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Ein Jahrhundert der Reformen

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Auch kirchenpolitisch gärte es in der christlichen Gemeinschaft des 11. Jahrhunderts allenthalben. Auf die Intervention der sächsischen und salischen Kaiser, die nachhaltig zu ihrer moralischen Besserung beigetragen hatten, sie gleichzeitig jedoch zu eng vor den Karren der weltlichen Macht gespannt hatten, war denn auch eine Reformbewegung gefolgt, an der Theologen, Kanoniker, Prälaten und Mystiker mitwirkten und deren Dreh- und Angelpunkt, wie schon gesagt, Cluny war. Die Säuberung der kirchlichen Hierarchien von ihren weltlichen, simonistischen und nikolaitischen Elementen erfolgte unter Führung des Papstes und unter Einbindung unterschiedlichster Kräfte, darunter nicht zuletzt die Bürger und einfachen Leute in den Städten. Die Rolle, die in einigen französischen Städten die Friedensbünde wahrnahmen, übernahmen anderorts die Patarener. Mailand bildete dafür das beste Beispiel: Als Mitglieder einer religiösen Volksbewegung mit pauperistischem und antihierarchischem Hintergrund, die sich patarìa nannte (ein Wort unklarer etymologischer Abstammung, das sich vielleicht von einer bescheidenen kaufmännischen Tätigkeit herleitet), rekrutierten sich die Patarener hauptsächlich aus den weniger betuchten Schichten, deren wirtschaftliche Verhältnisse unter der rasch voranschreitenden Urbanisierung gelitten hatten. Angesichts der unerhörten Weltlichkeit der Prälatenfürsten in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts postulierte die Pataria eine ethische Erneuerung der kirchlichen Strukturen und eine Verringerung der sozialen Distanz zwischen Priesterstand und Volk. Propagandathemen wie die Anfechtung der Gültigkeit der von unwürdigen Priestern gespendeten Sakramente, wodurch im Grunde eine Feindseligkeit gegenüber dem Priestertum als solchem zum Ausdruck gebracht wurde, konnte die Kirche sicher nicht mit Wohlwollen betrachten. Die Patarener waren jedoch keine Ketzer, und ihr Kampf für die Erneuerung der Kirche stimmte zunächst auf ganzer Linie mit der neuen Reformausrichtung überein. Dies war auch der Grund, weshalb das Papsttum die Patarener gegen den sich eng um ihren Erzbischof scharenden hohen Klerus von Mailand massiv unterstützte. Die hohe Geistlichkeit wiederum suchte ihre herrscherlichen Vorrechte und ihre partielle Unabhängigkeit von Rom zu verteidigen, die in der Liturgie stolzen Ausdruck im Ambrosianischen Ritus fand.

Im Verlauf der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts waren die Reformatoren, die Minderjährigkeit von Heinrich IV. für ihre Zwecke nutzend, in die Offensive gegangen. Während sie eine selbst aus dogmatischer Sicht ausgesprochen rigide Politik einläuteten, die 1054 zum Morgenländischen Schisma führen sollte, arbeiteten sie zugleich darauf hin, die Bande zu kappen, die sie der weltlichen Autorität unterstellten: Auf dem Konzil von 1059 sprachen sie dieser jegliche Mitwirkung bei der Wahl des Bischofs von Rom und der anderen Bischöfe ab; auch wenn diese weltliche, öffentliche Herrschaftsrechte innehatten. Im Investiturstreit, als dessen wichtigste Akteure Papst Gregor VII. und Heinrich IV. auftraten, schlugen sich, wie man sich in Erinnerung rufen sollte, viele – auch sittenfromme – Bischöfe auf die Seite des kaiserlichen Lagers, während die Ordensgeistlichkeit praktisch geschlossen Partei für den Papst ergriff. Der römischen Kurie bot der Streit die Möglichkeit, die Doktrin von der Oberhoheit des Papstes über Könige und Kaiser auf den Weg zu bringen. Das theokratische Ideal erhob den Bischof von Rom an die Spitze der gesamten Christenheit. Die Reformer sahen sich bald in blutige Kämpfe um die libertas ecclesiae verwickelt, also die Befreiung der geistlichen Institutionen aus der Unterordnung unter die weltlichen Mächte, in die sie die Herrscher von Karl dem Großen bis zu Otto I. und Heinrich III. gezwungen hatten. Dabei stützten sie sich häufig auf weltliche Kräfte wie die Pataria, die nach geistlicher Erneuerung strebten. Den politischen und religiösen Agitatoren boten die Städte sowohl Raum zur Entfaltung ihrer Ideen als auch eine Anhängerschaft, mittels derer sie sich durchsetzen konnten. So wurde in Mailand der miles Erlembaldo Cotta, der militärische Anführer der Patarener, durch seinen Kampf gegen den im Konkubinat lebenden und simonistischen Mailänder Klerus zum Modell für den aufsteigenden Ritterstand, der auf der Suche war nach einer Ethik, zu der er sich bekennen konnte. So auch in Florenz, wo der Vallombrosaner Pietro, später »Igneo« genannt (von lateinisch igneus, aus Feuer, brennend), nicht zögerte, die Waffe des Gottesurteils in Form einer Feuerprobe gegen einen Vertreter der alten feudalen Kirche einzusetzen. Auf diese Weise wiegelte er die Bevölkerung auf, um den in der Kritik stehenden Bischof aus seinem Amt zu verjagen. So auch in Pisa, wo Erzbischof Dagobert, ein alter Parteigänger des Kaisers, dank der persönlichen Unterstützung durch Papst Urban II. über seine Gegner triumphierte; später würde er die Pisaner höchstselbst ins Heilige Land führen und sich zum Patriarchen von Jerusalem wählen lassen. Und in Genua wusste Bischof Airaldo auf dieselbe Weise vielfältige Kräfte um sich zu sammeln.

Um ihr hegemonistisches Programm voranzubringen, griffen die Reformatoren klug zu einer Vielzahl von Mitteln. Dazu zählte insbesondere die Unterstützung von religiösen Laienbewegungen im Volk, die sich gegen den Sittenverfall im Klerus richteten oder auch militärisch gegen jene Herren vorgingen, die den Gottesfrieden zu brechen wagten. Den Anführern solcher Gruppen, die sich häufig den Idealen von Armut und Kampf verschrieben, verlieh das Papsttum das vexillum sancti Petri. Den Reformpäpsten war bewusst, wie sehr ihre Sache bewaffneter Arme bedurfte. Kampfhandlungen waren ja legitim, sofern sie auf die libertas ecclesiae abzielten. Als Erster handelte in diesem Sinne Papst Leo IX. (1049–1054), indem er die Gefallenen der Schlacht von Civitate, die 1053 von schwäbischen, italienischen und langobardischen Kontingenten im Sold des Papstes gegen die Normannen in Süditalien ausgetragen wurde, zu Märtyrern erklärte. Bonizo von Sutri, einem Kanoniker und glühenden Gregorianer, galten diese Märtyrer zweifelsfrei als heilig. 1090 sollte Bruno di Segni, Abt von Montecassino, ausdrücklich von den milites beati Petri als milites Christi sprechen. Wie dem auch sei, das vexillum war nicht ausschließlich getreuen Parteigängern vorbehalten. Eine große Zahl von Eroberern erklärte sich allein deshalb zum fidelis des Apostelfürsten, um sich einen Rechtsstatus zu verschaffen, der es ihnen erlauben würde, rechtmäßige Besitzansprüche über die mit Waffengewalt eroberten Güter anzumelden. Indem der Papst all diesen sein Banner zugestand, dem in England einfallenden Wilhelm, den im Süden Italiens um sich greifenden Hautevilles, den Fürsten Kastiliens und Aragóns, die den Mauren Stück um Stück spanischen Bodens entrissen, und den unter Pisa, Genua und Amalfi segelnden Flotten, die 1087 im Golf von Hammamet die Stadt Mahdia überfielen, legitimierte er, was andernfalls ein reiner Akt der Gewalt gewesen wäre. Gleichzeitig trat er vor den Mächtigen und Völkern der Welt als Herr über all diejenigen auf, die seine Insignien anlegten und ihm so Ehrerbietung erwiesen, und damit zugleich als der oberste Souverän ihrer Herrschaftsgebiete.

Es mag merkwürdig erscheinen, dass der Bischof von Rom, dem viele Prälaten die Oberhoheit über die Christenheit in geistlichen Dingen noch immer kaum zugestanden, so sehr nach ihrer Durchsetzung in weltlichen Dingen strebte. Doch war dies die Logik, der der Kampf mit dem Kaiserreich gehorchte, der immer mehr zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei ökumenischen Mächten wurde. Der Schlüssel zum Verständnis dieses erbitterten Streits zwischen den höchsten ökumenischen Autoritäten des Mittelalters liegt im Konflikt von Macht und Kompetenz. Doch liegt er auch, und sehr viel tiefer, in der radikalen Ähnlichkeit und somit gescheiterten Komplementarität beider Mächte begründet. Es gab zur damaligen Zeit nicht die religiöse und die weltliche Sphäre, hier eine heilige Welt und dort eine profane. Man lebte, wie ein Jahrhundert später der Zisterzienser und Bischof Otto von Freising schrieb, »in einer einzigen Gemeinschaft, der Kirche, in der sich alles vermischt«. Dies ist der Hintergrund der Delegitimierung kaiserlicher Macht, in den die Kreuzzugsidee sich einfügte als ein Produkt der nachgregorianischen Phase der Reform. Darin spiegelt sich die Erkenntnis wider, dass der Papst fähig war, sich an die Stelle des Kaisers zu setzen, indem er einen Krieg unter sakralen Vorzeichen erklärte, der vor allem gerecht war. Im Zuge der sukzessiven Durchsetzung seiner eigenen Führungsrolle gegenüber den Bischöfen im Westen hatte der Papst das Vorrecht auch auf die weltliche Führung der Christen für sich beansprucht – und damit den Platz des Kaisers eingenommen.

Die komplexe kirchliche Reformbewegung des 11. Jahrhunderts verwandelte sich für zahlreiche milites in eine Gelegenheit zur Einsicht, zu einer Veränderung ihrer Lebensweise, zur conversio. Die Friedenskonzile hatten diesen Profis der Kriegsführung ein Ideal an die Hand gegeben, das ihnen die Möglichkeit gab, ihre Mittel zu heiligen, während sie weiterhin für jetzt klar umrissene Ziele kämpften: für die Verteidigung der Kirche und der pauperes und zum Schutz der Weisen, Witwen und Mündel. Wenn es sich also bei den feudalen Machtmissbrauchern um mali christiani handelte und wenn auch die simonistischen, im Konkubinat lebenden Kleriker und ihre Anhänger, gegen die die Patarener ins Feld zogen, schlechte Christen waren, dann war gegen sie zu kämpfen gleichbedeutend damit, die Heiden zu bekämpfen. Im Kampf gegen sie zu fallen kam einer Krönung mit dem Märtyrerkranz gleich. Wenn sich, wie es häufig der Fall war, ehemalige Machtmissbraucher oder tyranni zur Sache des Friedens und der Kirchenreform bekehrten, dann bekam ihr Opfer und etwaiges Unterliegen in einem gerechten Krieg den Stellenwert eines Bußaktes, jenem vergleichbar, der zur selben Zeit so viele reuige Ritter auf die Wege der peregrinatio poenitentialis ins Heilige Land führte. Der Dienst an der guten Sache tilgte die Schuld für die Missetaten eines ganzen Lebens voller Gewalt. Die neue Aufgabe des Ritters erfüllte sich unter dem Dreiklang von tuitio, ultio und dilatatio – die Schwachen verteidigen, Übergriffe zurückschlagen, die Grenzen der Christenheit ausweiten. Das gregorianische Ideal der militia Christi, ein Erbe, das auch Papst Urban II. übernahm, fand in Bonizo von Sutri einen glänzenden Theoretiker. Den abschließenden Seiten seines Liber ad amicum und dem VII. Buch seines Liber de vita christiana verdanken wir die klare Ausformulierung einer kriegerischen Ethik, die sich in eine »ritterliche« Ethik wandelt, bereit für ihre Verbreitung sowohl durch die Traktatliteratur als auch durch die chansons de geste. In der gregorianischen Konzeption des miles Christi waren die politischen Beweggründe allerdings nicht so stark ausgeprägt, als dass sie über die Erfordernisse spiritueller oder seelsorgerischer Art dominiert hätten. Der Papst betrachtete den kriegerischen Einsatz eines Ritters gegen die »Heiden« oder pro defendenda iustitia als Äquivalent für eine Zeit der Buße. Kriegsführung im Dienste der Kirche wurde so für öffentliche Sünder zu einem legitimen Weg der Buße.

Die große Geschichte der Kreuzzüge

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