Читать книгу Berlin: Kontrollverlust - Frank Martin Hein - Страница 10

Woche 1—1

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Bitte beschreiben Sie Ihr Sozialverhalten.

Ich bin nicht der soziale Typ. Ich fühle mich nicht wohl unter fremden Leuten. Ich weiß nicht wohin mit meinen Händen. Ich lächele ungern. Ich stehe ungern im Rampenlicht.‘ Dr. Michael Lommel, ein Berliner Motivationspsychologe, arbeitete sich durch einen interaktiven psychologischen Test. Als Kandidat. Er rechnete damit, sehr bald seinen Job zu verlieren. Er wusste nicht, was er anfangen sollte mit seinem Leben, ohne Job. Was tun?

Wie gehen Sie mit ,Small Talk‘ um? ,

Small Talk vermeide ich. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich sage oft Falsches, drücke mich falsch aus. Also halte ich den Mund und höre zu. Keine Ahnung, wie die Leute auf ihre Themen kommen. Warum sie überhaupt reden. Wann sie lächeln sollen? Wie sehr sie jemanden provozieren können? Oder nicht. Und was sie sonst noch tun sollen?‘

Sie stellen bitte keine Fragen. Wir fragen hier. Was treibt Sie beruflich an?

Gewohnheit. Der Wunsch nach Geld. Anerkennung. Aufstieg – wie alle.

Warum wollen Sie so sein wie alle?

Will ich ja nicht. Habe ich nicht gesagt. Ich bin anders, was Besonderes. Also, ich will für das geschätzt werden, was ich bin.

Warum denken Sie, sind Sie etwas Besonderes?

Hat meine Mutter ganz früher oft gesagt. Manche Leute halten mich für seltsam, andere ignorieren mich. Ich bin einfach kein Durchschnitt. Ich finde eine anständige Depression befriedigender als langweilige Normalität. Und außerdem: Anders hält man es auch nicht aus, ohne feste Anstellung, wenn man sich nicht für was Besonderes hält. Oder es halt einfach ist.

Warum machen Sie Ihren gegenwärtigen Job? ,

Ich hab nichts anderes, kann nichts anderes, will nichts anderes. Mich interessiert einfach, warum Menschen das tun, was sie tun.

Warum wollen Sie wissen, warum Menschen das tun, was sie tun?

Weil ich zu oft dazu gebracht wurde, Sachen zu machen, die ich nicht wollte. Von meinem Vater, meinen Lehrern, O. K.? Warum habe ich sie trotzdem gemacht? Das wollte ich wissen. Und wie andere mit so was umgehen.

Lommel war vom Programm genervt. Zu viele bohrende Fragen. Er schaute an die Decke und sah große, rechteckige, gelbe Deckenplatten aus Gips, Rigips oder so was. Ein Kabel von der langen Neonröhre in der Mitte baumelte herab. Rötliche Farbe. Warum? Was war passiert? Warum hing es gerade da? Warum wurde es nicht gebraucht? War sein Vorgänger schuld? Ein dunkler Fleck in der Ecke hinten links fiel auf. Wasser? Keine logische Verbindung. Der Rest der Decke war einfach nur langweilig. Und irre staubig. Lommel folgerte: ‚Wenn’s in dem Gebäude irgendeine anregende Stelle gibt, dann gewiss nicht hier.‘ Als Schüler hatte Lommel kleine Löcher mit einem Elektromotor in sein Englischbuch gefräst, das fand er meist befriedigender, als zu lernen. Hier hatte er leider keinen Elektromotor zur Hand, als Erwachsener. Er schaute umher, aus dem Fenster. Draußen gab es große, stille schwarze Bäume ohne Blätter. Feucht und glänzend. Ein verödeter, asphaltierter Weg führte zwischen ihnen hindurch, verband die S-Bahnstation mit der Uni. Zehn Minuten zu Fuß, gut frequentiert während des Semesters, vereinsamt jetzt. Berlins berühmte Humboldt-Universität – sie lag da wie tot. Er strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

Warum machen Sie das, was Sie jetzt gerade machen?

Gute Frage. Wenn ich das nur wüsste, dachte Lommel und überlegte wieder ausführlich. Er suchte nach einer positiveren, dynamischen Antwort. Er brauchte zu lange für das Programm.

Denken Sie nach. Konzentrieren Sie sich, Sie wollen vorankommen.

Lommel gehorchte und aktivierte mehr Gehirnzellen. Aber nun mischte sich ein Stimme tief in seinem Hinterkopf ein: ‚Weizenbaums Eliza, damals in den Sechzigern, hat genauso gefragt. Aber das Programm war viel freundlicher. Lommel, Mann, warum machst du nur diesen blöden Test?‘ Zwei Fragen auf einmal waren zu viel. Lommel schrieb einfach drauflos und beantwortete beide gleichzeitig. Ungefähr, zumindest.

,Also, ich denke viel nach. Ich suche nach einem Sinn, einem Zweck. Meistens weiß ich nicht, was ich – also ich und niemand sonst – wirklich will. Und warum ich’s dann tue. Ich glaube, es geht im Grunde darum herauszufinden, ob und warum ich das will, was ich tue, ja. Wenn ich das will, was ich tue. Und warum ich es dann tue, wenn ich es tue. Oder einfach, warum ich das mag, was ich tue, wenn dem so ist. Oder auch nicht. Genau. Ist doch klar.‘

Jetzt musste Lommel auf das Programm warten, ehe eine Antwort erschien. Aus irgendeinem Grund gab es offenbar Störungen im Ablauf. In der Zwischenzeit liefen drei Personen den Weg entlang und in das psychologische Institut. Warum? War Lommel nicht klar. Er sah zwei Studenten und eine Studentin. Alle waren sie recht langsam, vielleicht depressiv? Kandidaten für einen Test? Schließlich erschien die nächste Zeile auf seinem Bildschirm. Es ist nicht klar.

Bitte erklären Sie sich.

‚Das dachte ich mir‘, redete Lommel halblaut mit sich selbst. ,So ein blöder Programmierer. Dich kann ich immer noch austricksen!‘ ,Ich mache, was ich mache, weil ich ein High-Achievement-Persönlichkeitsprofil habe und extrem entschlussfreudig veranlagt bin.‘ Lommel strahlte, als er diese Lüge eintippte. Voller Begeisterung fuhr er fort: ,Ich folge einer Reihe klar strukturiert geplanter Schritte. Ich konzentriere mich auf Aufgaben und erledige sie. Allesamt und fehlerfrei. Beispiel: mein Weg über Grundschule, Gymnasium, Uni-Diplom, PhD, Anstellung. Ich setze mir anspruchsvolle Ziele und erreiche sie.‘ Tatsache war: Seit er das erste Mal einen Uni-Job ergattert hatte, fehlte ihm jede Idee, wie es weitergehen könnte. Außer natürlich, er würde einen vollen Posten als Professor bekommen. ,Und wenn ich das schaffe, fehlt mir wieder die Fantasie. Ich habe einfach keine wirklichen Ziele‘, dachte er. ,Ich warte darauf, dass etwas mit mir passiert. Ab und an habe ich eine Inspiration. Die vergeht auch wieder. In der Zwischenzeit erledige ich meine Pflichten. Ich tue, was mein Körper von mir verlangt. Damit bin ich ungefähr genauso weit wie Freud vor hundert Jahren.‘ Er schrieb: ,Mein Leben ist ein Experiment mit schlechtem Start und offenem Ende.‘

Was wollen Sie damit machen?

,Ich dachte, Sie sagen mir das. Ich suche eine Stimme, die mir sagt, was ich tun soll. Die gab es früher immer. Sagen Sie mir was. Irgendwas, das ich mag. Irgendwas Sinnvolles. Na los!‘ Stopp.

Bitte mit der Ruhe. Erklären Sie sich, bitte.

,Ich bin professioneller Psychologe. Ich habe einen Zeitvertrag als Assistenzprofessor. Der Vertrag läuft diesen Sommer aus. Alle klar? Meine Karriere hängt, hat eigentlich noch gar nicht richtig angefangen. O. K., mit dem ganzen Standardkram hatte ich keine Probleme. Aber jetzt brauche ich eine neue Idee, etwas Einmaliges. Das wäre wichtiger als ein neues Büro oder eine Freundin. Ich brauche vor allem eine neue Idee! Sonst werde ich auf der Straße …‘ Lommel schrieb so schnell vor sich hin, dass er, ohne es zu merken, die vorgesehene Zahl an Zeilen überschritt. Er schrieb über seine fehlende Motivation aufzustehen und sein Zeug zu machen, und über das Fehlen eines coolen, neuen Experiments. Ein Experiment, das ihm seinen Job erhalten oder ihm sogar einen besseren bescheren würde. Dieser Wunsch aber kam kaum über das abgegriffene, schmutzige Dell-Keyboard hinaus, auf das Lommel eingehämmert hatte. Jedenfalls kam er nie im Programm an, denn es erschien eine neue Frage.

Spielen Sie Online-Spiele? Auf welchem Niveau?

,Keine Online-Spiele. Beendet, seit ich meinen Avatar zum Zahnarzt geschickt habe …‘ Natürlich wusste Lommel, dass in Jobinterviews nach seinem Rang in diesem oder jenem Spiel gefragt werden könnte. Als Beleg für seine Führungsstärke und so weiter. Er machte trotzdem nirgends mit – verlorene Zeit. Vielleicht war das ein Fehler. Während er nun darüber nachdachte, produzierte das Programm schon die nächste Frage.

Welche Gefühle verbinden Sie mit einem Zahnarztbesuch? Bitte wählen Sie: Angst, Vergnügen, Auslieferung, andere.

Lommel zögerte nur kurz und klickte auf ,andere‘.

Bitte beschreiben Sie, was ,andere‘ für Sie heißt.

„O. K.“ Lommel sprach vor sich hin. „Mal sehen, was passiert, wenn ich ehrlich bin.“ Er tippte: ,Sexuelle Anziehung.‘ ‚Wahr ist, ich habe meinen Zahnarzt vor allem wegen seiner Assistentin ausgesucht. Genau genommen, ich bin einer Empfehlung gefolgt. Wo sonst kann man Frauen derartig ungestraft ins Gesicht starren? Es ist doch nur normal – wenn man den Kopf nicht wegdreht, muss man es ja tun! Und man kann ihn nicht wegdrehen! Die Frauen selber also müssen es wollen. Sie sind einfach zu eitel für jeden anderen Job. Sie wollen es.‘ Er lächelte in sich hinein.

Was meinen Sie mit ,Sexueller Anziehung‘?

Na ja, Lommel hatte eine bestimmte Sprechstundenhilfe im Auge (während sie sicher nur an seinen Mund dachte und wie sie seine bezaubernd belegten Zähne reinigen würde). Er schuckelte unruhig auf seinem Bürostuhl mit dem graublauen, abgenutzten Bezug umher. Einerseits musste er sie wohl bald mal wieder besuchen. Andererseits war ihm sein eigenes Geständnis etwas peinlich. Trotzdem folgte er artig und schrieb noch einmal die Wahrheit: ,Wenn ich – wenn ich das Aussehen einer Frau mag, dann starre ich sie an. Sprachlos.‘ ‚Und wenn jemand Mist erzählt‘, fügte er in Gedanken dazu, ‚dann ziehe ich meine Augenbrauen hoch.‘ Tatsache war, sie bewegten sich so oft in unterschiedliche Richtungen, dass die Studenten darüber redeten. Er galt als streng, O. K. War O. K. Wenigstens streng.

Trotz seiner einunddreißig Jahre suchte er noch nach Fixpunkten, einer Formel für sein Leben, aber hatte bisher keine gefunden. Nichts war verlässlich. Wenn überhaupt, dann, dass man der Realität nicht mit Gefühlen Herr wird, sondern nur mit Argumenten. Das stimmt doch. Sein Büro an der Humboldt-Universität war klein. Er hatte nur wenige Kurse abzuhalten. Akademisch war auch nicht viel los, da er kaum mehr publizierte. Es gab keine Theorie von ihm, keine Affären mit Studentinnen. Er fand sich selbst farblos, ja blass. Ohne ein originelles, neues Forschungsprojekt würde er kaum an Profil gewinnen und wieder an einer Uni angestellt. Daher die Frage nach seiner Bestimmung. Sie stellte sich drängender denn je. Er träumte vor sich hin, dachte an seine Zukunft, die Zahnarzthelferin und die Dinge, die eigentlich jetzt sofort zu erledigen wären (einen Termin dort machen, ja), als sich leise die Tür öffnete und eine junge Frau das Zimmer betrat. Ohne dass er es merkte, kam sie an seinen Schreibtisch, gerade als der Computer ,Ping‘ machte und ihm eine neue Frage präsentierte.

Warum starren Sie Frauen an?

„Warum starrst du mich so an, Michael?“ Petra Pachlower, seine Assistentin, war ebenso verwirrt von seiner Überraschung wie er von ihrem Erscheinen. „Guten Morgen, Petra. Gott, ich war so bei der Arbeit, dass ich dich gar nicht gehört habe.“ Sie lächelte. Strahlend. „Morgen, Doc. Was machst du denn gerade – kann ich mal gucken?“


Berlin: Kontrollverlust

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