Читать книгу Berlin: Kontrollverlust - Frank Martin Hein - Страница 13

Woche 11—4

Оглавление

Als Lommel von der Polizeistation in Tempelhof nach Hause gefahren wurde, war es immer noch kalt und nass. Ein dicker Nebel lag über den alten Bäumen im Treptower Park und verwandelte sie in einen Reigen stummer, dunkler Geister. Der Nebel verschlang jedes Geräusch. Lommel war saumüde, aber wenigstens noch immer ein freier Mann. Vorhin im Leichenschauhaus hatte er bestätigt, dass es sich bei der weiblichen Leiche aus Königs Wusterhausen tatsächlich um seine Studentin, Margrit Meyer, aus Österreich handelte. Es war seine erste kalte Leiche, seit er seine Studienfreundin Jutta in den Anatomiesaal zum Präparieren begleiten durfte. Bloß diesmal handelte es sich nicht um alte, eingetrocknete Männer in Formalin, einen offenen Brustkorb oder ein loses Bein, sondern um eine komplette, ausnehmend schöne, junge Frau. Was mit ihrem Gesicht passiert war, überstieg seine schlimmsten Vorstellungen. Es machte ihn so betroffen, dass er nicht einmal versuchen musste, irgendetwas vorzuspielen. Es war grausig genug.

Er erzählte den Kommissaren, was er über sie wusste und dass die Verantwortung für das Seminar nicht bei ihm lag, sondern bei Luc De Blanc, als sie das letzte Mal gesehen wurde. Also bei seinem Promotionsstudenten, dem ranghöchsten Mitglied seines Teams, was deutlich gesagt werden musste. Ja, als sie verschwand, war er nicht da, sondern in Wien, auf einer Konferenz. Das waren die Fakten. „Fragen Sie Trudie Maierhofer, wenn Sie mein Alibi brauchen“, sagte Lommel. „Und hier ist der Name der Konferenz.“ Er schrieb alles auf einen Zettel und schob ihn zu den Polizisten. „Und ja, leider ist Herr De Blanc jetzt weg. Stimmt. Sie haben recht – er ist gleich nach Fräulein Maierhofer verschwunden.“ Lommel hielt sich an die Tatsachen. Irgendeine Verbindung? Kann schon sein. Wäre Herr De Blanc so eines Verbrechens fähig? Das war eine andere Frage. Also, sehr kollegial war das klammheimliche Verschwinden meines Stellvertreters nicht, oder? Eigentlich ein grober Vertrauensbruch. Verarschung? Von mir? Na ja, wenn Sie unbedingt so wollen. Meine Wortwahl wäre das nicht. Und eines solchen Mordes fähig? Als promovierter Psychologe würde ich das eher verneinen, bin aber kein Forensiker. War er seltsam, abnormal? Na ja. Luc war, sagen wir mal, oft etwas schwierig, aber doch nicht offensichtlich krankhaft gestört. Wenn man das überhaupt so einfach beurteilen kann. Ohne Tests. Nein. Privat haben wir uns nie getroffen, die ganze Zeit nicht, nein. Keinen einzigen Abend, nie. Also keinerlei persönliches Verhältnis entwickelt – in den ganzen sechs Monaten? Nein. Und nein, ich habe keinerlei verdächtige Storys über ihn gehört. Könnte er seine Autorität missbraucht haben – sagen wir, um eine Studentin aus der Uni zu locken, und sie, oder auch andere Studentinnen zu missbrauchen? Hmm, schwierig. Schwer zu sagen, aber warum nicht? Intelligent genug war er. Bei Weitem. Und sehr gut aussehend auch, haben mir Frauen gesagt. Fragen Sie doch einfach mal unsere Verwaltungsleiterin am Institut! Sie hat sich bei mir über ihn beschwert. Geflirtet hat er, ja klar. Ja, natürlich war er arrogant. Die Verwaltungsleiterin sagte ‚typisch französisch‘, verstehen Sie? Jetzt hätte ich aber gerne eine Glas Wasser, bitte. „Gut, Dr. Lommel, jetzt erzählen Sie uns bitte mal was über Ihre Experimente.“

Da war sie nun: die Frage, auf die Lommel seit zwei Stunden gewartet hatte. Insofern war er vorbereitet. Wenigstens im Prinzip. „O. K. Vorab, meine Herren, eigentlich sind wir ja Kollegen“, fing Lommel seine Antwort an. „Das ist wichtig für das Folgende. Sie studieren menschliches Verhalten, ich auch. Nicht aus den gleichen Gründen, nicht am gleichen Ort, aber eigentlich sehr ähnlich, richtig?“ Die beiden Kommissare nickten. Unisono. „O. K. Wir, also ich für meinen Teil, arbeite im psychologischen Institut. Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich deswegen nun ein wenig vereinfache. Unser Thema ist die Motivation. Das bedeutet, kurzgefasst: ‚Was treibt Menschen an?‘ Erinnern Sie sich an Maslow?“ Die beiden Kommissare nickten wieder und schrieben mit. Das Neonlicht war erbarmungslos. Beide Männer sahen müde aus. Wahrscheinlich viel jünger, als sie jetzt wirkten. Und stärker engagiert. Ein Mord. Nicht schön, aber Routine. Besser als Zigarettenschmuggel immerhin.

„O. K. Unser Kurs heißt ,Introduction to free will‘. Das heißt so viel wie ,Einführung in den freien Willen‘. Die ganze Veranstaltung findet in englischer Sprache statt. Unsere Studenten erforschen die Gründe für ihre eigenen Entscheidungen und den Einfluss von vermittelnden Faktoren. Wir sprechen unter Fachleuten von ,Mediating Factors‘, die von außen kommen.“ Jetzt schauten die beiden Kommissare ihn mit großen Augen an. Sie erwarteten eine weitere komplizierte Erklärung, bei der es auf jedes Wort ankommen würde. Und bei der sie trotzdem wahrscheinlich nur einen Bruchteil verstehen würden. Einen Moment lang dachte Lommel daran, genauso vorzugehen. Dann entschied er sich spontan zu folgender Aussage: „Es kann sein, dass Herr De Blanc versucht hat, den jüngeren Studenten seinen Willen aufzuzwingen. Margrit insbesondere. Es kann sein, dass es einen Wettbewerb gab. Sagen wir, zwischen ihrem Willen und seiner Autorität, verstehen Sie?“ Wieder Nicken. Die letzte Weiterbildung der beiden Kriminalfachleute lag Jahre zurück. In Berlin wurde an allem gespart. Die Worte eines veritablen Doktors der Psychologie infrage stellen? Jemanden, dem sie jederzeit als Experten im Gericht begegnen konnten? Nein. „Zum Beispiel kann es so gewesen sein, dass De Blanc ihr aufgetragen hat, einen bestimmten Weg zu gehen. Und danach, ihre Gefühle dabei aufzuschreiben. Solche Versuche können dazu dienen, im übertragenen Sinne, dass Sie und Ihre Vorgesetzten bessere Befehle und Anweisungen geben. Wobei sich unsere Versuche selbstredend an die Uni-Vorschriften und unsere ethischen Normen halten.“

Die Kommissare signalisierten Verständnis.

„Ein anderes Ergebnis kann sein, dass wir mehr darüber erfahren, wie die Mitglieder einer Gruppe – auch einer kriminellen Bande! – untereinander ihre Macht ausspielen.“ O. K., wollen Sie noch etwas wissen? Wissen Sie, ich könnte noch stundenlang über meine Arbeit reden. Allein die Forschung aus den USA ist faszinierend. Bitte? Ja, wir arbeiten mit wechselnden Zweiergruppen von Studenten. Selbstverständlich randomisiert, doppelt blind. Wie in der Pharmaforschung. Die Evaluation der Ergebnisse ist statistisch streng kategorisiert. ,Gut‘ und ,böse‘ werden sauber getrennt. Wir wenden hoch belastbare, multiple Korrelationsverfahren und Faktorenanalyse der dritten Generation an. Darf ich ein wenig über sechs Sigma und Phi sprechen, nein? Konfidenzintervalle? Schade. Vielleicht führt das für Ihre Arbeit auch ein wenig zu weit, aber wenn Sie ein paar Aufsätze dazu lesen wollen, lasse ich Ihnen gerne etwas zukommen.

Nachdem Lommel den Bericht unterzeichnet hatte und für ihn ein Fahrer gerufen wurde, zögerte er einen Moment. „Ja, Dr. Lommel, ist noch was?“ Lommel konnte sich einfach nicht zurückhalten, seine alte Schwäche. Er strich sich die Haare aus der Stirn. „Haben Sie – also haben Ihre Leute – irgendetwas bei der Leiche gefunden?“ „Warum, Herr Dr. Lommel?“ Er biss sich auf die Zunge und machte eine Kunstpause, um Zeit zu gewinnen. „Na ja, wenigstens einen Walkman oder ein Handy oder so was?“ Dann kriegte er doch noch die Kurve. „Oder irgendwelche Anweisungen von De Blanc, einen Zettel oder so was?“ „Warum?“ „Ich frage mich einfach, ob sie irgendwie mit De Blanc in Verbindung geblieben ist. Ob sie was miteinander hatten, vielleicht. Wissen Sie, De Blanc hat immerhin die Vorschriften unserer Uni missachtet. So viel ist sicher. Die Humboldt-Ethik. Das muss ihm doch klar gewesen sein. Ihr vielleicht auch. Sie hat trotzdem mitgemacht. Warum?“

Die Polizei hatte nichts gefunden. Aber würde noch einmal nachsehen. Also hatte er Glück, erst mal, und das verdammte Gerät von ihrem Experiment war woanders gelandet. Vielleicht durch den Mörder. Oder der hatte es noch. Oder sie hatte gar keines dabei gehabt. Lommel war ganz zufrieden. Genug Aufmerksamkeit auf Luc gelenkt. War O. K. „Wenn ich Ihnen noch irgendwie helfen kann, lassen Sie es mich bitte wissen.“

Zu Hause in seiner Wohnung in Treptow machte Lommel zuerst eine Flasche Whiskey auf und dann seinen Laptop. Minuten später hatte er einen Artikel vor Augen, der offenbar seit zwei Stunden im Netz stand – die Online-Version der Zeitung, die in spätestens vier Stunden die ganze Stadt gedruckt würde lesen können.


Frauenleiche aus Königs Wusterhausen wahrscheinlich vermisste Studentin

Voodoo-Experimente an Humboldt Universität Berlin. Gestern wurde in einer Garage nahe der Bahnstation von Königs Wusterhausen eine tote Frau gefunden. Den Fund verdankt die Polizei der Reaktion eines Schäferhundes, der zufällig nahe der Leiche vorbeigeführt wurde, und der Hartnäckigkeit des Hundehalters, der auf dem Erscheinen einer Streife bestand. Die Suche durch eine Hundertschaft der Polizei selbst am Morgen war ergebnislos geblieben. Ohne den Hundehalter wäre die Leiche vermutlich noch längere Zeit unentdeckt geblieben. Warum die Hundertschaft überhaupt suchte, ist bislang unklar. Einwohner von Wildau berichteten, dass Zugang zu ihren Garagen verlangt wurde, aber auch sie erhielten keine Erklärung, wieso.

Derzeit wird geprüft, ob es sich bei der Leiche um die österreichische Studentin handelt, deren Verschwinden erst vor ein paar Tagen offiziell gemeldet wurde. „Wir können nicht ausschließen, dass die Tote und Margrit M. ein und dieselbe Person, also identisch sind“, sagte die Polizei. „In einem solchen Fall allerdings verbieten sich jegliche Spekulationen – schon der Eltern wegen. Derzeit fehlen noch Fakten, um alle anderen Optionen auszuschließen.“ Inoffizielle Quellen bestätigten dennoch, dass Alter, Haarfarbe und Größe der Frauenleiche mit der Margrit M.’s genau übereinstimmen. Ob die Eltern der Studentin bereits auf dem Weg nach Berlin sind, ist nicht bekannt. Eine erste pathologische Untersuchung ergab, dass die Frau vor ihrem Tode missbraucht wurde. Die Polizei bittet alle Bürger um Mithilfe bei der Suche nach dem oder den Tätern. Wer während der letzten zwei Wochen verdächtige Aktivitäten oder Personen gesehen hat, möchte sich bitte bei jeder Polizeistation in Berlin oder Brandenburg melden.

Institut der Humboldt University verletzt eigene Ethikstandards – Experimente zu gefährlich für deutsche Studenten?

Berichten zufolge beteiligte sich Margrit M. vor ihrem Verschwinden an einer Serie von Experimenten zu Fragen des ,freien Willens‘, die am Psychologischen Institut der Universität durchgeführt wurden. Nach wie vor ist unklar, warum die Mehrzahl der Teilnehmer an dem Projekt ausländische Studenten sind. Aus dem veröffentlichten Lehrplan des Instituts wird klar, dass das zugehörige Seminar nicht schon in früheren Semestern angeboten wurde – in denen die Mehrheit der Studenten Deutsche waren. „Das Seminar ist Spitze und wir lernen eine Menge“, sagte uns ein teilnehmender Student, der seinen Namen nicht nennen wollte. Andere Studenten berichteten dagegen von einer enorm hohen physischen Belastung, Lärm, verletzendem und ungewöhnlichem Verhalten während der psychologischen ‚Durchläufe‘. Von ihren Kommilitonen wurde Margrit M. das letzte Mal gesehen, bevor sie an einer der experimentellen Sitzungen des Seminars teilnahm, die von inoffiziellen Vertretern der Humboldt-Universität als ,Voodoo mit elektronischen Mitteln‘ beschrieben wurden. Der Dekan der Universität und der verantwortliche Professor – der sich während der Vorgänge offenbar zu einer Konferenz in Wien befand – werden unseren Lesern noch erklären müssen, was hier wirklich vorging.


Berlin: Kontrollverlust

Подняться наверх