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Fünfter Durchlauf
ОглавлениеAls Santa Maria Caltéro aus Ushuaia in Argentinien auf ihre ersten Anweisungen wartete, dachte sie an die kommenden Minuten als Chance. Einer Chance, mehr über einen anderen Menschen zu erfahren: über denjenigen, der sie bei ihrem Durchlauf anweisen würde. Sie stellte sich vor, was der- oder diejenige sich wohl vorgenommen haben könnte. Wie sie ihre eigene Tour planen würde, wenn es so weit wäre. Was jetzt auch immer passieren würde: Es würde ihr einen näheren und unmittelbareren Einblick geben in das Wollen einer anderen Person, als sie es je zuvor erlebt hatte.
Ihre Eltern hatte sie nie wirklich kennengelernt, sie wuchs mit ihrem älteren Bruder bei einer Großtante auf, die sie kaum je zu etwas gezwungen hatte, soweit sie sich erinnern konnte. In der Schule lernte sie so schnell, dass die Lehrer sie in Ruhe ließen. Was Gott von ihr wollte, das konnte sie sich zwar vorstellen – zu ihr gesprochen aber hatte er noch nicht. War das jetzt wie die Ausbildung beim Militär, von der ihr Bruder ihr schon manchmal erzählt hatte?
Als Maria die Stimme endlich durch ihre Kopfhörer wahrnahm, war sie so freudig gespannt wie an ihrem Geburtstag, wenn sie endlich ihre Geschenke auspacken konnte.
Einen Moment später spürte sie einen heftigen Schmerz an beiden Ohren. „Santa mierda!“ So hatte sie sich das nicht vorgestellt. ‚O. K. Wir wollen gleich zur Sache kommen. Ab nach links zu den Schließfächern.‘ Maria stand hektisch auf und lief den Flur entlang. An wen war sie denn hier geraten? ‚Stopp. Nummer 54 ist offen. Tür aufmachen.‘ Sie fand Chinaböller, Streichhölzer, eine Wasserpistole und ein Jagdmesser. „Mein Gott, was soll das denn?“ ‚Mund halten. Einstecken.‘ Wieder der Schmerz in ihren Ohren.
‚Jetzt gehst du damit zu der Galerie über dem Eingangsfoyer, los!‘ Maria ahnte nichts Gutes. Der Schreck war ihr so in die Glieder gefahren, dass sie in einen falschen Gang einbog. Wieder fuhr ihr ein heftiger Schlag in beide Ohren. ‚Verdammt! Pass auf und mache, was ich gesagt habe!‘ Das Mädchen zuckte und murmelte ‚ich geh ja schon, geh ja schon‘, drehte und hetzte den richtigen Gang lang, bereits leicht panisch, nicht wieder einen Fehler zu machen.
‚Stopp. Aufstellen am Geländer schräg hinter der Säule. Wasserpistole ziehen und anlegen.‘ Sie tat wie befohlen. ‚Zielen und schießen, sobald jemand kommt. Dann verstecken.‘ Eine Studentin lief vorbei. Maria zielte daneben und drückte ab. ‚Zielen hab ich gesagt. Noch mal, und jetzt besser!‘ Maria hatte das Gefühl, an einen Perversen geraten zu sein. Dann dachte sie an ihren Bruder, der auch immer von Disziplin sprach, und wollte nicht gleich aufgeben. Sie zielte auf einen Jungen und schoss einen kräftigen Strahl schräg herab. Der Junge griff sich sofort an den Hals, wo sie ihn getroffen hatte, beschwerte sich lauthals und eilte durch das Hauptportal davon. ‚Gut gemacht. Noch mal!‘ Zwei Studentinnen kamen in das Haus. Maria zielte und traf eine im Gesicht. Das Mädchen schrie und hielt sich die Augen. Die andere hatte Maria gerade noch hinter dem Pfeiler gesehen und setzte an, die Treppe hoch zu sprinten. Augenblicklich zuckte es in Marias Ohren. ‚Du Idiot. Jetzt hast du dich erwischen lassen. Los, dreh dich um und geh in die Jungentoilette gleich hinter dir.‘ Maria zögerte nur einen Moment und tat dann, was ihr aufgetragen wurde. Sie war nicht alleine im Raum. ‚Schnell, geh in eine Kabine, ehe du gesehen wirst, und warte, bis er fertig ist.‘ Sie öffnete die Kabinentür, trat ein und schloss ab. Die Wände waren voller Graffiti. Es stank. Der erste Mann ging.
Draußen schlug die Tür. Jemand betrat die Nachbarkabine. ‚Jetzt zünde einen Böller an und wirf ihn rüber.‘ Maria schaute ungläubig die grobschlächtige Zeichnung eines erigierten Penis an, als der Schmerz zwischen ihren Ohren erneut spürbar wurde, stärker denn je. ‚Verdammte Trantüte. Jetzt mach, die Zeit läuft uns weg!‘ Als das Gefühl in ihren Ohrmuscheln gerade wiederkam, riss sich Maria die Stöpsel heraus, schmiss die Böller in die Toilettenschüssel und zog die Spülung. Ohne sich die Kamera vom Hals zu nehmen, stürmte sie aus der Herrentoilette und rannte in die Cafeteria, wo sie sich für später mit einer Freundin verabredet hatte. Als sie dort ankam, merkte sie, dass sie die Wasserpistole noch immer fest umklammert hielt. Ihre Hand schmerzte und die tropfende Feuchtigkeit brannte auf ihrer Haut. Sie schaute auf ihre Finger. „Por lo que un cerdo pervertido!“