemandem ergehen, der einmal um die Erde reiste, aber die geographischen Voraussetzungen nicht recht bedachte.
Vielleicht können wir die Geschichte – jenseits ihrer Pointe – als Hinweis darauf verstehen, dass sich doch nicht jedermann in Kosmographie und Geographie auskannte, dass sich nicht jedermann der Kugelform der Erde bewusst war. Die Gelehrten wussten Bescheid. Multiplikatoren wie Honorius Augustodunensis, Johann von Mandeville oder auch Berthold von Regensburg brachten gelehrtes Wissen unter die Leute. Viele kannten den Reichsapfel und wussten, dass er die Herrschaft über die Erdkugel symbolisierte. Was dagegen die einfachen Leute, auf dem Land wie in der Stadt, vom Aussehen der Erde dachten, ob sie überhaupt daran denken wollten, das wissen wir nicht. Das wissen wir nicht für das Mittelalter und auch nicht für die Antike.