Читать книгу Berlin: Kontrollverlust - Frank Martin Hein - Страница 15

Woche 1—3

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„Dritter Stock, Doc“, klang Petras fröhliche Stimme verzerrt durch die alte Sprechanlage. Lommels Neugier stieg mit jedem Schritt auf der alten Holztreppe. Jedes Stockwerk zeigte seine eigene kleine Welt aus Gerüchen, Sportschuhen oder Kinderspielzeug, Kisten, alten Blumentöpfen und Fußabtretern jeder Form und Gestaltung. Keine zwei Türen hatten die gleiche Farbe oder den gleichen Renovierungszustand. Schließlich stand Lommel vor einer halb offenen Tür. Sein Herz schlug nicht nur wegen der Treppe.

Petra war in der Küche und kochte Spaghettisoße in einem alten Aluminiumtopf auf dem Gasherd. In der Mitte der Küche stand ein kleiner runder Tisch, an der Wand ein Ikea-Regal. Ein Salat tropfte in einem Sieb. Nur der Mann fehlte, von dem Petra vor zwei Stunden gesprochen hatte. Lommel schaute sich um und traf unversehens ihre Augen. „Rob hat gerade angerufen. Er hat wieder mal länger gebraucht als geplant. Das geht ihm immer so beim Programmieren. Wir werden deswegen nicht warten. Also mach’s dir bequem, Michael. Und hey, hallo, super, dass du kommen konntest!“ Lommel war noch nicht weiter als bis zum Rahmen der Küchentür gekommen. Er machte einen schüchternen Schritt in die Küche und winkte mit der Flasche Côtes du Rhone. „Hallo Petra“, sagte er mit einem undeutlichen Lächeln und wischte sich die Strähne aus der Stirn. „Vielen Dank für die Einladung! Ich hab was zu Trinken mitgebracht …“ „Super, danke! Die Garderobe ist rechts draußen im Flur. Wenn du dir die Hände waschen willst, unser Badezimmer ist gleich dahinter. Und dann könntest du mir vielleicht helfen, den Tisch zu decken?!“ Lommel stellte die Flasche auf den Tisch und nickte. Dabei sah er sich weiter um. Alles sah aus wie bei jeder anderen Studenten-WG. Keine Anzeichen einer Familiengründung. An der Wand neben dem Fenster hingen die üblichen Kunstdrucke, an der gegenüber zwei Poster von Riesenmonstern. Dem Efeu auf dem Fensterbrett fehlte Wasser, der Kaktus daneben war eingestaubt. In einem dritten Topf war frisches Basilikum mit Farbe und Duft wie im Frühling. Er drehte sich um und ging in den schmalen Korridor. Sah alles eher zufällig aus, als sorgfältig arrangiert. Die Schuhe im Regal aus weißem Pressspan, Stiefel und Sandalen wild durcheinander. Genauso die Mäntel: Schichten auf zwei Haken übereinander, offenbar ohne Ordnung: männlich, weiblich, Wolle, Plastik, Baumwolle, grau, schwarz und rot. Er hing seinen Wintermantel darüber und ging zurück in die Küche. Die Erkundung des Badezimmers hatte Zeit.

„Kochst du oft?“, fragte er. „Nö. Ab und zu. Rob kocht auch, aber nur wenn er Lust darauf hat. Und dann besser als ich. Ich hab’s meistens eilig beim Einkaufen und will die Sachen vor allem schnell erledigen. Da ist er anders. Ach ja – die Teller sind dahinten auf dem zweiten Brett von oben. Genau, die Gläser sind da, nimm bitte die von rechts.“ Um dahin zu kommen, musste Lommel sich zwischen dem Tisch und Petras Rücken durchquetschen. Das politisch völlig korrekt zu erledigen war praktisch unmöglich. Er kam ihr näher denn je. Ihre Haare dufteten und kitzelten ihn fast in der Nase. Ihre Präsenz, die Wärme ihres Körpers waren überdeutlich. Er atmete tief ein und bekam trotzdem zu wenig Luft. Als er schließlich vorbei war, meldete sich sein Körper mit Wünschen, die nichts mit Essen zu tun hatten. Also konzentrierte sich Lommel auf das Besteck, die Teller und Gläser, um seiner Emotionen Herr zu werden. Petra konzentrierte sich ungerührt auf ihre Tomatensoße, trocknete den Salat und opferte einen Großteil des Basilikums. Ihm fiel die Aufgabe zu, einen Korkenzieher aufzutreiben, die Flasche zwischen seinen Beinen einzuklemmen, das Werkzeug in den Korken einzuführen und diesen dann an die Luft zu ziehen. Als sich Petra nach dem ´Plopp‘ umdrehte, strahlte sie. Lag das nur am Kochen? „Super, Doc, danke. Es gibt auch noch was Prosecco, da im Kühlschrank. Kochst du selbst?“

„Nur wenn’s nicht anders geht, wenn ich Gäste habe oder während einem langen Wochenende, manchmal. Ehrlich gesagt, das Putzen danach ist nicht so mein Fall.“ „Wie alle Männer“, lachte sie. „Rob vergisst das auch gerne mal. Oh – ich glaube, da kommt er gerade …“ Lommel hörte, wie das Türschloss bewegt wurde. Dann knackte der alte Holzboden im Flur. Schließlich tauchte ein massiver Schatten hinter der Milchglasscheibe der Küchentür auf. „Wow. Das riecht ja toll. Bin gleich da.“ Robert Burke steckte seinen Kopf schnell in die Küche, blinzelte und verschwand wieder. Viel mehr als ein paar rote Haare unter einer Pudelmütze waren nicht zu sehen. „Also, du wirst Rob sicher mögen. Er ist echt locker und genauso helle wie du. Allerdings interessiert er sich für völlig andere Sachen. Und in denen ist er Experte“, erklärte sie stolz.

„Was macht er denn?“, fragte Lommel. „Na ja, programmieren halt. In Berlin ist er, seit er auf dieser ,Electronic Games Convention‘ in Leipzig war. Letztes Jahr. Ist Engländer. Sein Deutsch ist, na, so lala. Interessiert ihn wohl kaum. Als Programmierer von Online-Spielen ist es auch nicht so wichtig, glaube ich. Aber frag ihn selbst, er kann endlos über Spiele reden. Rob? Was machst du eigentlich gerade?“ „Was ich mache? Ich komm an! Hi Petra – cool, Dinner.“

Burke kam in die Küche und füllte sie sofort aus. Mit einer Hand nahm er den Deckel vom Topf mit der Tomatensoße, mit der anderen streichelte er kurz Petras Schulter. Lommel war sich nicht ganz sicher, was die Geste bedeuten sollte. Er wartete, bis er dran war. Mehr Platz für Reaktionen hatte er sowieso nicht, hinten in seiner Ecke. Dann war es so weit. „Guten Tag. Ich heiße Robert. Sie sind Petra Boss. Ist das korrekt?“ „Guten Abend. Ja, Petra hat mich eingeladen. Ich bin Michael. Freut mich.“ Lommel streckte seine Hand aus, die in Robs Pranke verschwand. Rob drehte sich fast gleichzeitig mit dem Handschlag in einer raschen Bewegung, die man ihn bei seinem fülligen Körper kaum zugetraut hätte, Richtung Kühlschrank. Robert Burke war viel größer, schwerer und muskulöser als Lommel. Außerdem zeigte er zwischen Cordhose und Sweatshirt schon einen Bauchansatz. Rosa und ohne Haare, aber mit Sommersprossen, durchaus passend zum Gesicht. Robs Gesicht war groß und freundlich, mit einer dominanten schwarzen Brille in der Mitte. Sie wirkte wie ein Ausrufungszeichen und verlieh ihm Autorität. ,Typisch Berlin‘, dachte Lommel, ‚ein Nerd.‘

„Will sonst noch jemand …?“ Rob fragte unbestimmt und ohne Erwartung in die Runde, bevor er wieder die Kühlschranktür schloss und sein Bier abstellte. „Ich hätte gerne Prosecco“, sagte Petra. „Wie sieht’s mit dir aus, Michael?“ Lommel nickte. Nach der Vorspeise verteilte er den Côtes du Rhône.

„Also, du entwickelst Spiele, Robert, habe ich das so richtig verstanden?“ „Yes, korrekt, mein Herr. Das ist gute Wein.“ Rob schaute Petra an. „So was haben wir hier fast kaum. Lieben Sie Spiele, Michael?“ Petra kicherte vor sich hin. Anders als Lommel wusste sie, wie viel Mühe sich Rob mit seinen Sätzen gab. Michael zögerte einen Moment. Er wischte sich den Mund ab, schaute kurz an die Decke und lehnte sich etwas in seinem Stuhl zurück. Wahrscheinlich ein Distanzreflex. „Na ja, wahrscheinlich weniger als ich sollte.“ „Warum? Warum sollten Sie?“, wollte Rob wissen. „Menschen verbringen viel Zeit damit. Sie reden drüber. Sie sind ihnen wichtig. Die American Psychological Association hat festgestellt, dass sie die Aggressionen von Kindern steigern können“, antwortete Lommel. „Echt? Sie sind eine Psychologist, Michael. Also stimmt das? Macht Ihnen das Angst?“ „Ich meine, das ist eine glaubwürdige Quelle, Rob. Angst macht mir das aber nicht, nein. Wenn überhaupt stört mich, dass ich zu wenig davon verstehe. Eigentlich kenne ich nur die Sims, World of Witchcraft oder Warcraft, oder wie das andere heißt, Nintendo und das war’s, oder? Oh ja, dann habe ich noch irgendwas gelesen über ,Drei Fuß Ninja‘. Dass man Niveaus erreichen kann. Die sollen dann was bedeuten, keine Ahnung, was. O. K.?“

Petra amüsierte sich köstlich. So viel Unwissen zeigte ihr Chef sonst selten: „Oh mein Gott, Michael, was denkst du denn? Es gibt nicht fünf oder sechs Spiele, sondern Tausende! Und dann die ganzen Websites dazu. Was hast du die ganzen Jahre gemacht?“ „Mindestens zehn Percent der deutschen Bevölkerung spielen“, pflichtete ihr Burke bei. „Haben Sie das nie sich selbst probiert?“ „Nö“, sagte Michael. „Und Sie?“ „Ja, naturalich. Ist ja mein Job. O. K.? Täglich, für Stunden. Seit viele Jahrs“, antwortete Burke. ^

Er zog sein I-Phone aus der Tasche und fing an zu schreiben. Petra nutzte die Pause. „Die Games Convention in Leipzig hatte mal Korea als Partnerland. In Asien spielt oft ein Drittel der Bevölkerung! Wusstest du das? Ein Drittel!“ Burke nickte und schob sein Telefon zu Lommel.

„Schauen Sie: Das hier sind ein paar Spiele mit ,A‘ am erste Buchstaben: Absolute Madness, Alex in Danger, Alias I, II, III, Alien Clones, Alien Paroxysm, Angel Bothorius, Armadillo Knight I, II, III. Und dann Art Of War II und so fort. Nur mit ,A‘! Von einer einzige Website. Nicht complete! Nur in English! Petra ist korrekt. In Asia sind noch viel mehr.“ „Wow. Da muss man durchblicken. Ich kenne nur den Unterschied zwischen Computer und Konsole, offline und online. Vielleicht noch Unterschiede im Verständnis von Power Execution und parallelen versus sequenziellen Handlungen. Aber die Hardware ist sicher wieder mal wichtiger als die Sozialpsychologie …“, merkte Lommel an. Petra lachte und Burke rollte mit den Augen. „Oh Lord. Natürlich. Hardware macht so einen Unterschied. Das sind Generations von Kids, die alle mit der Evolution der Spiele groß geworden sind. Wenn …“ „Wenn sie überhaupt groß geworden sind“, unterbrach Petra Burke. Der fuhr ungerührt fort: „Wenn wir History ansehen, ging es von Text zu Graphics, Stills zu Motion, Black and White zu Color, Beeps zu Sounds und quasinatural Stimmen. Mehr Network Speed und das alles. Und dann die regionale Preferences. Kennen Sie Lolicons oder Shotacon Stories? Japan, mein Gott. Das ist eine ganz eigene World.“ Petra schaute Robert streng an. „Puh, Lolicons, Rob. Das halte ich nicht aus, ohne was zu trinken. Rob, ist der ganze Wein echt schon alle? Michael, der war echt Spitze. Aber wenn dich die Spiele so interessieren, dann musst du einfach mehr spielen!“ „Schon, kann sein. Ich denke mehr an unsere Arbeit“, bemerkte Lommel nüchtern. „Wofür die Spiele gut wären. Kennst du dich selbst damit aus, Petra?“ „Na ja, weniger als Rob, mehr als du. Als Schülerin habe ich etwas gespielt. Ich sage mal, umso jünger, desto mehr Erfahrung. Aber du hast recht: Wir sollten uns die Spiele ansehen, für das Seminar. Die Studenten fänden das bestimmt cool.“

Für den Abend blieb es dabei. Burke erzählte von seiner Programmierarbeit als Freelancer und seinem Traum, einen Job in der Filmindustrie zu bekommen. Seinerseits war er neugierig darauf, was eigentlich ein echter Psychologiedoktor so trieb. Dann ging es um Kinofilme und irgendwann hatten alle mehrere Grappas getrunken. Burke und Lommel beschlossen, das ‚Sie‘ wegzulassen, was die Sprache für Rob überhaupt nicht einfacher machte. Und Lommel durfte gehen, ohne bei der Küche helfen zu müssen. Dafür bekam er auch noch eine Umarmung von Petra, was seine Sinne weiter vernebelte. Übrig blieb ein unbestimmtes, warmes Gefühl, gut aufgehoben zu sein, das er viel zu lange nicht mehr gespürt hatte. Vielleicht stand Petra Rob tatsächlich nahe. Näher als Lommel es wollte. Vielleicht war sie so herzlich mit allen ihren Freunden. Und vielleicht ging ihn das auch alles gar nichts an. Die frische Luft auf der Straße regte ihn zum Nachdenken an.

‚Ich sage mal‘, er lachte in sich hinein, ‚ich sach mal, hier ist irgendwas passiert.‘ Er stoppte. Was es war, das war ihm noch nicht klar. Logisch, es hatte was mit den Spielen zu tun. Online-Spielen. War es das? Lommel beschloss, nach Hause zu laufen statt die U-Bahn zu nehmen. Wenn er tatsächlich eine neue Idee hatte, oder zumindest die Perspektive einer neuen Idee, dann war Laufen besser. Aber war es schon die Idee oder nur die Perspektive, eventuell wieder eine Idee zu haben? Lommel erwog, statt direkt in seine kleine Wohnung in Treptow, erst in den Nachtklub zu gehen, an dem er praktisch jeden Tag vorbeilief. Vielleicht mehr so, aus, aus wissenschaftlichen Gründen? Diese Perspektive war nun immerhin so attraktiv, dass er seine Schritte bewusst verlangsamte. Aus Vorfreude. Oder tat er das, um nicht zu schnell da zu sein – und wirklich eintreten zu müssen? Ausflüchte! Also, was war es nun – das Bedürfnis nach menschlicher Wärme – nach, na gut, weiblicher Wärme –, was er für die Perspektive einer neuen Idee gehalten hatte? Oder doch etwas anderes? Schließlich blieb er unentschlossen vor der Tür des Etablissements stehen. Wieder einmal schaffte er es nicht, seine inneren Ausreden nicht hineinzugehen, zu überwinden.


Berlin: Kontrollverlust

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