Читать книгу Berlin: Kontrollverlust - Frank Martin Hein - Страница 7
Vorzeit 4
ОглавлениеDer erste Moment war immer der schönste. Jeden Tag aufs Neue. Wasser kräuselte sich in klitzekleinen Wellen rund um die niedlichen runden Zehen mit den knallig rot lackierten Nägeln. Sie glänzten im Licht. Kalt war es und warm zugleich, der Sand weich unter den Fußsohlen, die Luft frisch und mild. Die Brise versprach Energie und gute Laune. Die Morgensonne schickte ihre ersten, kitschigen Strahlen über den Berg. Harriet Brimm ließ sich Zeit und zelebrierte den Einstieg ins Meer wie ein Ritual. Das Wasser reichte ihr mit jedem Schritt etwas höher: die hübschen Waden entlang, über die Knie und die Oberschenkel. Bis es endlich die Bikinihose direkt zwischen ihren Beinen berührte. Der hellblaue Stoff sog sich voll und wurde dunkler. Sie spürte, wie ihre Scham feucht wurde, das Wasser stieg und schließlich ihr rundes Bäuchlein umspülte. Das Baby darin sollte keinen Schock bekommen, sondern an ihrer Freude teilhaben. Kurz nach Sonnenaufgang in der Santa Monica Bay zu schwimmen machte Harriet glücklich. Ihr erstes Kind durfte an diesem Glück von Anfang an teilhaben. Endlich glitt Harriet ganz ins Wasser und machte ein paar entschlossene Züge in die Bucht hinaus. Brustschwimmen hatte sie schon in der Schule gelernt; es fiel ihr nicht schwer. Mit geschlossenen Augen, knapp unter der Oberfläche gleitend, konnte sie die Strömung bei jeder Bewegung noch besser um sich spüren. Nach ein paar Minuten drehte sie sich auf den Rücken und ließ sich treiben, perfekt und anstrengungslos gehalten an der Grenze zwischen Wasser und Luft. Als sie zu frieren anfing, drehte sie sich zurück in die Bauchlage und begann ihr Training: Jeden Tag während der Schwangerschaft kraulen zu üben, das hatte sie sich vorgenommen, seit ihr Mann John es ihr letzte Saison beigebracht hatte. Bei ihm sah es wie schwebend, so leicht und selbstverständlich aus. Obwohl Harriet beim Luftholen oft Wasser in den Mund bekam, übte sie unverdrossen weiter. Jeden Tag ein wenig mehr, so ging das über Wochen. Sie war stolz auf sich und ihre Disziplin, denn die Anstrengung nahm schneller zu als ihr schwimmerisches Geschick. Kein Problem, ich bin ja schwanger‘, sagte sie sich. Bis sich eines Tages beim Schwimmen ihr Unterbauch so zusammenkrampfte, dass sie vor Schmerzen kaum noch den Kopf über dem Wasser halten konnte. Mit letzter Kraft schaffte sie es an Land, schleppte sich auf ihr Handtuch und hielt sich den Bauch. Sie weinte, bis sie einschlief, und kam nie mehr in die Bucht zurück.