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Europa und der Mittelmeerraum vor den Kreuzzügen Europa erwacht
ОглавлениеUm die Jahrtausendwende begann Europa, Zeichen eines langsamen, aber sicheren Erwachens zu zeigen. Dies geschah nicht plötzlich und auch nicht innerhalb weniger Jahrzehnte. Eine Reihe glücklicher Ereignisse begünstigte das wirtschaftliche Wachstum und den demographischen Aufschwung, die den Kontinent bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts begleiten würden. Die europäische Bevölkerung, welche die engen Grenzen der in den vorigen Epochen bewirtschafteten Anbauflächen aufbrach, machte sich daran, Wäldern und Heiden neue Areale für die Urbarmachung abzutrotzen. Große und kleine Landherren – zunächst kirchliche, später auch weltliche – begünstigten diese Entwicklung, die ihnen neue Einnahmequellen in Aussicht stellte. Insbesondere in den Randgebieten des alten karolingischen Territoriums (der Süden Frankreichs, die germanischen Gebiete jenseits von Rhein und Donau und auch Oberitalien) wurden neue Anbauflächen geschaffen und entstanden neue Städte. Man gewöhnte sich an den Anblick von zuweilen großen Gruppen von Bauern, die auf der Suche nach Land und Arbeit von Ort zu Ort zogen. Innerhalb der Stadtmauern, die teils wiederaufgebaut worden waren, begannen sich die Straßen mit neuem Leben zu füllen: Neue Werkstätten wurden eröffnet, Handel und Handwerk bekamen neue Impulse. Die großen saisonalen Märkte, die alljährlich vor allem an den Kreuzungspunkten der Verkehrswege zu Land und zu Wasser abgehalten wurden, standen unter der Obhut, pax, der weltlichen Herrscher oder unter dem Schutz der Kirche, der pax Dei. Zumindest in der Theorie und unter Androhung schwerster irdischer und spiritueller Strafen durfte niemand den sich dort einfindenden Marktgästen willkürlich Abgaben abpressen oder sie behelligen.
Die Lebensbedingungen der Bevölkerung und die allgemeine Sicherheit verbesserten sich merklich. Diverse technische Innovationen begünstigten die Entwicklung der Landwirtschaft nachhaltig: Eine rationellere Einteilung der Anbauzyklen, eine sorgfältigere Auswahl des Saatguts, die Verbreitung verbesserter Pflugformen und Fortentwicklungen beim Anschirren und Beschlagen der Pferde führten zu einer qualitativen und quantitativen Steigerung der Nahrungsmittelproduktion. Das wiederum war die Grundlage für eine schrittweise Zunahme der Bevölkerung, die parallel zur Erweiterung der Anbauflächen und der Gründung neuer Dörfer stattfand. Auch die Einführung von Hülsenfrüchten in der Ernährung begünstigte den Bevölkerungszuwachs. Nicht alles geschah überall auf dieselbe Art und Weise, zur selben Zeit und mit gleicher Intensität: Es gab Regionen, in denen die Landwirtschaft immer intensiver betrieben wurde und dabei strikten Regeln folgte, die auf antiken Traktaten wie jenen von Varro und Columella beruhten. Andernorts stagnierte sie über längere Zeiträume; das chronische Phänomen der Hungersnöte blieb allgegenwärtig, die in den 1040er- und 1050er-Jahren und dann nochmals im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts grausame Höhepunkte erreichten. Doch vorwiegend verzeichneten Landwirtschaft und Handel große Fortschritte. So kam es in Mitteleuropa im Wesentlichen entlang der Flussläufe von Rhein, Donau und Po zur Ausbildung einer hochzivilisierten, dicht besiedelten Region, die das östliche Frankreich, den Südwesten Deutschlands, Flandern und Norditalien umfasste und mit ihrer Vitalität schon bald auf die umliegenden Gebiete auszustrahlen begann. In Frankreich entfalteten sich die Gebiete entlang der Rhône und der Garonne, wo die städtische Zivilisation auch in größten Krisenzeiten lebendiger geblieben war als im Norden. In Deutschland dehnten sich Handelsrouten und Besiedlung allmählich auch östlich des Rheins bis zum Elbbecken aus. Genau hier, im Herzen Europas, eingerahmt von den großen französischen und deutschen Flüssen und dem Po, entstanden Städte und Handelsplätze. Zugleich mit den villenove, den für die frisch der Landwirtschaft erschlossenen Gebiete so charakteristischen Neugründungen, kam neues Leben auch in die bereits bestehenden, nie ganz untergegangenen Städte, die vorwiegend in den am stärksten romanisierten Regionen lagen, also in Italien und in der Provence. Die maßgeblichen städtischen Bauten, der neue Mauerring und die Kathedrale, nahmen innerhalb weniger Jahre Gestalt an und bezeugen mit den zahlreichen neuen Handelsstraßen das Gesamtbild eines lebendigen, pulsierenden Treibens.
In Italien füllten sich Städte wie Pisa und Genua mit neuem Leben. Tyrrhenische Seerepubliken, die imstande waren, den Sarazenen aus Afrika und Sardinien die freie Schifffahrt streitig zu machen, waren auf dem besten Weg, sich zu bedeutenden Seemächten im Mittelmeer zu entwickeln. An der Adria unterhielt Venedig seit geraumer Zeit stabile Handelsbeziehungen zu Konstantinopel, Syrien und Ägypten. Nicht zu vergessen Amalfi, die erste der italienischen Städte, die sich zu einer unabhängigen blühenden Seerepublik aufschwang, auch wenn sie im 11. Jahrhundert bereits an Dynamik eingebüßt hatte.
Eine einträgliche Handelsroute, die entlang des Rheins verlief, verband Flandern mit der Poebene. Rheinstädte wie Köln, Mainz, Worms und Speyer waren bereits bedeutende Handelsplätze. Vom Rhein erreichte man über eine Straße, die von Chur über den Splügenpass durch Chiavenna und Como nach Mailand führte, relativ bequem sowohl den Adriahafen von Venedig als auch den Hafen von Genua am Tyrrhenischen Meer oder auch den Straßenkreuzungspunkt Piacenza, wo die Via Francigena auf den Po stieß. Diese bedeutende Schlagader für den Handel ebenso wie für die mittelalterlichen Pilgerströme verlief über den Mons Iovis (Großer Sankt Bernhard) und führte weiter durch das Aostatal und das Piemont an Ivrea und Vercelli vorbei in die alte langobardische Metropole Pavia, überquerte bei Piacenza den Po, kreuzte Borgo San Donnino (das heutige Fidenza) und führte über den Cisa-Pass hinunter nach Pontremoli, weiter über Luni nach Lucca, von wo sie Richtung Siena weiterverlief und von dort bis nach Rom. Bereits im 11. Jahrhundert war Piacenza ein bedeutendes Zentrum für die Herstellung hochwertiger Stoffe. Die Stadt Pavia war berühmt für ihre Münze, obwohl ihr Lucca zum Ende des Jahrhunderts nach und nach den Rang ablief, das sich überdies als Textil- und Agrarzentrum wie auch als Pilgerstation einen Namen gemachte hatte. Grundsätzlich war der Lebensstandard in den italienischen Städten im Vergleich zu ihren transalpinen Schwestern recht hoch. Wenn der demographisch-gesellschaftliche Aufschwung in Italien nach dem Jahr 1000 weniger spürbar war als andernorts, so erklärt sich dies durch einen weniger drastischen Niedergang in den Jahrhunderten zuvor. Und doch wurde auch Italien von der allgemeinen Blütezeit erfasst. Am Ende des 11. und in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erhielten die Städte der Halbinsel ihren zweiten oder gar dritten Mauerring. Zugleich schwanden innerhalb der Mauern rapide die ländlichen Areale und wurden stattdessen imposante Kathedralen errichtet. Aus dem Umland kamen Bauern, die sich ihrer feudalen Verpflichtungen entledigen wollten – »Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag«, hieß es –, und dienten den cives vor Ort als billige Arbeitskräfte. Gleichzeitig ließen sie sich von den Stadtbürgern als Manövriermasse gegen die Bestrebungen der mehr oder minder formell über die Stadt regierenden kirchlichen oder weltlichen Herren einsetzen. Gespeist wurde das weiträumige Stadtnetz in Europa durch einen vitalen Lebenssaft: den Handel, der wesentlich von den Hafenstädten an Adria und Tyrrhenischem Meer dominiert wurde, zumindest was Luxusgüter und Waren aus dem Orient betraf.