Читать книгу Berlin: Kontrollverlust - Frank Martin Hein - Страница 21
Woche 2—2
ОглавлениеBatch ignorierte die Beschreibung der Arbeiten Milgrams komplett, blieb einfach sitzen und schaute in die Luft. Ein gutes Zeichen, dachte Lommel, sagte aber nichts. Falls Batch das Projekt abgelehnt hätte, wäre der Stuhl bereits leer. Mit normalen Maßstäben war Batch sowieso nicht zu messen. Für die meisten im Institut war Batch bestenfalls ein Rätsel, wenn nicht ein Geist, viel beschworen und nie gesehen. Niemand kannte Batchs Alter. Niemand war hier im Gebäude angestellt, der noch vor Batch gekommen wäre. Batch war schon immer da. Batch passte in keine Konventionen, was Bekleidung betraf (wenn Batch gesehen wurde, dann meistens in einem unauffälligen, alten grauen Mao-Anzug), was den Haarschnitt anbelangte (auf der einen Seite kurz, zwischen grau und rot changierend), bei der Hygiene (fragwürdig nach einigen Berichten, aber einwandfrei zurzeit), bei den Antwortzeiten (oft quälend lang), dem Sozialverhalten (keines beobachtet), dem Spezialgebiet (keines bekannt), den akademischen Pflichten (keine dokumentiert), dem Wissen (Gerüchten zufolge praktisch grenzenlos), bei den Gewohnheiten und Stundenplänen (sie blieben nebulös – Batch war da, oder eben nicht). Schließlich aber, und das war besonders irritierend, kannte niemand Batchs Geschlecht. Kurz: Batch hatte den Status eines Faktotums ohne jede erkennbar Funktion. Was diese einmal gewesen sein könnte, darüber gingen die Meinungen auseinander: Einige hielten diese magere, bizarre Person für ein kommunistisches Überbleibsel, einen Abkömmling Honeckers vielleicht. Andere vermuteten einen ehemaligen Ingenieur vom Hausdienst, mehr ignoriert als toleriert. Und einige glaubten, Batch wäre bei einem Experiment übrig geblieben, das vor Jahrzehnten begonnen wurde, aber nie offiziell beendet. Legenden gab es viele, aber noch nie eine Besprechung, zu der Batch kam und blieb. Lommel schloss das Fenster und begann Phase zwei seiner Sitzung.
„Also. Bevor es weiter geht: Vergesst bitte nicht, dass wir Vertraulichkeit vereinbart haben. Wir haben dazu das Standard-Formular der Uni auf jedem Platz verteilt. Dürfte ich euch bitten, jetzt den Raum zu verlassen, wenn ihr nicht bereit seid, es zu unterschreiben?“ Lommel machte eine Pause. Peter und Petra unterschrieben sofort und ohne nachzudenken. Luc schüttelte nur kurz den Kopf, überflog den Text und unterschrieb auch. Petra sammelte die Zettel ein, aber vermied jeden Blick auf Batch. Es war ihre erste Begegnung.
„Ich danke euch. Ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber das ist auch unser Plan. Und weil das so ist, dachte ich mir, wir sammeln erst mal eure Fragen hier auf dem Flipchart.“
Peter schoss als Erster los: „Was nehmen wir als elektrischen Stuhl?“ „Müssen wir die Teilnehmer zu ethischem Benehmen verpflichten?“, fragte Petra. „Cyber-Existentialismus. Sartre reloaded. In Frankreich längst durch“, bemerkte Luc. „Ist das eigentlich rechtens, also ich meine, legal?“, fragte Peter. „Mich erinnert das an den Minority Report“, sagte Luc. Lommel kam kaum mit dem Notieren nach. „Was ist das?“, fragte Petra und verschaffte ihm so etwas Zeit. „Ein Spielfilm von Spielberg mit Tom Cruise. Basiert auf einer Story von Philip K. Dick von 1956. Determinismus und persönliche Verantwortung sind zentrale Konzepte. Ach ja, übrigens: Die Idee verweist auch auf Elemente des Zimbardo-Experiments“, erklärte Luc. „Klar, sein Aufsatz von 1971 zu den Versuchen ist schon im Ordner, Luc, keine Sorge. Aber wir sollten auch an die praktischen Aspekte denken. Wir brauchen Kandidaten, Schauspieler, Räume. Und eine Arbeitsteilung.“ Petra schaute sich im Raum um. „Also, wenn du den Versuchsaufbau meinst, dann stimme ich dir zu“, sagte Peter.
Dann fing Batch zum ersten Mal an zu sprechen. Die Stimme klang etwas gequält, so wie nie benutzt: „Guter Punkt, junger Mann. Aber jetzt zu dir, Lommel. Du hast dir doch sicher schon überlegt, wie das Projekt laufen soll, oder? Sonst hättest du uns nicht gerufen. Wie also? Was hast du vor? Willst du nur die Milgram-Simulation von Mel Slater an dem Virtual Reality Centre der Barcelona Universitat Politècnica de Catalunya und dem Department of Computer Science des University College London von 2006 kopieren? Dann muss niemand hier diesen Vertraulichkeitszettel ausfüllen …“
Noch bevor Lommel überhaupt antworten konnte, meldete sich Luc. Es war unerträglich für ihn, dass dieses undefinierbare Etwas hier schneller zur Sache kam als er selbst. Mit Schärfe im Ton und der strengen methodischen Schulung seines Heimatlandes fragte er: „Alle guten Experimente beziehen sich auf eine Theorie, eine Hypothese, die man überprüfen will. Wieso meinst ausgerechnet du, Michael, du kämst ohne aus? Hast du denn gar keine?“
„O. K., Batch, natürlich geht es mir um was Neues. Also, ich kann das vielleicht so erklären“, sagte Lommel: „Milgram wollte ja zeigen, dass die Amerikaner weniger gehorsam sind als die Nazis in Deutschland. Wie ihr wisst, ist das misslungen. Und genauso erging es seinen Kollegen in diversen Ländern, die seinen Versuch wiederholt haben. Drei Dinge sind heutzutage anders: Erstens, wir leben mit dem mobilen Internet. Zweitens, die Neurobiologen wissen erheblich mehr als zu Milgrams Zeiten. Und drittens sind sich die Menschen in den westlichen Kulturen viel unsicherer darüber, was sie wollen, als vor fünfzig Jahren. Die Nachkriegsagenda – der Kampf gegen Hunger, Armut, Unrecht – abgearbeitet. Das Bedürfnis nach Ethik, Moral, Teilhabe – eingelöst. Dann der kalte Krieg, der Kampf gegen den Kommunismus. In den Sechzigern ging es gegen die Autoritäten, den Terror in Vietnam. Zusammen die ideale Basis für Milgrams Konzepte. Später kam das Internet. Ende der Neunziger haben die Menschen angefangen, damit etwas Neues auszuprobieren: ,Social Media‘. Seitdem stellen Online-Communities und Blogger die Macht infrage, die Informations-Asymmetrien. In einigen Ländern sehen wir das ja bis heute. Teilweise auch schon wieder das Gegenteil, durch neue Autoritäten, neue Kontrolle.
Eine technische Entwicklung nach der anderen hat uns neue Freiheiten beschert: die Befreiung von physikalischen, sozialen, ökonomischen und intellektuellen Einschränkungen. Einmal und für alle Zeit! Zumindest haben wir das gedacht, wenigstens eine Zeit lang. Dann kam die ‚Blase‘, und viele Träume stürzten ein. Erst die ökonomische und dann die soziale Sicherheit waren wieder dahin. Innerhalb einer Generation entgleiste die Planungssicherheit. Und jetzt? Kriege lassen sich nicht mehr gewinnen, sind unberechenbarer denn je. Für jeden getöteten Araber, Terrorist oder nicht, wechseln drei die Seite.“
Lommel kam immer weiter in Fahrt. „Oder die Umwelt. Der globale Umweltschutz macht einen Schritt vorwärts und zwei zurück. Das Private: Scheidungen werden häufiger, der Einfluss der Kirche sinkt. Und so weiter. Im Prinzip ist es trivial: Die Leute haben mehr Auswahl denn je, aber immer weniger ist sicher. Den Menschen fehlt Orientierung. Es gibt kein eigenständiges, allseits akzeptiertes Rollenmodell mehr und keinen allgemein akzeptierten Führer. Um es auf den Punkt zu bringen: Viele Leute haben sich verloren. Aber, aber: Mit den neuen sozialen und den traditionellen Medien zusammen können Menschen sich mit immer mehr anderen Menschen verbinden und diesen folgen. Menschen, die wirklich faszinierende Sachen machen. Faszinierendere als das, was man selbst macht. Sie können Menschen folgen, die mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als sie selbst. Menschen, die besser aussehen und mehr Geld verdienen als sie selbst. Ach ja, dann gibt es noch eine Unzahl von kleinen Vorbildern, die ich Microleader nenne. Jeder von uns kann jemanden im Netz finden, der seine – meine – Sache besser macht. Egal, um was es geht. Es ist wie die Geschichte von Hase und Igel: Egal, was ich mache, jemand anderes war schon da. Ein Klick im Netz – und du weißt, wer dich in deiner Ambition schlägt. Wer origineller ist, mehr Regeln verletzt. Wer schlauer ist, mutiger oder noch öffentlicher agiert. Schlicht: Wer deine Sache besser macht als du. Diese kombinierte Medienkraft schafft einen Celebrity-Benchmark für unser tägliches Leben. Einen Maßstab, den kaum jemand übertreffen kann. Und natürlich wird das alles beinahe live übertragen, von Twitter und Facebook und YouTube wird es zur nie endenden Show. Und die Leute schauen zu, folgen. Täglich. Zu Tausenden. Die neuen Gurus sind im Netz. Sie werden gesehen, verlinkt, geforwarded und wieder verlinkt. Es ist eine Massenbewegung, vielleicht eine Hysterie. Wenn ich ehrlich sein soll: Ich empfinde es als Massenflucht, sogar als populären Massenmasochismus. Wie lange halten Menschen das aus – sich immer kleiner und armseliger zu fühlen als ihr Maßstab im Netz?“
Lommel pausierte nur kurz und legte dann noch einmal zu, um seinen Vortrag zu Ende zu bringen, bevor die Aufmerksamkeit im Raum nachließ: „Zwei Fragen folgen: Erstens, was machen Menschen, wenn es noch weniger Begrenzungen gibt? Weder physische, noch geografische oder moralische, ja, wenn sogar die rechtliche Haftung für Handlungen nicht mehr existiert? Was machen die Menschen, wenn sie eine andere Person wie – wie … ihren Avatar mit der Maus durch die Gegend schubsen können – das aber in echt? Und zweitens, wie freiwillig ordnen die Menschen ihren freien Willen einer anderen Person unter – wenn es eigentlich keinen großen Unterschied mehr macht, was du selbst willst? Weil ja – ohne echte Grenzen – sowieso alles möglich ist, und austauschbar?“
An diesem Punkt kam Peter auf die Frage der Hypothese zurück: „O. K., gute Analyse, Michael. Aber was willst du denn nun eigentlich beweisen?“
Michael richtete sich auf, als ob die anderen nicht sowieso an seinen Lippen hingen. „Also, ich glaube, erstens, dass den meisten Menschen klar ist, dass sie es eh nicht schaffen, bei dem, was ich Celebrity-Benchmark genannt habe, zu bestehen. Sie vergleichen ihr Leben mit dem von anderen, arbeiten hart an ihren Zielen, schaffen es aber nicht, irgendwie besser oder was Besonderes zu werden. Daher fühlen sie sich schlecht und geben auf. Deswegen, zweitens, sind die Menschen jetzt wieder offener dafür, gesagt zu bekommen, was sie tun sollen. Sie glauben daran, dass ihr Leben durch Dritte aufregender, bedeutsamer wird, als sie es selbst hinbekämen. Die anderen bringen sie dazu, Sachen zu machen, die sie sich selbst nie trauen würden. Das ist ihre Hoffnung. Aber, drittens, es wird nichts Besonderes passieren. Die meisten Menschen werden nicht über die Stränge schlagen, wenn sie anderen ihren Willen aufzwängen dürfen. Sie werden nichts wirklich Übles verlangen, auch wenn sie Druck ausüben können. Anders ausgedrückt: Ich bin überzeugt, dass ihre Lebenspläne und Optionen mehr durch ihre inhärenten Limits als durch externe Faktoren und Regeln begrenzt werden.“
„Das ist aber eine sehr pessimistische Sichtweise“, brach es aus Petra heraus. „Wir können alles erreichen, wenn wir nur wollen.“ Sie war überzeugt, sie könne alles erreichen. „Also meiner Meinung nach wird diese Idee, egal, wie sie denn nun letztendlich realisiert wird – was ja nun doch noch ziemlich unklar ist, wenigstens mir –, schnell kommerzialisiert werden. Und in der populären Kultur aufgehen. Im Mainstream sozusagen“, kommentierte Luc.
„Na ja, Petra, da bin ich dann aber nicht so sicher“, erwiderte Lommel. „Unser ,freier Wille‘ gibt uns doch eh nur eine eingeschränkte Auswahl. Klar, wir glauben, dass das Gras bei Nachbars grüner ist und dass die Kirschen süßer schmecken. Aber wer macht sich denn schon die Mühe, dafür über den Zaun zu klettern? Viele Leute bringen nicht mal die Energie auf, sich nach dem zu bücken, was quasi vor ihren Füßen liegt. Im Grunde genommen verteidigen die meisten ihr limitiertes Repertoire an Ideen – und ignorieren damit ihre tatsächlichen Möglichkeiten – selbst wenn Alternativen ohne große Mühen zu erreichen wären!“
„Bis auf solche, die es darauf anlegen, ihren Kurs zu ändern“, fügte Batch an.
„Genau, die ausgenommen. Wandel wird von vielen erträumt, aber von noch mehr Menschen gefürchtet, oder gar als real erreichbar betrachtet. Ein kleines bisschen freien Willen aufzugeben, nur zeitweise, wohlverstanden, kann das Tor zu Nachbars Garten öffnen. Und dafür wird nicht einmal eigene Energie fällig! Das ist doch eine tolle Perspektive! Alles kann dem passieren, der nur die Kontrolle über sich selbst eine Weile abgibt“, sagte Lommel und fuhr gleich fort: „Also noch mal, zwei Sachen werden in unserem Experiment passieren: Erstens, die Muster, die der Person entsprechen, die bei Milgram der ,Lehrer‘ war, werden sich insgesamt nicht wesentlich von ihrem üblichen Verhalten unterscheiden. Dass hier brave Bürger Revolutionen anzetteln, glaube ich halt nicht. Zweitens, und das ist vielleicht mutiger als Annahme, meine ich, dass die Menschen darauf scharf sind, von anderen geführt zu werden – also die Rolle des Schülers oder ‚Agens‘ einzunehmen. Liegt nicht auch ein Reiz darin, zugegebener Weise ein bizarrer, den eigenen Willen aufzugeben? Und ach ja, ehe ich es vergesse: Wir werden, anders als Milgram, natürlich keine Schauspieler für die Rolle der Schüler einsetzen.“
„Doc, das ist jetzt aber wirklich sehr pessimistisch“, beklagte sich Petra noch mal. Lommels Ansichten verletzten ihr idealistisches Menschenbild nicht nur. Sie stellten es komplett infrage. Sie respektierte Lommel viel zu sehr, um das einfach ignorieren zu können.
„Das werden wir schon sehen, Petra“, antwortete der leichthin. „Freiheit ist relativ. Manchen ist sie eine Last. Manchmal ist sie uns eine Last. Und für uns – als Wissenschaftler – kann es sehr aufschlussreich sein zu sehen, bei was – und bei welcher elektrischen Spannung – die Menschen nicht mehr mitmachen und sich verweigern.“
„O. K. Langsam würde ich doch gerne mal hören, wie du dieses Projekt konkret organisieren willst. Bis jetzt haben wir nur viele philosophische Blasen aufsteigen sehen“, meckerte Luc. „Na ja, bis auf den Punkt, dass es bei uns echt elektrische Schocks geben soll“, sagte Peter. „Wenn die andere Person ihn erteilt“, dachte Batch gut vernehmlich voraus. Und damit war Luc schon wieder bei seinem Thema – eben wie das alles funktionieren sollte: „Peter, wir haben keine Details wie diese elektrischen Schläge bisher besprochen. Rien! Wir haben nichts über den Versuchsaufbau gesagt. Keine Begriffe definiert, keine Spannungen, nichts über die Steuerung der Kandidaten, Datenaufzeichnung, noch nicht einmal, welche Parameter wir überhaupt aufzeichnen oder fixieren wollen. Et en plus …“
Luc war erregt. Lommel ignorierte den negativen Unterton. Er freute sich über die lebhafte Diskussion, blätterte zu einer freien Seite des Flipcharts und schrieb in großen Blockbuchstaben: SETUP.
„Luc, du hast völlig Recht. Lass uns das doch jetzt schrittweise versuchen. Ich mache mal den Anfang. Also zum Beispiel brauchen wir eine Konsole für die Rolle, die Milgrams Lehrer entspricht“, sagte Lommel und schrieb den Begriff gleich auf. „Die Konsole wird aber nur eine Internet-Anwendung“, warf Peter ein, „zumindest an ihrem Front-End, wenn ich dich richtig verstehe.“ „Das stimmt. Zweitens also brauchen wir eine Internet-Anwendung.“ „Und dabei sollten die Aufzeichnung und die Statistikprogramme gleich integriert werden, sodass wir die Daten als einen Satz zusammen in unsere SPSS weiterleiten können.“ Wie nicht anders zu erwarten, kam dieser Hinweis von Luc. Lommel vermerkte die Punkte unter drei und vier. „Einen Plan, also einen Terminplan, wer wann was macht und so …“, merkte Petra an. „Und dann sollten wir die Studenten randomisiert in Versuchspaarungen kombinieren …“ „Sehr gut, Petra, das ist Punkt fünf. Um jetzt auch mal über die Empfängerseite zu sprechen: Wenn also die Kommandos – ich nenne sie lieber Direktiven – von den ‚Lehrern‘ erteilt und via Internet verteilt werden, dann brauchen wir auch passende Empfänger, Punkt sechs. Nur so kommen sie ja bei den ‚Schülern‘ an. Und das ist nicht ganz trivial“, vermerkte Lommel.
Batch war anderer Ansicht: „Lommel, so schwer ist es nun auch nicht. Schlag mal eine neue Seite auf. Hier sind die Kriterien, auf die es ankommt: Erstens können wir natürlich keinen elektrischen Stuhl gebrauchen, damit läuft niemand herum. Das Ding muss leicht sein, tragbar und nicht auffallen. Ultimativ sollte es einfach aussehen wie ein Smartphone, oder? Zweitens, anders als bei Milgram, können wir natürlich keine Kupferkabel mit dem Teil verbinden. Wir brauchen die totale Mobilität – wenigstens in einem gewissen Umkreis. Ja, und drittens brauchen wir natürlich eine Zwei-Wege-Übertragung. Direktiven hin, Signale zum ‚Lehrer‘ zurück, Feedback, was passiert, eben.“
„Ganz genau, Batch“, gab Lommel zu. „Ich stelle mir unsere Kandidaten – also diejenigen, die bisher ,Schüler‘ genannt wurden, und die ich eigentlich gerne ‚Dirigierte‘ nennen würde – wirklich frei im Raum beweglich vor. Keine Wände, kein Augenkontakt notwendig. Nichts.“ „Gut, viertens: Die Geräte für die Dirigierten brauchen eine Kamera und ein Mikro. Dann müssen sie in der Lage sein, fünftens, einen Live-Stream an Daten zu liefern. Sechstens: Die Dirigierten brauchen einen Kopfhörer, damit sie die ,Lehrer‘, oder wie auch immer die heißen sollen, hören können. Siebtens, schließlich, wenn wir uns wirklich an Milgram orientieren wollen, dann müssen wir ja auch elektrische Schläge austeilen können“, erklärte Batch.
Petra war baff. Wer auch immer diese Person war, sie war schnell im Denken. Und gründlich. ‚Et voilà‘, dachte Lommel für sich fast das Gleiche. ‚Eine super Idee, Batch dazu zu holen.‘ Er hatte alle Punkte ordentlich vermerkt und blätterte zurück zur SETUP-Seite. „Perfekt, Batch. Genau so was hatte ich im Kopf. O. K. – was noch?“, fragte Lommel laut.
Luc war etwas ins Hintertreffen geraten. Er wollte rasch aufholen. Wenn er schon keine konstruktive Idee hatte, konnte er wenigstens alles infrage stellen. Er musste nur ein paar fundamentale, daher also nicht diskutable Punkte zur Diskussion stellen. „Oh, là, là! Wir brauchen vor allem eine theoretische Basis, Leute! Gute wissenschaftlich Arbeit erfordert a) Prüfbarkeit, b) Ergebnisfähigkeit, c) Einfachheit und d) sollte sie umfassend sein. Bis jetzt haben wir nur von eine neue Spielzeug geträumt. Also Michael, wofür soll das alles, soll deine Spielzeug also gut sein?“
Batch reagierte sauer, blies vernehmlich in die Luft und sagte überdeutlich: „Langsam, Mr. De Blanc. Sie haben Recht, aber das ist doch trivial. Wie haben doch gerade erst angefangen. Wenn Sie mit uns mitmachen wollen, verhalten Sie sich auch so, O. K.?!“ Die andern zuckten zusammen. Niemand hatte sich bisher getraut, so mit Luc zu sprechen. Aber es funktionierte. Zur Überraschung von Peter und Petra protestierte Luc nicht, sondern senkte nur den Blick und knetete seine Hände. Lag das nur an der Autorität von Batch? Peter kam dem Franko-Kanadier zu Hilfe. Offenbar hatten sich beide angefreundet. Lommel schrieb währenddessen seelenruhig ,Theorien testen‘.
Peter erklärte lehrbuchmäßig: „Also, da gibt es diverse Motivationstheorien, auf die wir uns beziehen könnten. Sogar gleich doppelt: einmal bezüglich der Frage, was Leute sich sagen lassen, und dann bezüglich ihrer Vorstellungen, was sie anderen reindrücken – eh, wie sie dirigieren – können. Ich melde mich freiwillig dafür, das aufzuzeichnen. Für das Flipchart, Michael: Verhaltenskategorien und ,Testtemplates‘, O. K.?“ Peter war richtig begeistert. „Wir könnten auch noch das EEG des ,Lehrers‘ aufzeichnen. Oder nennen wir die Person eher ,Direktor‘, weil sie Direktiven gibt?“ Lommel notierte ,Verhaltenskategorien‘ und ‚Testtemplates‘ auf der Tafel. Luc ergänzte leise und unaufdringlich ,Terminologie‘, ohne aufzusehen. Petra sah ihn mitleidig an. Offenbar hatte Batch ihn wirklich getroffen. „Wittgenstein“, erklärte Peter selbstbewusst. „Gehirnchemie, freier Wille“, ergänzte Luc schon etwas munterer. „Determinismus“, sagte Batch. Lommel vermerkte ‚EEG/Brainscan‘, ,Neurophysiologie‘ und ‚Determinismus‘ auf dem Flipchart. Die Chemie des Teams war ihm im Moment wichtiger als die der Versuche.
Es wurde Zeit, die Gruppe zu einem gemeinsamen Entschluss zu bringen. Er schaute demonstrativ auf seine Uhr und erklärte: „Es wird Zeit zum Mittagessen. Aber bevor wir hier abbrechen, würde ich gerne über unsere nächsten Schritte reden, O. K.? Also, beim Design des Praktikums sind wir nicht weit gekommen. Was unsere eigenen Arbeiten betrifft, sind wir ganz gut in Form – vor allem bezüglich der technischen Aspekte. Was die philosophischen und theoretischen Grundlagen betrifft, da bin ich eigentlich ganz der Meinung von Luc – daran haben wir nur gekratzt. Das muss und wird weitergehen, während wir uns mit den – hmm – banaleren Fragen beschäftigen.
Bleiben zwei offen: Seid ihr insgesamt mit der Idee, d’accord? Und wenn ja, wie teilen wir die Arbeit auf? Dazu würde ich euch gerne einzeln anhören. Peter, fängst du an?“
„Klare Sache, Michael, ich bin dabei. Ich finde deine Idee Spitze! Wenn niemand was dagegen hat, kümmere ich mich um die Literatur und das Testdesign. Ach ja, ich mache ja sowieso den ganzen PC-Kram hier, also kann ich mich auch um die Hardware kümmern.“
Petra war die Nächste: „Logisch, Doc. Ich werde als erstes die Unterlagen für die Studenten vorbereiten, die Gruppen aufteilen, ihre Berichte koordinieren und mich dann um die ganze Bürokratie mit der Uni kümmern – das wird wohl das Schwerste!“
„Tut mir leid, dass ich so nachgehakt habe, Michael“, erklärte Luc. „War nicht negativ gemeint! Oui, ich glaube, dass das eine gut Projekt werden könnte, echt, sogar für meine PhD! Voilà. Na ja. Programmieren kann ja hier sonst niemand wie ich, also kümmere ich mich um das User-Interface und die nötige Statistik. Zur Theorie hätte ich auch noch was zu sagen.“ Lommel strahlte.
Die Spannung stieg, während Batch einen Füller aus dem Anzug kramte und auf das Vertraulichkeitsdokument kritzelte. Dann kam die Antwort, auf die Lommel gehofft hatte: „Kollegen, ich mache gerne mit. Das ist wohl das interessanteste Projekt im ganzen Gebäude. Gerade für die Geräte der ,Schüler‘ – eeh, Dirigierten – habe ich eine gute Lösung: Russische Walkie-Talkies, die wir für unsere Zwecke leicht umbauen können. Ach ja, Luc, von Statistik verstehe ich auch ein bisschen. ,Stochastische Resonanz‘ scheint mir das richtige Konzept.“ „Danke, Batch“, sagte Lommel und meinte es auch so. „Ich glaube – ich glaube, es ist super, dass Sie, emm, du mitmachst. Und es wird noch jemand mitmachen, der leider heute nicht hier sein konnte. Er wird Batch und Luc mit den Programmen helfen. Und dann kann er wahrscheinlich auch einiges zum Umbau dieser Walkie-Talkies beitragen.“ „Wer?“, platzte es aus Petra heraus. „Rob?“ Lommel lächelte. „Rob, in der Tat. Ein englischer Programmierer. Erstaunlicherweise hat die Uni das Geld bewilligt. Wir sehen uns gleich beim Essen!“ Lommel wandte sich leise an Batch:
„Danke, Batch. Haben Sie irgendwelche Bedenken?“ „Noch nicht, Michael“, sagte Batch und verschwand in den Flur.