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Einführung

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Die gesamte Menschheitsgeschichte lässt sich in vier Zeitabschnitte teilen, nämlich in die der »Verirrung«, der »Erneuerung«, der »Versöhnung« und schließlich der »Pilgerschaft […]. Die Zeit der Pilgerschaft ist der jetzige Abschnitt der Menschheitsgeschichte, in dem wir pilgern und uns in einem stetigen Kampf befinden.«

Jacobus de Voragine, Legenda aurea

Die Geschichte der Kreuzzüge ist lang. Um sie mit der nötigen Genauigkeit zu erzählen, beginnen wir mit dem Spannungsverhältnis zwischen dem Begriff, der sie bezeichnet und heute allzu häufig im Munde geführt wird, und dem, was eigentlich geschah. Am Ende des 11. Jahrhunderts, also als dem üblichen historischen Narrativ zufolge 1096–1099 der sogenannte »erste Kreuzzug« stattfand, gab es keinen Kreuzzug. Es gab nicht einmal das Wort, das erst später aufkam und die gebräuchlicheren Bezeichnungen expeditio, succursus, auxilium, peregrinatio, iubilaeum, passagium, negotium crucis oder negotium Ihesu Christi ablöste, allerdings nie ganz. Schon die zugrunde liegende Idee selbst erscheint verworren, wenn man die fragmentierte Abfolge kriegerischer und religiöser Aktivitäten betrachtet, denen es an ideologischer Kohärenz fehlte: militärische Expeditionen, bewaffnete Pilgerfahrten, Volksbewegungen. Doch auch wenn es an Institutionalisierung und theoretischem Unterbau noch mangelte – sie zumindest gab es schon: die crucesignati. Als peregrini auf dem Weg nach Jerusalem trugen sie auf ihrem Gewand, auf Schulter oder Brust aufgenäht oder -gestickt, oder auch auf dem Pilgersack ein kleines Kreuz. Ihre Reise war sowohl iter als auch peregrinatio, ebenso Waffengang wie Bußgang. Der Kreuzzug, als bewaffnete Pilgerfahrt nach Jerusalem entstanden, wurde hauptsächlich auf dem Landweg durchgeführt, wobei sich der Transport über das Meer fast sofort als geeignetes Hilfsmittel erwies: zuerst bei der Eroberung des Heiligen Landes und dann bei der Versorgung jener sozialen und bürgerlichen Strukturen lateinisch-westlicher Art, die sich dort bald entwickelten. Mit der Zeit wurde das gesamte Unternehmen mit dem Begriff benannt, der ursprünglich die Überquerung des Meeres bezeichnete: das passagium.

Später, seit dem Konzil von Lyon 1274, wurde feiner unterschieden. Das passagium generale galt als allgemeine Christenpflicht. Man konnte ihr entweder durch den persönlichen Einsatz im Kampf nachkommen oder auf andere Weise seinen Beitrag dazu leisten, etwa durch Zehntzahlungen, Almosen, Geldbußen oder testamentarische Vermächtnisse. Dagegen sprach man von passagium particulare, wenn die Unternehmung genau umrissene Ziele hatte oder nur eine bestimmte Gruppe von Berufskriegern dazu aufgerufen wurde. Sogar den Fall eines passagium quasi particulare hat es gegeben, bei dem einige vornehme Genueser Damen als Wegbereiterinnen einer Expedition im großen Stil auftraten, die dann allerdings nie zustande kam.

Im Verlauf des 13. Jahrhunderts tauchten in den Werken von Chronisten wie Geoffroi de Villehardouin und Johannes von Joinville gelegentlich Wörter und Wendungen auf, die sich auf den eigentlichen Akt der Kreuznahme bezogen (firent croise oder se croizer) oder auf das ganze Unternehmen (croiserie und croisement) oder dessen Teilnehmer (croize und croisse). Doch wurden diese Begriffe eher beliebig eingesetzt. Der Terminus cruciata kam zuerst während des sogenannten Albigenserkreuzzuges und dann im iberischen Bereich in Gebrauch und wurde lange Zeit typischerweise für den wirtschaftlich-finanziellen Aspekt des Unternehmens verwendet. So machte die bulla cruciatae genaue Angaben zu den Zehnten und anderen Beiträgen in klingender Münze, die die Christen für die jeweilige Expedition zu entrichten aufgefordert waren. Erst irgendwann im Laufe des 17. oder 18. Jahrhunderts – die erste Verwendung des Begriffs in diesem Sinne scheint auf die 1638 in Lyon veröffentlichte Histoire des croisades von Archange de Clermont zurückzugehen – bekam die Bezugnahme auf das Kreuz jene allumfassende Relevanz, die wir dem Begriff heute beimessen. Nun konnte »Kreuzzug« nicht mehr nur die Gesamtheit aller Handlungen bezeichnen, die 1099 zur Eroberung Jerusalems geführt hatten und im Folgenden zur Verteidigung des lateinischen Königreichs im Heiligen Land und seiner Vasallenfürstentümer bis zu ihrem Fall im Jahr 1291 beigetragen hatten. Gemeint waren jetzt auch all jene Anstrengungen, die zur Verteidigung ganz Europas unternommen wurden, dem in den folgenden Jahrhunderten Gefahr vonseiten der Osmanen und Barbaresken drohte. Der Terminus cruciata, der in alle europäischen Sprachen Eingang fand, nahm bald weitere, übertragene Bedeutungen an. In den Jahren der Französischen Revolution bemühten ihn sowohl Jakobiner als auch Konterrevolutionäre, meinten damit aber ganz Verschiedenes: Die einen verurteilten die Entscheidung der anderen, sich den Werten der Revolution mit Waffen zu widersetzen, als fanatisch und reaktionär, während ebendiese anderen ihre religiösen und politischen Vorstellungen verherrlichend aufs Schild hoben. Die propagandistische Kreuzzugsterminologie wehte auch durch die folgenden Jahrhunderte und reicht, der Mythenbildung reichlich Stoff liefernd, von der Vendée bis ins Süditalien der Sanfedisten, von Rom unter Pius IX. bis zur mexikanischen Cristiada in den Jahren 1926–1929, vom Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 bis zum war against terror eines George W. Bush. Das eigentliche Bild vom Kreuzzug ist dabei mit der Zeit verblasst, obwohl er als kulturelles Phänomen weiterhin außerordentliches Bedeutungspotenzial besitzt. Wie erklärt sich eine solche semantische Anpassungsfähigkeit?

Die Gründe dafür liegen vielleicht in der Natur der Sache selbst. Ein Jahrhundert nach seinen Anfängen wurde der Kreuzzug erstmals einer gewissen Kodifizierung unterzogen. Die Kanonisten versuchten sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts an einer genauen Bestimmung der Eigenart des Kreuzzugsgelübdes, also jenes feierlichen Versprechens, das die crucesignati vor ihrer Abreise ablegen mussten und worin sie sich zur Einhaltung der Bedingungen verpflichteten, die der Papst in der entsprechenden bulla formuliert hatte. Im Gegenzug zu diesem feierlichen Versprechen kamen die Kreuzfahrer, die diese peregrinatio sui generis auf sich nahmen, in den Genuss einiger konkreter Vorteile – zum Beispiel der Aussetzung bestimmter Strafurteile oder eines Schuldenmoratoriums für sich und ihre Familien bis zur Rückkehr von der Expedition. Dazu gab es einen hochbegehrten geistlichen Lohn, der in einem vollständigen Sündenablass bestand. Es war derselbe Ablass, den die Päpste, beginnend mit dem Jahr 1300, anlässlich eines Heiligen Jahres gewährten und der die für die jeweilige Schuld des Sünders vorgesehenen zeitlichen Sündenstrafen nach dem Tod vollständig tilgte. Es waren die Kanonisten, insbesondere Sinibaldo Fieschi, der als Papst Innozenz IV. zwischen 1243 und 1254 auf dem Heiligen Stuhl saß, und Heinrich von Susa, der ab 1262 Kardinalbischof von Ostia war, die für solche Unternehmungen die Bezeichnung crux einführten. Sie unterschieden zwischen einer crux transmarina, die über das Meer ins Heilige Land führte, aber auch gegen die Mauren auf der Iberischen Halbinsel oder die Heiden im Ostseeraum gerichtet sein konnte, und einer crux cismarina, die der Bekämpfung der religiösen oder politischen Feinde von Kirche und Papsttum galt, die im Innern der Christenheit lauerten. So wurde ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts das Engagement gegen die Ungläubigen praktisch mit dem gegen die mali christiani gleichgesetzt. Sache der Kirche war es, von Fall zu Fall die opportunen Ziele aufzuzeigen. Nachdem man einmal kirchenrechtlich verankert hatte, dass der spezifische Zweck der bewaffneten Pilgerfahrt ins Heilige Land weniger der Schutz der heiligen Stätten war als vielmehr die tuitio, exaltatio und dilatatio christianitatis, konnte man all jene Expeditionen, die die Kriterien der Verteidigung und Verherrlichung von Christi Namen erfüllten, dem iter hierosolymitanum dem Wesen nach gleichstellen und dafür die entsprechenden geistlichen und weltlichen Privilegien gewähren. Damit erschufen Päpste und Kanonisten ein außerordentliches Herrschaftsinstrument über den corpus christianorum, und dies obwohl sich parallel dazu eine breite Front der Ablehnung herauszubilden begann, die einem Kampf unter Christen jegliche Rechtmäßigkeit absprach. Nicht selten wurden sogar die christlichen Misserfolge im Heiligen Land auf ebendiese päpstliche Politik zurückgeführt, der man vorwarf, die Anwendung von Gewalt innerhalb der Christenheit zuzulassen.

Der solcherart institutionalisierte Kreuzzug koexistierte lange Zeit mit der Kreuzzugsbewegung, soll heißen jenem Komplex an Mythen und Vorstellungen, die mit der Praxis der peregrinatio und der Idee der Erlösung, aber auch der ritterlichen aventure verknüpft waren, dabei immer wieder apokalyptische Töne anstimmten und jedenfalls über die rein juristischen oder politischen Aspekte des Phänomens hinausgingen. In der Gedankenwelt und dem täglichen Leben des einfachen Volkes konnte der Kreuzzug lange Zeit seine außergewöhnliche Suggestionskraft bewahren. Die Päpste riefen weiterhin Kreuzzüge aus: gegen Heiden und Ketzer und ab dem 14./15. Jahrhundert gegen die Europa bedrohenden Türken. Die Praxis setzte sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts fort. War das, mit Blick auf seine ursprünglichen Ziele, eine Abweichung oder eine Erweiterung des Kreuzzugsgedankens? Ob erster Kreuzzug oder späte Nachläufer, wir haben es in allen Fällen und aus gutem Grund mit echten Kreuzzügen zu tun. Auch wenn sie verschiedene, wechselnde Ziele verfolgten, haben sie doch miteinander gemein, dass sie von derselben Autorität in derselben Absicht ausgerufen wurden, nämlich die Christenheit auszuweiten oder zu verteidigen. Abgesehen von den zahlreichen Chroniken, die sich mit den Ereignissen im Orient befassen und sich ab dem 12. Jahrhundert auf den lateinischen Osten konzentrieren, wurde der Kreuzzug wiederholt auch zum Gegenstand des humanistischen Nachdenkens vor dem Hintergrund des Türkenproblems. So spricht ein Werk wie La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem) dem Anschein nach zwar über den ersten Kreuzzug, beschäftigt sich in Wirklichkeit aber mit der eigenen Zeit: Torquato Tasso beschwört Gottfried von Bouillon und das Heilige Land herauf, meint dabei aber Don Juan de Austria und Lepanto.

Der Kreuzzug als religiöses Phänomen zog seitens der Philosophen – von Voltaire bis Gibbon, Montesquieu, Mailly und Robertson – Verachtung, ja sogar Zorn auf sich. Sie sahen darin eine der ultimativen Manifestationen jenes Fanatismus, der genau das Gegenteil zu dem von ihnen hochgehaltenen Ideal der Toleranz war. Dabei erkannten sie durchaus seine historische Geltung, die sich aus den erheblichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen einer ständigen Konfrontation mit dem Anderen ergeben hatte. So gesehen galt der Kreuzzug im Kern als ein politisch-ökonomisches Phänomen, für das die religiöse Sphäre kaum mehr als eine formale Hülle, wenn nicht gar nur ein Vorwand war. Eine Sichtweise, die kaum in stärkerem Gegensatz stehen könnte zu der wachsenden romantischen Begeisterung, mit der die Helden und Antihelden der Kreuzzüge verherrlicht wurden: von Gottfried von Bouillon über Richard Löwenherz bis hin zum kurdischen Sultan Ṣalāḥ al-Dīn – dem Saladin der westlichen Tradition –, der mal als Ungeheuer gezeichnet wurde (wie der »feroce Saladino« auf den Sammelbildchen eines italienischen Lebensmittelkonzerns in den 1930er-Jahren), mal als großzügiger, ritterlicher und fairer Gegner, zu dem viele Kreuzfahrer dauerhafte Beziehungen pflegten. Dieser Saladin ist es, den Gotthold Ephraim Lessing, inspiriert von Boccaccios Novelle Die drei Ringe, in seinem Drama Nathan der Weise von 1779 zum Sinnbild der Toleranz machte. Ein ähnliches Bild zeichnete Walter Scott, der die geheime Freundschaft zwischen Saladin und Richard Löwenherz in den Mittelpunkt seines Romans Der Talisman (1825) stellte. War den Aufklärern der Kreuzzug nur Unwissenheit, Barbarei und Fanatismus, so bedeutete er Romantikern wie dem Historiker und Royalisten Joseph-François Michaud, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine monumentale sechsbändige Histoire des croisades, gefolgt von einer vierbändigen Bibliothèque des croisades, verfasste, nichts weniger als eine heilige Unternehmung mit dem Ziel, die Christen des Ostens aus der Tyrannei der Sarazenen zu befreien und auf diesem Weg zugleich zur Verbreitung des Christentums und der europäischen Zivilisation in der Welt beizutragen. Vor diesem Hintergrund fand letztlich eine Gleichsetzung von Kreuzzügen mit Heiligen Kriegen oder Missionskriegen statt. Beide kulturelle Haltungen haben in den vergangenen zwei Jahrhunderten die Vorstellungen vom Kreuzzug geprägt und in der Öffentlichkeit – wie eben schon angedeutet – eine ethisch-politische Polemik genährt, die in den unterschiedlichsten Situationen erneut aufflammen konnte. Das war der Fall beim katholischen Widerstand in der Vendée gegen die bewaffneten Kräfte der Französischen Revolution; bei den Freiwilligen, die aus fast ganz Europa, vor allem aber aus Frankreich herbeiströmten, um den Kirchenstaat zwischen 1860 und 1870 gegen die Eroberung durch die italienischen Nationalisten zu verteidigen (wofür sie im Übrigen eine Generalabsolution in Aussicht gestellt bekamen); bei der guerra cristera in Mexiko, als es in den Jahren 1926–1929 zum Aufstand gegen die Regierung des Präsidenten und Freimaurers Plutarco Elías Calles kam. Das galt schließlich auch für die Verwendung des Begriffs cruzada während des Spanischen Bürgerkriegs 1936–1939 durch die franquistische Propaganda, von wo er in den Sprachgebrauch der nacionales überging. Der eine oder andere übereifrige Prälat hätte es gerne gesehen, wenn die Freiwilligen, die zur Unterstützung der Nationalisten nach Spanien eilten, als Kreuzritter anerkannt worden wären, der vollkommene Ablass natürlich inklusive. Davon wollte Pius XI. allerdings nichts wissen.

In den letzten Jahren hat das Aufkommen von Fundamentalismen das Thema erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Durch die Ereignisse seit dem 11. September 2001 wurden die spätestens 1979, dem Gründungsjahr der Islamischen Republik Iran, wieder erwachten Vorurteile an die Oberfläche gespült – allen voran die Vorstellung von Europa und Islam als »historische Feinde«, geopolitisch dazu bestimmt, miteinander in Konflikt zu geraten. Sie ist einer verzerrten, oberflächlichen und rhetorisch zugespitzten Sichtweise geschuldet, die Geschichte vor allem als eine Geschichte der Kriege versteht und dabei vergisst, all diese Einzelepisoden in dem reichen und vielschichtigen Kontinuum zu kontextualisieren, das die gewinnbringenden und engen wirtschaftlichen, kulturellen und diplomatischen Beziehungen bilden. Ein weiteres zäh sich haltendes Vorurteil besagt, der Islam habe sich immer mit Gewalt durchgesetzt – eine Lüge, die manche Publizisten und Pseudohistoriker um die noch lächerlichere Behauptung haben ergänzen wollen, dass sich das Christentum (oder gar der Westen, ob christlich oder postchristlich) im Gegensatz dazu stets nur dank seiner gewaltlos propagierten positiven Modelle von Frieden und Toleranz, repräsentativer Demokratie und technischem Fortschritt ausgebreitet habe. Es waren Fundamentalismen, von denen es keineswegs nur islamische, sondern auch christliche, jüdische und laizistische gibt, die den Kreuzzug beziehungsweise etwas, das ihm ähnlich sehen möchte, wieder in Mode gebracht haben. Und wie in einem Flashback ist dadurch der echte, einer komplexen und nicht allzu bekannten historischen Vergangenheit angehörende Kreuzzug zurückgekehrt und zieht das Publikum von Neuem in seinen Bann. Bücher, Fernsehserien und Filme sind der Beweis dafür. Doch bevor auch wir uns auf die Reise in das Universum der Kreuzzüge begeben, wollen wir noch einmal kurz auf die erwähnte semantische Anpassungsfähigkeit des Begriffs zurückkommen, auf seine verschiedenen Bedeutungsschichten. Denken wir an den Gebrauch (und Missbrauch) des Wortes crusade in der amerikanischen Politpropaganda, beginnend mit den 1948 unter dem Titel Crusade in Europe veröffentlichten Kriegserinnerungen Dwight D. Eisenhowers bis hin zu den Ereignissen seit dem 11. September. Denken wir aber auch an den Ge- und Missbrauch desselben Begriffs in der islamistischen Propaganda, wofür es zahlreiche Belege gibt, so zum Beispiel in dem vom sogenannten »Islamischen Staat«, bekannt unter dem Namen ISIS oder Daesh, verbreiteten Magazin Dābiq, das nicht davor zurückscheut, seine Gegner im Westen als »Kreuzfahrer« und deren Kriege als »Kreuzzüge« zu bezeichnen. Dies geschieht im Übrigen unter Verwendung eines Ausdrucks, der dem klassischen Arabisch fremd ist, das die Kreuzzüge noch weit bis ins 19. Jahrhundert als al-hurub al-franjyya (»Kriege der Franken«, sprich: der Westeuropäer) bezeichnete, bevor sich in den Schulbüchern die eingängigere Bezeichnung al-hurub as-salibyya (»Kriege des Kreuzes«) durchsetzte. Heute hat die – dezidiert westliche – Rhetorik vom »Kampf der Kulturen« auch unter Muslimen ihre Anhänger gefunden.


Émile Signol, Reiterbildnis Gottfrieds von Bouillon, König von Jerusalem, 1844, Versailles, Musée du Château.

Der metaphorische, auch bildhafte Gebrauch des Begriffs bleibt zulässig, solange wir dabei in einer gründlichen und umfassenden Kenntnis seines immensen historischen Potenzials verankert bleiben. In Wahrheit ist der Kreuzzug so etwas wie der »weiße Wal« der europäischen Geschichte. Er ist eines und vieles. Er folgt einem strengen Regelwerk und artikuliert sich doch in einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Einzelfälle, die je nach Epoche und Kontext, in dem ein Kreuzzug ausgerufen wurde, ihre eigenen Ziele verfolgen. Eher als eine Utopie ist er eine Art Proteus der abertausend Formen: immer gleich und doch immer anders. Als juristisch-politisches Instrument und »Kraftidee«, als unerschöpfliche Quelle für Metaphern, als Mythos und, immer und immer wieder, als Anlass für Rechtfertigungen, Verdammungen, Polemiken und Missverständnisse entfaltete sich der Kreuzzug in unterschiedlichen Situationen immer wieder neu, wobei er sich einer allmählich oder auch plötzlich hereinbrechenden Abenddämmerung ebenso fügte wie dem unerwarteten Morgen, der ihn mit neuem Leben erfüllte. Er war der Protagonist zahlreicher Revivals, in denen er durch die metaphorische und propagandistische Verwendung des Begriffs seine Aktualität zurückgewann. Ziel und Zweck hat er wiederholt gewechselt, seinen Schauplatz ebenfalls. Er spielte nicht nur im Heiligen Land, sondern auch in den iberischen Königreichen, im französischen Süden, auf der italienischen Halbinsel und in Nordosteuropa. Mehrfach hat er sich neu definiert: als bewaffnete Pilgerfahrt, als Kampf gegen die Ketzerei, als Instrument politischer Kontrolle, als Verteidigungsmaßnahme an der Vormauer der europäischen Christenheit gegen die osmanischen Offensiven des 15. bis 18. Jahrhunderts, als custodia maris gegen die Barbareskenkorsaren, als Einsatz für die Christianisierung der Neuen Welt. Diese Vielschichtigkeit hat die Wasser getrübt und für zahlreiche Missverständnisse gesorgt, die selbst umsichtige Historiker in die Irre geführt haben. Und doch hätte dies nicht geschehen können, hätten wir es nicht mit einer so wandelbaren Realität zu tun, eben einer wahrhaftigen »Kraftidee« (idée-force) des europäischen Westens. Es ist die Kenntnis ihrer historischen Entwicklung, zu der dieses Buch beitragen will, um gegen die immer wieder auflebende Rhetorik vom »Kampf der Kulturen« immun zu machen. Heute ist das große Meer der internationalen Politik von allzu vielen Walfängern wie der »Pequod« bevölkert, und allzu oft erschallt aus dem Mastkorb der verhängnisvolle Ruf: »Da bläst er! Da!« Von Herman Melville stammt auch der Rat, sich vor den vielen Ahabs unter den Kapitänen in Acht zu nehmen: Wenn sie uns Zeichen geben, ihnen zu folgen, ist es besser, die Einladung nicht anzunehmen.


Hubert und Jan van Eyck, Die Ritter Christi, 1432, Gent, St.-Bavo-Kathedrale.

Die große Geschichte der Kreuzzüge

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