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Der miles christianus

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Ein großer Teil der allegorisch-mystischen Literatur aus Mittelalter und Neuzeit hat Betrachtungen über jene Seelenverfassung angestellt, mit der der Christ kämpfen sollte, und vor allem zu verhindern versucht, dass Laster, Begierden und Leidenschaften sich seiner bemächtigten. Solche Gedanken sind von Bernhard von Clairvaux, Petrus Johannis Olivi, Raimundus Lullus, Caterina Benincasa (Katharina von Siena) und Bernardino degli Albizzeschi geäußert worden und durch die katholische Reform ins Christentum eingeflossen. Ihre spirituellen Grundlagen finden wir in einer berühmten Passage des heiligen Paulus über die arma lucis und im Besonderen über das gladium spiritus, quod est verbum Dei (Eph 6, 17). Dies ist eine Metapher, die im Mittelalter ein weites Feld für die allegorische Deutung von Waffen und für die Vorstellung vom Kampf zwischen Tugenden und Lastern als psychomachia, pugna spiritualis geliefert hat. Um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert hatte der Dichter Prudentius in seinem als Psychomachia betitelten Werk ein berühmtes Bild aus Aischylos’ Sieben gegen Theben (das Statius später in seinem Epos Thebaid aufgreift) in einen allegorischen Rahmen übersetzt: Die Helden, die zum Angriff auf die Stadt oder zu ihrer Verteidigung Partei ergriffen hatten, wurden in christliche Tugenden und Laster verwandelt; die Stadt selbst galt als Symbol für die menschliche Seele. Das Ganze erinnerte an den seelischen Kampf, den der Gläubige ausfechten musste, um rein zu bleiben, seine Seele zu retten und das ewige Leben zu verdienen. Das gesamte Mittelalter hindurch sollten Fresken, Skulpturen und epische Gedichte unaufhörlich das große Thema vom Kampf der Tugenden gegen die Laster durchspielen. Dies war der einzig wahre christliche Krieg, für den die materiellen Kriege nur eine Metapher sein konnten. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts griff Bernhard von Clairvaux das Bild auf und münzte es kühn auf den Kampf gegen die Ungläubigen: Ihre physische Beseitigung, die im Vergleich zur Ausbreitung des Unrechts als geringeres Übel und in letzter Konsequenz als unvermeidlich angesehen wurde, sollte nicht als homicidium, sondern als malicidium aufgefasst werden. Der Heide, der die Christenheit mit Waffengewalt zu unterdrücken versuchte, konnte nichts anderes sein als ein Verbreiter des Bösen in der Welt.

Zwischen dem 5. und dem 11. Jahrhundert war der Krieg jedoch alles andere als ein schöner Turnierkampf zwischen Tugenden und Lastern. Eine neue Art von Konflikt war im Zuge der Migrationsbewegungen von germanischen und uralaltaischen Bevölkerungsgruppen entstanden, die sie bis ins Zentrum Europas hineinführten. Sie griff in der düsteren Zeit der normannischen, ungarischen und sarazenischen Einfälle des 9. bis 10. Jahrhunderts um sich und mündete schließlich in die grausamen Auseinandersetzungen zwischen den milites des 10. und 11. Jahrhunderts – in einer Christenheit, in der die öffentliche Macht zu Staub zerfallen war und gleichzeitig die mittlerweile weit verbreitete Gewohnheit, zu Pferd und in schwerer Eisenrüstung zu kämpfen, das Ritterdasein zu einem teuren Privileg hatte werden lassen. Bei der Austragung von Konflikten ging es nicht mehr nur um Kraft und Mut, man musste auch über ausreichenden materiellen Wohlstand verfügen. Überhaupt war das nicht mehr der geordnete bellum der Römer, sondern werra, das tumultartige Aufeinanderprallen von grausamen und wie im Wahnsinn kämpfenden Kriegern. Einander Wölfe den Wölfen geworden, schlachteten sich die Männer in unbändiger Wildheit gegenseitig ab: Die Akten von kirchlichen Synoden des 10. und 11. Jahrhunderts quellen über vor Hinweisen dieser Art. Die »Freude am Krieg«, die etwas später in den blutigeren chansons de geste (zum Beispiel im Epos Raoul de Cambrai) von jenen Barden und Troubadouren besungen wurde, die wie Bertran de Born die Blumen und Wiesen des lieblichen Monats Mai gern in blutige Farben tauchten, war nichts anderes als ein Massaker, das weder Grenzen noch Verbote kannte. Die Chroniken der Epoche bestätigen die Beschreibungen der Dichter. Und es drehte sich nicht nur um zerbrochene Schilde, Kettenpanzer, die bis aufs Fleisch aufgeschlitzt wurden, um menschliche Körper, die von den Hieben im Pferdesattel zerteilt wurden, um eingeschlagene Schädel und vom Körper abgetrennte Gliedmaßen, die durch die Luft flogen. Da waren auch und vielleicht vor allem das Leid der pauperes, die Gewalt gegen Frauen und Kinder, die gebrandschatzten Dörfer, niedergemachten Weinberge, zerstörten Ernten, Kirchen und Klöster, die in frevlerischer Raserei entweiht wurden.

Am Ausgang des ersten Jahrtausends, als die Einfälle all der Völkerschaften dank einer allgemeinen Verbesserung der klimatischen, ökologischen, demographischen und sozialen Bedingungen an Heftigkeit verloren, begann der europäische Westen aus langem Schlaf zu erwachen. Immer offensichtlicher wurde, dass der anhaltende Kriegszustand das größte Hemmnis für eine positive Entwicklung darstellte. In Ermangelung starker zentraler Mächte war es die lateinische Kirche, die einen neuen institutionellen Rahmen aufzubauen begann und die Entstehung einer neuen Ethik beförderte. Die Gottesfriedensbewegung erhielt neue Impulse. Der miles des 11. Jahrhunderts war auf dem besten Weg, ein veritabler Ritter zu werden. Als Gegenleistung für den Schutz und die unerlässlichen wirtschaftlichen Mittel, um die teure und schwere Ausrüstung zu finanzieren, schwor er seinem senior oder dominus die fidelitas. Die komplexe Beziehung zwischen Herrn und Vasall kann man zwar in rechtlichem Sinn erklären, aber ihr doch nur vor dem Hintergrund jenes ethischen Verhaltenskodexes wirklich gerecht werden, der die chansons de geste beseelt. Der miles ritt auf einem stolzen Kriegspferd und verfügte über schwere Angriffs- und Verteidigungswaffen, die für ihre Zeit beeindruckend waren. Da waren der große mandelförmige Schild, der mit einem Nasenschutz versehene konische Helm, der lange Harnisch aus eng gefügten Kettengliedern, der über einem Hemd aus schwerem Tuch oder Leder getragen wurde, das doppelschneidige Schwert, die schwere Lanze. Die Hufe des Pferdes waren mit Eisen beschlagen und auf dem Rücken trug es einen hohen Sattel samt Steigbügeln, was dem Reiter eine bis dato unbekannte Sattelfestigkeit verlieh. Wenn der miles in den Kreis der Krieger um einen Herrn aufgenommen wurde, erhielt er nicht einfach nur seine Waffen, sondern wurde einer Art Initiationsritual unterzogen. All dies – Waffen, Kampftechniken, Gesten der Treue und Solidarität – war Ausdruck einer geteilten vielschichtigen Vorstellungswelt, die uns auch in den Abzeichen auf Schilden und Fahnen wiederbegegnet. Diese Welt wird auch von einem ganz außerordentlichen Zeitdokument illustriert: dem herrlichen, mit Wolle auf einen langen Streifen Leinen gestickten Wandteppich der Königin Mathilde, der in der Stadt Bayeux in der Normandie aufbewahrt wird.


Wandteppich von Bayeux, 2. Hälfte 11. Jh., Bayeux, Centre Guillaume-le-Conquérant. Rechts: Szene der Einkleidung eines Ritters.

Dieser miles des 11. Jahrhunderts hatte fast alles, um den Namen »Ritter« zu verdienen. Ihm fehlte allein die militia, die Ritterschaft. Gemeint ist nicht so sehr der Gemeinschaftsgeist innerhalb der Gruppe oder der Stolz, einer Kriegerelite anzugehören – das waren Dinge, über die er bereits verfügte. Was ihm fehlte, war vielmehr ein Ethos, das auf der Erfüllung des göttlichen Willens und auf der Verteidigung der pauperes gründete, das heißt: auf der Verteidigung nicht nur derjenigen, denen es an Geld und Gütern mangelte, sondern vor allem derjenigen, die schutzlos waren – der Unterdrückten. Diese ethische und spirituelle Erneuerung war eingebettet in ein Umfeld und eine Gesellschaft, die sich gerade selbst strukturell erneuerte – dieselbe Gesellschaft, die den ersten Kreuzzug ins Leben rufen sollte.

Die große Geschichte der Kreuzzüge

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