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Eine Gesellschaft in Bewegung

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Den Aufschwung begleitete allerorts eine optimistische Grundstimmung, ein wiedergewonnenes Vertrauen in das Leben und die menschlichen Fähigkeiten. Die gewaltsamen Einfälle der Jahrhunderte zuvor gehörten der Vergangenheit an: Die zum Christentum bekehrten Ungarn hatten sich in Pannonien niedergelassen und die Normannen im Nordwesten Frankreichs, von wo aus sie nach Süditalien und England vorstießen. Und die sarazenischen Piraten Afrikas, Sardiniens und der Balearen führten ihre Angriffe nicht nur sporadischer durch, sondern sahen sich außerdem dem wachsenden Druck der christlichen Flotten ausgesetzt.

Die Legende von den Schrecken des Jahres 1000 entspringt nicht in allen Teilen blanker Phantasie. Tatsächlich war das 10. Jahrhundert eine beklemmende Epoche gewesen und hatte zu einem Erstarken der christlich-eschatologischen Erwartungen und einem verbreiteten Millenarismus geführt. Im Jahr 998 berichtete Abt Abbo von Fleury, dass er als junger Mann in Paris einen Prediger gehört habe, der das Ende der Welt und das darauf folgende Jüngste Gericht verkündet habe. Solche Schreckensvisionen gingen in ganz Europa um. Zuhauf kamen Schriften in Umlauf, die das nahende Reich des Antichrist und die endzeitliche zweite Wiederkunft Jesu Christi verkündeten und die Gläubigen zur Buße drängten. Die Bußbewegungen waren zu einem alltäglichen Phänomen geworden, das die Kirche – angeführt von dem tatkräftigsten und intellektuell versiertesten monastischen Zusammenschluss jener Zeit, der Kongregation des Benediktinerordens, an deren Spitze die Abtei von Cluny stand – zu disziplinieren wusste und bevorzugt in den Bau neuer Kirchen umlenkte. Die Bautätigkeit war von höchster Bedeutung für das Leben in jenem Jahrhundert: »Man hätte glauben können«, schrieb der zeitgenössische Chronist Rodulfus Glaber, »die Welt schüttele die alten Lumpen ab, um sich mit dem weißen Gewand der neuen Kirchen zu kleiden.« Die Kirche und ganz besonders die Kathedrale als Zentrum und Symbol des wiederauferstandenen städtischen Lebens wurde zwar von spezialisierten Werkstätten erbaut, doch aus Steinen, welche die Bußfertigen (häufig eigenhändig) herbeitrugen. So wurde sie zum eigentlichen Symbol des Friedens und der Versöhnung der Christen untereinander; sie war das himmlische Jerusalem, ein Abbild der Stadt Gottes, errichtet auf Erden als Ergebnis einer kollektiven Läuterungsanstrengung. Kein Ort war zu weit auf der Suche nach Reliquien, die ihr Ruhm verleihen und einen Pilgerbesuch lohnend machen würden. In ihrem Schatten gedieh der Wohlstand der Stadtbewohner, weil diese das Fest des Heiligen, dem die Kirche geweiht war, mit einem Markt, auf Italienisch fiera, verbanden (von feria, religiöser Feiertag).

Gleichzeitig wurde die Praxis, die heiligen Stätten der Christenheit aufzusuchen, immer populärer. Das hatte zu tun mit dem allgemein wieder stärkeren Bedürfnis nach Ortswechseln, sei es aus der wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus, diesen oder jenen Markt zu besuchen, sei es von dem Wunsch beflügelt, fruchtbareres Land und einträglichere Arbeit zu finden. Manch einer folgte auch dem Ruf einer für ihre akademischen Lehrer und ihren Bücherbestand berühmten Schule. Auf Pilgerreise begab man sich, um zu beten, eine Wallfahrtskirche zu bewundern oder um eine Gnade zu erflehen, sie konnte aber auch in der Absicht unternommen werden, Handel zu treiben oder sich zu bilden. Die Kirche, und hier wieder besonders die cluniazensische Kongregation, unterstützte die Bewegung, indem sie Hospize eröffnete, die Pilger unter ihren Schutz stellte, sich für den Bau und die Erhaltung der Straßen und die Wiederherstellung der alten Verkehrswege einsetzte, die jahrhundertelang nahezu brachgelegen hatten und nun wieder benutzt wurden. Bisweilen diente die Pilgerreise als Buße für besonders schwere Sünden und wurde so zu einer regelrechten Bußwallfahrt, einer peregrinatio poenitentialis. Doch ob Gläubiger, Kaufmann oder Wissbegieriger, ob reuiger Verbrecher, Arbeitssuchender, Wanderprediger, Bandit oder Schmarotzer, der peregrinus war und blieb im Wesentlichen ein »Suchender nach Gott«. Das Leben selbst war eine Reise, für deren Ziel die Kirche oder das Heiligengrab, zu denen man pilgerte, nichts als ein unzureichendes Symbol, ein blasser Abglanz waren. Noch galt der Pilger per Definition als »arm«. Es war die Zeit der großen Wallfahrtskirchen und Wallfahrtsorte: Santiago de Compostela, Mont-Saint-Michel, Chartres, Rom, San Michele im Gargano, Jerusalem. Quer durch ganz Italien zogen diejenigen Pilger, die über die Via Francigena zu den Häfen von Apulien und von dort nach Epirus reisten. Weiter ging es über die Via Egnatia nach Konstantinopel und von dort aus, sofern es die politische Lage zuließ, über Land, andernfalls über das Meer ins Heilige Land.


Hugo I. von Vaudémont wird bei seiner Rückkehr vom Kreuzzug ins Heilige Land von seiner Ehefrau Anna von Lothringen empfangen, 12. Jh., Nancy, Saint-François des Cordeliers.

1062/63 wies der Kalif al-Mustansir den »lateinischen« (westlichen) Christen in Jerusalem ein eigenes Quartier zu, worin sich zugleich Ursache und Wirkung eines verstärkten Zustroms zu den heiligen Stätten offenbart.

Aus einer anglonormannischen Chronik wissen wir, dass sich im Frühjahr 1064 eine Gruppe englischer, flämischer und deutscher Pilger unter der Führung des Erzbischofs von Mainz und der Bischöfe von Regensburg, Bamberg und Utrecht nach absolviertem Jerusalembesuch wieder in Jaffa (dem Hafen von Jerusalem) auf einer Genueser Flotte einschiffte und dann in Brindisi geschlossen an Land ging. Handelte es sich dabei um eine zufällige Mitreisegelegenheit oder um einen Dienst, den die Genuesen für gewöhnlich anboten und der von den Pilgern angefragt wurde? Wir wissen es nicht. Tatsache ist, dass der erste genuesische Chronist, Caffaro di Caschifellone, von zwei großen Anführern der Kreuzfahrer berichtet, Gottfried von Bouillon und Robert von Flandern, die sich auf dem Genueser Schiff »Pomella« eingeschifft haben sollen, um ihre Pilgerreise ins Heilige Land anzutreten. Und bei dieser Gelegenheit sei letztlich die eigentliche Idee des Kreuzzuges geboren worden. Eine Legende, gewiss, die jeglicher Grundlage entbehrt. Wenn sie allerdings Caffaro, der zu einer Zeit schrieb, als die Erinnerung an den Kreuzzug in der Stadt noch lebendig war, so einfach aus der Feder fließt, dürfte der Kontext, in den er sie einbettet, an sich plausibel sein. Auch berichtet uns ein Chronist aus dem späten 13. Jahrhundert, der Bischof und Hagiograph Jacobus de Voragine, dass am äußersten Zipfel jenes Küstenstreifens, den die genuesische Flotte anlief, schon lange Zeit vor dem ersten Kreuzzug ein Hospiz für die Pilger ins Heilige Land stand. Zu Recht wird man anmerken, dass es sich um ein jüngeres Zeugnis handelt. Zu bedenken ist andererseits zweierlei: Piacenza, ein bedeutender Straßenkreuzungspunkt, an dem wie gesagt die Via Francigena den Po überquerte, lag nicht nur in der Nähe von Genua, sondern war auch gut an die Hafenstadt angebunden. Überdies war der Landweg nach Jerusalem – vor allem auf dem Streckenabschnitt durch Anatolien – deutlich riskanter und unbequemer als die Reise über das Meer. Also mutet es nicht unwahrscheinlich an, dass sich die Pilger oder zumindest jene unter ihnen, die es sich leisten konnten, für die Überfahrt an die Genuesen wandten. Dasselbe ließe sich über Pisaner, Venezianer und Amalfitaner sagen, wobei Letztere sogar ein Hospiz in der Heiligen Stadt unterhielten. Entlang der Pilgerwege lag eine große Zahl von stationes, Pilgerstationen, jede von ihnen mit ihrem eigenen Heiligen, ihrer wundertätigen Reliquie, ihrer Kirche, in der man Ablässe erwerben konnte. Hospize und Marktflecken reihten sich aneinander. Die Reise des Pilgers vollzog sich unter dem ständigen Schutz der pax Dei. Sein Leib und seine Habe waren heilig und die Abzeichen, die er trug – signa super vestes –, ein sichtbares Symbol seines Reiseziels und zugleich Zeichen für den Respekt, den die Kirche von allen Christen ihm gegenüber einforderte: die Muschel für Santiago, das Kreuz für Rom oder Jerusalem, für das auch die Palme als Pilgermarke stand.

Die allgemeine Belebung nach der Jahrtausendwende ist eng mit einem religiösen Aufbruch verknüpft, der mit der cluniazensischen Reform das spirituelle Gesicht der Christenheit zu verändern begann. Die Mönche aus Cluny spielten eine bedeutende Rolle in der Geschichte des Straßennetzes, der Stadtentwicklung, der Sakralarchitektur, der Märkte. Als Förderer des Pilgerwesens taten sie sich als Beschützer all jener hervor, die sich immer zahlreicher und immer häufiger zu den bedeutendsten Kultstätten der Christenheit aufmachten. Die Jakobswege, also jene Straßen, die zu dem berühmten Wallfahrtsort Santiago de Compostela in Galicien führten, überzogen Frankreich und die Iberische Halbinsel mit einem für jene Zeit ausgesprochen engmaschigen Wegenetz. Im 11. und 12. Jahrhundert wurden im Gebiet der Garonne, das alle diese Straßen zwingend passierten, Siedler angesetzt, deren Aufgabe es war, die Region für die Durchreise der Bußfertigen fruchtbarer und sicherer zu machen. Dasselbe geschah in der Auvergne, durch die ebenfalls ein Abschnitt des Jakobsweges verlief. Die berühmteste der nach Santiago führenden französischen Straßen begann in Paris, passierte Orléans und Cléry, erreichte anschließend Tours, wo sie sich mit der aus Chartres kommenden Straße vereinigte. Von hier aus ging es weiter nach Poitiers, Blaye, Bordeaux, Dax und Ostabat, wo zwei weitere Straßen einmündeten – die eine, über Bourges, Limoges und Périgueux, aus Vézelay kommend, die andere durch Le Puy, Conques, Cahors und Moissac aus Clermont kommend. Zu nunmehr einem Weg vereint, überquerte die Strecke bei den Übergängen von Roncesvalles und Puente la Reina die Pyrenäen und stieß südwestlich von Pamplona auf den provenzalischen Streckenabschnitt, der von Arles kommend, vorbei an Saint-Gilles und Toulouse, die Pyrenäen bei Somport passiert hatte. Burgos, León, Astorga, das waren die wichtigsten spanischen Etappen vor dem berühmten Wallfahrtsort. Über die Jakobswege war auch die Via Francigena bequem zu erreichen, jene wichtigste, auch als Via Romea bekannte italienische Verkehrsader, von der wir bereits sprachen. Von Rom konnte man auf der Via Appia Antica oder der Via Latina zu den Häfen Apuliens gelangen und sich von dort nach Jerusalem einschiffen. Zu Lande erreichte man Konstantinopel durch das Donautal vom ungarischen Territorium aus. Dieses hatte sich für die Pilger geöffnet, als sich König Stephan von Ungarn zu Beginn des Jahrhunderts mit seinem gesamten Volk zum Christentum bekehrte hatte. Entlang dieses Straßennetzes, das die bedeutendsten Kultstätten der Christenheit – Santiago, Rom, Jerusalem – miteinander verband, lagen weitere nicht ganz so bedeutende, aber dennoch berühmte Wallfahrtsorte. Die Wallfahrtsstätte auf dem Monte Sant’Angelo im Gargano, die dem Erzengel Michael geweiht und schon im 8. Jahrhundert bekannt war, begründete mit ihrer machtvollen Ausstrahlung den Kult von Mont-Saint-Michel au péril de la mer in der Normandie. Da man von Rom aus über Montecassino leicht nach San Michele im Gargano gelangen konnte, ging auch hier die Entwicklung von Straßennetz und Religion Hand in Hand. Der kriegerische Erzengel war quasi der Nationalheilige der Normannen, wie er es auch schon für die Langobarden gewesen war. Dem an der Via Francigena gelegenen Lucca wiederum war es gelungen, den Kult vom Santo Volto zu etablieren. Und fast jeder der französischen Orte, die als Etappen nach Santiago genannt wurden, besaß seinen eigenen wundertätigen Heiligen oder verwahrte irgendeine wertvolle Reliquie.

Religiöser Kult und Handel gingen eine unauflösliche Verbindung ein: Jedes spirituelle Zentrum, das eine große Zahl Pilger anzog, machte eine aufwändige Logistik erforderlich, die für die ansässigen Bürger, Handwerker und auch die Bauern aus der Gegend Wohlstand bedeuten konnte und außerdem die damals so verbreiteten Wanderkaufleute anlockte. In regelmäßigen Abständen wurden Märkte und Jahrmärkte abgehalten, bei denen diese oder jene religiöse Festivität den Zustrom des Publikums sicherstellte. Zur Unterstützung der Pilger gründete man in den Städten hospitalia oder xenodochia für ihre Unterbringung. Auch versuchte man, Reliquien zu ergattern, um Pilger anzulocken. Deren Ruhm vertraute man sodann der poetischen Ader eines Verseschmieds an – oder der Pracht der Gebäude oder dem aufwändigen Gehäuse, in dem sie verwahrt wurden. Bisweilen waren die Reliquien buchstäblich Trophäen frommer Akte von Raubrittertum. Man denke nur daran, wie die Venezianer sich der Tradition zufolge den Leib des heiligen Markus beschafft haben oder die Einwohner von Bari den des heiligen Nikolaus: indem sie nämlich ihre Überreste mit List und Gewalt aus Alexandria respektive Myra entwendeten. Die heilige Beute bekam angemessenes Asyl gewährt und man beauftragte artifices, auch diese in der Regel auf Wanderschaft, mit der Herstellung von Reliquiaren aus wertvollem Metall. Vor allem aber widmete man sich mit Eifer dem Bau jener grandiosen steinernen Schreine der städtischen Kathedralen, dieser sichtbaren Zeichen für die Wiedergeburt der Städte, die zugleich Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens und stolzer Ausdruck von Glauben, Reichtum und Tatendrang eines aufsteigenden Bürgertums waren. Voller Bewunderung berichten die Quellen der Zeit von jenen gemeinschaftlich errichteten Kirchenbauten. Männer und Frauen jeden Alters und aller Schichten luden Steine auf Karren und zogen sie zur Baustelle. Während der Rast ermahnte ein Prediger zum Frieden und zur gegenseitigen Vergebung. Weigerte sich jemand, seinem Schuldiger zu vergeben, wurden die von ihm transportierten Steine ausgesondert, er selbst aus der Gruppe ausgeschlossen. Kam der Prozession ein Gewässer in die Quere, erwarteten die Gläubigen, dass es sich dem Roten Meer gleich vor ihnen teilen würde. Heute mögen diese Vorstellungen belustigen und wie das Resultat einer fabelhaften Überhöhung, fast einer Mythisierung anmuten. Und doch sprachen jene kollektiven Phänomene, die wir heute ohne Zögern fanatisch nennen würden, zu den Menschen jener Zeit in einer symbolischen Sprache, die sie von Kindesbeinen an einstudiert hatten und die auf kultureller Ebene, auch über den religiösen Bereich hinaus, ihre wertvollste Stütze war. Während die Prozession zur Baustelle zog, identifizierten sich ihre Teilnehmer mit dem auserwählten Volk, das in das Gelobte Land zurückkehrt. Entsprechend war die Errichtung der Kirche aus Stein und Mörtel Symbol und Gedenken nicht nur für den Tempelbau in Jerusalem, sondern vor allem für die Errichtung des Himmelreichs auf Erden, wozu ein jeder seinen konkreten Beitrag leistete und mit Händen herbeitrug. In einer feudalen Welt waren das die aide, die der Christ dem Herrn für den Bau Seines Reiches darbot, und die corvée, die er Gott leistete. Im Evangelium hatte Jesus sich mit dem Tempel von Jerusalem und dem Eckstein verglichen: Der Christ, der seinen Stein zur Kathedrale brachte (obschon dieser Stein in Wirklichkeit oft im materiellen Gegenwert in Form eines monetären Almosens bestand), fühlte sich auf metaphysischer Ebene dazu aufgerufen, den mystischen Leib Christi zu erbauen, für den der Sakralbau symbolisch stand. Und da ein jeder verpflichtet war, seine Spende reinen Herzens zu geben, wuchs der Bau gestützt von den allerfrömmsten Absichten inmitten der Stadt empor. So konnte er als göttlicher Mittler in der Menschenstadt dienen und als sicheres Pfand für das baldige Kommen der Gottesstadt.


Kreuzfahrende Pilger mit Pilgerstab und -beutel vor den von Sarazenen bewachten Mauern Jerusalems, aus einem Manuskript des Roman de Godefroy de Bouillon, 14. Jh., Paris, Bibliothèque nationale de France.

Die große Geschichte der Kreuzzüge

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