Читать книгу Berlin: Kontrollverlust - Frank Martin Hein - Страница 12
Woche 1—2
ОглавлениеOhne seine Zustimmung abzuwarten, kam Petra um Lommels Schreibtisch herum zu seiner Seite. Ihre Augen waren so groß und glänzend, dass seine kaum zurück zum Bildschirm fanden. Er schaffte es nur knapp, vom Interviewprogramm zurück zu seiner E-Mail zu schalten, als sie schon auf einer Ecke seines Tisches saß, ihn anlächelte und mit ihren Beinen wippte. Der Anblick machte ihn fertig, obwohl sie Jeans und einen dicken Pullover anhatte. Ihre Figur zeichnete sich deutlich genug ab. Und dann gab es auch noch diese vielen braunen Haare, die geschwungenen Augenbrauen und diesen zarten, einladenden Mund, wie eine sanfte Doppelwelle. Aber er war hier nicht beim Zahnarzt. Er musste aufpassen. Das Beste an ihr, sagte er sich, war sowieso ihre Unverfrorenheit, jederzeit und an jedem Ort den Eindruck zu erzeugen, hier und jetzt genau richtig zu sein. Voll da. Und richtig glücklich. ‚Was für ein Unterschied zu mir‘, dachte Lommel, ‚so fröhlich!‘ – und sagte laut: „Nur die Post. Nichts Aufregendes. Aber wir müssen das Sommersemester vorbereiten.“ „Klar, hab ich auch schon gedacht. Deine Vorlesung und ein paar Praktika. Das Seminar zur Motivationspsychologie 2.0. Wir haben um die zwanzig Teilnehmer. Also alles ganz normal.“
Bei Licht besehen war er mit seinen Vorbereitungen spät dran. Er hatte einfach keine Böcke dazu. Sein ‚High Achievement Style‘ hatte einer leichten Depression Platz gemacht. Und die wissenschaftliche Lektüre hatte er durch ausgiebige Recherchen im Internet ersetzt. Was es da nicht alles gab – ein Boulevard für Voyeure! Seine Lust auf das kommende Semester hielt sich wirklich in Grenzen. Im Grunde eine gesunde Vermeidungsreaktion. „O. K., gehen wir einen Kaffee trinken“, schlug er vor, um sich selbst in Trab zu bringen und Zeit zu schinden. Er griff sich einen alten Ordner aus dem Regal. In der Cafeteria schaute er mit Petra rein und fand tatsächlich eine Liste mit Literatur. Petra würde die Bücher organisieren und er ein paar neuere Aufsätze suchen. Genug! „Ist dir schon mal aufgefallen, wie wenig diese ganze Forschung eigentlich bislang konkret gebracht hat?“, fragte er sie. „So ernsthaft gibt es das Fach bereits seit dem letzten Jahrhundert. Ein paar Ideen sind noch älter. Baltasar Gracián y Morales hat sich im frühen siebzehnten Jahrhundert so seine Gedanken gemacht. Und jetzt reißen sich die Neurobiologen, Verhaltensökonomen und Spieltheoretiker das Thema ,Motivation‘ unter die Nägel. Wir sind’s wieder los, bevor es richtig angefangen hat, spannend zu werden. Von ‚Früchte tragen‘ ganz zu schweigen.“ „Doc, sei nicht so negativ. Psychologie ist jetzt Allgemeinwissen. Jeder redet drüber und benutzt es, aber die Wenigsten machen sich einen Kopf, wo die Theorien erfunden wurden.“ „Stimmt. Die Personaler nutzen unsere Arbeit, Headhunter und, eh, diese neuen Tests zur Beschäftigungsfähigkeit. Ich kenne sogar Berater, die mit Libets Versuchen argumentieren. Bloß: Was kommt noch Neues von uns? Die Agenda bestimmen die Gehirnwissenschaftler und die Ökonomen. Die einen haben die tollen Apparate und die andern das Geld aus der Konsumforschung. Wir haben trainierte Ratten und eine lange Geschichte.“ „Also Michael …“ „Im Ernst. Solange von uns niemand Brainscans oder Neuropharmakologie drauf hat, werden uns sogar noch die Soziologen das Feld streitig machen. Wir müssen der Welt unseren Wert beweisen. Und nicht darauf warten, dass die Welt zu uns kommt. Statt nur teure Sitzungen abzuhalten, müssen wir konkret werden. Mehr Beweise liefern als Worte. Einfache, praktische Lösungen finden, um Leute zu motivieren, die durchhängen, zum Beispiel!“
Diese Art von Meckerei an ihrem Fach und ihrem Institut passte Petra gar nicht. Hatte sie nicht gerade erst vor drei Jahren mit dem Studium begonnen? Jetzt konnte sie doch nicht in Selbstkritik versinken! Im Gegenteil: Sie liebte große Theorien über die Welt und schlaue Experimente, um die zu beweisen. Und schlaue Leute, die spannende Wissenschaft machten. „Deswegen bist du ja hier so wichtig, Michael. Genau darum geht es doch im nächsten Semester! Wieso machen wir nicht einfach einen, hm – einen Kriminalroman aus dem Theorieblock? Das ist nur eine Frage der Verpackung. Ein cooles Experiment, das die Studenten nicht mehr loslässt, das brauchen wir, genau! Brauchst du doch sowieso, oder? Das isses – et voilà!“
Petra liebte das ,et voilà‘. Eingebracht hatte es ihr frankokanadischer Kollege, Luc. Luc war vor ein paar Wochen an die Humboldt gekommen, um seine Doktorarbeit zu machen. Luc benutzte das ,et voilà‘ anders als Petra. Für ihn war es ein Ausrufezeichen, ein Symbol seiner Überlegenheit und Hinweis darauf, dass bohrende Nachfragen fehl am Platz waren. Jegliche. Wie das Amen in der Kirche, fand Lommel. Es war manchmal schwierig mit Luc. Bei Petra klang das ,et voilà‘ eher beschwingt. Fröhlich. Es machte Aufgaben leicht. Als ob sie fast schon gelöst wären. Lommel liebte Petras ,et voilà‘. Anders war es mit dem ,ich sage mal‘. Das konnte er überhaupt nicht leiden. ,Ich sage mal‘ zeigte ihm, dass sie ihre Sache nicht zu Ende gedacht hatte. Es erinnerte ihn an seinen Vater. Dies saublöde, westfälische ‚in die Tüte gesprochen‘. Lommel hatte sich geschworen, nie ‚in die Tüte‘ zu sprechen, nie! Mein Gott, alleine das Bild, ‚in die Tüte‘ zu sprechen! Aber das ,ich sage mal‘ war nicht viel besser. Einfach schlampige Kopfarbeit. Schon optisch war das ,et voilà‘ viel schöner als das ,ich sach mal‘. Allein die Bewegung der Lippen – ein Genuss. Und dann diese subtile Mischung aus Emotion und Kognition. Er konnte nicht genug davon bekommen. Auch wenn nicht jeder Satz, den sie davor sagte, auch stimmte. Was soll’s. Außer dem eben. Mit dem Seminar hatte sie einfach nur recht.
Der Rest des Arbeitstages verlief ebenso ereignislos, wie er begonnen hatte. Er speicherte den dämlichen Fragebogen auf halber Strecke, obwohl davon ausdrücklich abgeraten wurde. Im Grunde könnte man ja das gleiche Programm über ein Smartphone laufen lassen. Dann könnte man in der U-Bahn über sein Leben nachdenken, statt den Pennern zuhören zu müssen. Aber vielleicht waren die einfach nur einen Schritt weiter und konsequenter. Lommel blätterte durch eine Publikation der American Psychological Society, suchte nach Ankündigungen wissenschaftlicher Konferenzen und besuchte die Websites anderer Unis. Es war immer spannend zu sehen, was andere machten. Ob sie bessere Kurstitel hatten oder die Referenten ein schärferes Profil.
Lommel blätterte gerade durch die letzte Ausgabe von ,Hormones and Behavior‘, als er ein vorsichtiges Klopfen an der Tür hörte. Petra Pachlower wollte ihn nicht schon wieder überraschen. „Alles klar, Michael?“ „Klaro. ,Hormones and Behavior‘ ist immer noch bei den gleichen Themen, aber das sind wir wohl alle, oder, Petra?“ Er lächelte. „In ein paar Wochen ist wieder eine gute Konferenz in Wien. Da werde ich wohl dieses Jahr wieder hingehen, willst du mal sehen?“ „Also Doc, ja. Sicher. Ich bin etwas in Eile. Wien schaue ich mir gerne nächste Woche an. Ich wollte dich was fragen: Willst du heute Abend zu uns zum Abendessen kommen? Also, nichts besonders. Rob ist da, heute ist Freitag und morgen müssen wir nicht arbeiten.“ „Rob …?“ „Oh, mein WG-Mitbewohner. Das ist ein Netter.“ Michael spürte einen kleinen Stich im Bauch. Was war das denn? Vorsicht, weiter lächeln! „Klar. Gute Idee eigentlich, Petra. Ich war schon lange nicht mehr aus meinem Viertel raus. Mein Kühlschrank ist auch leer. Also, wann geht’s los und wie komme ich hin?“ „Super. So was gegen acht. Du musst in den ,Wrangelkiez‘. Ich hab dir hier die Adresse – ciao!“ Sie gab ihm schnell ein Blatt aus ihrem Protokollbuch, winkte und war weg.
Eine Stunde später saß er in der U-Bahn. Er mochte die überirdische Strecke, die auf Brücken über den Straßenverkehr führte. Er mochte den Blick in die hellen Fenster der Häuser bis in die zweite Etage. Was dort zu sehen war, war spannender als die endlose Dunkelheit unten. Die unterirdischen Strecken waren – wenn überhaupt – nur unterhaltsam durch die anderen Passagiere (die man ja in der Regel nicht anstarren durfte, zumindest nicht offen, weil zumeist keine Sprechstundenhilfen und so weiter). Lieber fragte er sich, wie es sich wohl in diesen Wohnungen wohnte, in denen die Insassen sich wie auf einem Tablett präsentierten – und das auf Augenhöhe. Konnte man eigentlich genauso viel in den Zügen sehen wie aus den Zügen? Lommel liebte die Stillleben der winterlichen Balkone, verblichenen Inszenierungen der vergangenen Saison, mit Blumenkästen und Schränken, verstaubten Gartenmöbeln und Kartons, Fahrrädern und Wäscheständern. Nur wenige Balkons waren wirklich leer. Es gab die statuengleichen Raucher mit ihren Leuchtzeichen und die grell beleuchteten Küchen; die wenigsten davon durch Gardinen geschützt und einladend eingerichtet. Sie strahlten dennoch eine Heimeligkeit aus, die ihn stets magisch anzog. Dann die Wohnzimmer. So wenig zu sehen war, das Leben rund um die Fernseher oder Computerschirme weckten in ihm jedes Mal den Wunsch, eine Fotoserie gestohlener Privatsphären zu schaffen. Moderne Lagerfeuer, so banal sie auch waren.
Mit einem Kreischen der Stahlräder auf den Schienen kam sein Zug am ,Schlesischen Tor‘ in Kreuzberg zum Stehen. Lommel ging in einen der kleinen Läden und kaufte Wein, einen einfachen, zuverlässigen Côtes du Rhone, dann einen Block weiter in die Oppelner Straße, bog an der Wrangelstraße rechts ab und dann links in die Sorauer Straße ein. Nun war er genau da, wo ihn der Zettel mit der Adresse (aus dem Protokollbuch! Herausgerissen!) hinbeordert hatte. Es ging durch den dunklen Hausflur der Nummer drei zum Hinterhaus. Vor ihm war eine alte Holztür mit den Kratzern vieler Jahre. Und da war auch das Klingelbrett. Sein Herz schlug einen Tick schneller, als er das schiefe, fast unleserliche Schild mit den Namen ,Pachlower / Burke‘ sah. Er klingelte.