Читать книгу Kommunale Pflegepolitik - Frank Schulz-Nieswandt - Страница 12
Oberfläche und Tiefe116 von mythischen Bildern
ОглавлениеWenn man Sozialpolitik tief verstehen will, muss man den Mythos verstehen. Denn dieser thematisierte117 von Beginn an Fragen des Gegenstandes der Sozialpolitik: das menschliche Drama, die Nöte und Sorgen, die Ängste. Das erkennt man, bezieht man sich etwa auf die griechische Töpferkunst118, nicht angemessen, wenn die Themenanalyse deskriptiv bleibt119. Man wird die Themen in der Formanalyse symbolisch120 tiefer verstehen müssen.
Das Leben ist eine abenteuerliche Reise (wie die Odyssee oder die Argonautica), an der der Mensch scheitern kann und daher dieses Wagnis mit Mut und Liebe als Offenheit zur Welt annehmen muss. Diese Daseinsführung als Entwicklungsaufgabe wirft die Suche und Frage nach den Sinnzusammenhängen auf, in die sich der Mensch orientierend einstellt121. Wer bin ich? Wo stehe ich? Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Wo soll ich hin? In dieser Geburtsstunde des Philosophierens entspringt aus dem Mythos122 die Idee der Polis, die Idee der Daseinsführung im sozialen Miteinander123, so dass sich Ordnung der Freiheit gibt: das Gute, das Wahre, das Schöne. Wie will der Mensch leben und, damit umfassend, wohnen und arbeiten?
Ist die personale Lage einerseits eingebettet in das Landschaftsgefüge verschiedener, einerseits differenzierter, andererseits interdependenter Subsysteme (Wirtschaft, Politik, Kultur, Person) der Gesamtgesellschaft, so ist umgekehrt die Lebenswelt der Person eine »Keimzelle« systemfunktionaler Kapitalien (Humankapital, Vertrauenskapital, Sozialkapital, Kulturkapital) in Bezug auf die Logiken von Tausch, Herrschaft, Gabe und Engagement.
Das nachfolgende Schaubild ( Abb. 1) stellt die personale Lebenslage in den Mittelpunkt eines komplexen Kontextes. Will man die personalen Lebenslagen gestalten, muss man das gesamte Feld gestalten. Das sind der Gegenstand und die Aufgabe der Gesellschaftspolitik.
Im Mittelpunkt steht der Begriff der privaten »Keimzelle«. Damit ist, ohne normativ an die ältere konservative Familiensoziologie124 anzuknüpfen, schlicht der Alltag und die alltäglichen Lebenswelten als Quelle der Geschichten des Lebens als soziales Drama angesprochen. Der örtliche Raum des Daseins, wo gewohnt wird, von wo aus die Mobilität in die Region (Kontext des Arbeitens) stattfindet, wo konsumiert und freie Zeit verbracht wird, im Raum der Nahversorgung, ist Ausgangsunkt und Endpunkt der Betrachtungen.
Abb. 1: Der Mensch in der Mitte des Gesamtgeschehens, eigene Darstellung
Im Schaubild ( Abb. 1) soll deutlich werden, dass dieses Alltagsleben in die (Logik der) Subsysteme der modernen Gesellschaft eingebunden ist, die alle miteinander verschachtelt, also strukturell und funktional interdependent sind. Insbesondere kommt dem Staat über seine Rechtsregime eine regulative Rolle zu. Der Fetischismus der Märkte und ihre Magie der materiellen Dingwelten schreiben sich (nicht erst seit der digitalen Transformation, nunmehr aber nochmals luzider) in alle Teilräume des Lebens ein, macht Körper, Geist und Seele zur Wachstafel der ästhetischen Atmosphäre des kognitiven (oder gar surrealistischen125) Kapitalismus.126
Die Kirche steht im Hiatus zwischen Abgesang einerseits und (z. B. diakonische127) andererseits Versuchen einer erneuten, menschenrechtlich fundierten128 Neubelebung der Idee des solidarischen Gemeindelebens und verweist auf die Renaissance des Nachbarschaftslebens129 im Kontext der Diskurse und Praxisentwicklungen von Caring-Community-Building (oder Community Organizing130), angetrieben von einer schon längeren Dynamik der Zivilgesellschaft zwischen politischer Öffentlichkeitsarbeit und sozialem Dienstleistungsengagement. Gerade diese Dimension des sozialen Wandels wird im Kontext der KDA-Ideenpolitik des Quartierskonzepts in der vorliegenden Abhandlung im Lichte genossenschaftsmorphologischer Perspektiven offensiv aufgegriffen: Die Kommune wird als Hilfe- und Rechtsgenossenschaft thematisiert. Die soeben angesprochene Perspektive der Kirche wird u. E. nur dann eine wirkliche Chance haben, hier im Geschehen, sich revitalisierend, mitspielen zu können, wenn sie sich als politische Theologie der Hoffnung131 gesellschaftspolitisch radikal kritisch engagiert. Ihre Fähigkeit, affirmative Beiträge zur Reproduktion von politischer Herrschaft, sozialen Machtverhältnissen und »struktureller Gewalt« zu leisten, hat sie genügend unter Beweis stellen können. Darauf kann heute und in Zukunft dankend verzichtet werden.
Im Schaubild ( Abb. 1) sind nun zwischen den Subsystemen und dem Kern der privaten Keimzelle des Lebens vier Kürzel angesiedelt: HK, SK, VK, KK. Hiermit sind vier »Kapitalien« angesprochen, über die der Mensch in der modernen Gesellschaft in guter Ausstattung verfügen muss, um erfolgreich und sinnhaft im Verlauf des Lebenszyklus am Leben daseinsführend und somit existenzgestaltend partizipieren zu können. Der Kapital-Begriff ist hier nicht ökonomistisch gemeint. Jedoch bilden sich diese Ressourcen als Handlungsvermögen erst heraus, nachdem und indem man in ihren Ausbau investiert: Zeit, Geld, Phantasie, Mühen.
Gemeint sind Humankapital (HK), Sozialkapital (SK), Vertrauenskapital (VK) und Kulturkapital (KK). Diese Kapitalien sind notwendig, damit sich der Mensch in seiner Welt orientieren kann und sich wohnend einbauen kann, einen »Sitz im Leben« findet, sich also einrichtet. Humankapital bezeichnet den verwertbaren Ertrag der Investition in Arbeitsmarktzugangschancen in Form von zertifizierten Qualifikationen. Es geht also um Employability. Humankapital ist eine Schlüsselvariable in der Dynamik der Zugangschancen zum Erwerbsleben und somit zur Einkommensbildung sowie zur sozialen Absicherung in den Sozialversicherungen. Workability verweist auf ein Kapital, das im Schaubild ( Abb. 1) gar nicht aufgenommen worden ist, um die Komplexität in Grenzen zu halten: Gemeint ist das Gesundheitskapital (GK). Hier zeigt sich zugleich, wie hochgradig interdependent die verschiedenen Kapitalien sind. Denn Armut, Ungleichheit, Morbidität und Mortalität korrelieren in komplexer Weise eng. Bildung ist allerdings mehr als Humankapital. Daher meint KK kulturelles Kapital, das auf Daseinskompetenzen der Persönlichkeitsentwicklung verweist, die über formale Zertifikate hinausgehen. Auch hier wäre viel über die komplexen Zusammenhänge zu sagen. Doch die Ausführungen zum Schaubild ( Abb. 1) sollen sich nicht im weiten Feld einer allgemeinen Soziologie der modernen Gesellschaft verlieren. Es geht um die Frage, welche zentralen Ressourcen thematisiert werden müssen, damit das Leben als Wagnis hier und heute besser verstanden werden kann, um die Gefahren des Scheiterns des Menschen in dieser Odyssee des Lebens zu erkennen und um ihn für diese Reise fähig zu machen, von der Aaron Antonovsky in seiner Theorie der Salutogenese sprach, als er metaphorisch schrieb, der Mensch müsse ein »guter Schwimmer« im Fluss des Lebens werden. Es wird sich noch mehrfach zeigen, wie wir in diesen Auslegungen der Fragestellung nahe am Ansatz der »Befähigung« im Sinne des Capability Approach von Sen und Nussbaum (u. a.) sind.132 Es wird gleich auch noch anzusprechen sein, dass Befähigung hier keinesfalls individualisierend und risikoprivatisierend ausgelegt werden darf.
Antonovsky anzusprechen, ist nun auch angezeigt, weil die Bedeutung des Vertrauenskapitals (VK) mit Bezug auf seine Theorie des Kohärenzgefühls verstehbar wird. Aber hier soll sogleich der innere Zusammenhang mit der Bildung von Sozialkapital (SK), auf das wiederholt noch aufgreifend einzugehen sein wird, betont werden. Netzwerke und ihre Funktionalitäten (Sozialkapital als Ertrag von Netzwerkaktivitäten in Form von sozialer Unterstützung, sozialer Integration, personalisierender Rollenangeboten) sind für das Thema der Kommunalisierung als Bildung der lokalen sorgenden Gemeinschaften die Schlüsselfrage. Wie entstehen nachhaltige soziale Netzwerke? Wie können sie in ihrer Entwicklung verstanden werden? Dem Vertrauenskapital kommt hierbei eine transzendentale Bedeutung zu: Vertrauen ist Resultat, aber eben auch Voraussetzung der Entstehung und nachhaltigen Entwicklung von Netzwerken. Das Ei-Henne-Problem in dieser Soziologie und Psychologie der Netzwerkforschung ist eine echte Herausforderung, verweist uns aber erneut auf die komplexen inneren Mechanismen des Zusammenspiels aller Aspekte im Geschehensgefüge der Polis: Sozialisation und Erziehung (Paideia), Bildung und Charakter, Vertrauen, Engagement und Strukturen der Gesellschaft als soziales System (Wirtschaft [Geld und Arbeit] und Politik [Recht und Macht], Raum [Wohnen und Siedlung] und Mobilität [Verkehr und Kommunikation] etc.) hängen eng zusammen.
Das nunmehr nachfolgende Schaubild ( Abb. 2) mag helfen, sich diese Zusammenhänge nochmals anders zu vergegenwärtigen. Es erläutert sich mit den bislang dargelegten Erklärungen selbst. Aber zwei Aspekte werden hier expliziter angesprochen: das Verständnis der Umwelten des Menschen und die Rolle des Infrastrukturstaates.
Es wurde ja schon kurz erwähnt: Man dürfe den Befähigungs-Ansatz in der Sozialpolitik nicht neoliberal verkürzen. Es geht um die Befähigung des Subjekts. Aber dazu muss der Mensch in seiner Wechselwirkung zu seinen Umwelten, in denen er gestellt bzw. eingelassen ist, verstanden werden. Das wird uns als transaktionale Denkweise in der Lebenslaufforschung noch in sozialpolitisch relevanter Weise beschäftigen. Es geht um die Gestaltung der sozialen Mitwelten und der technisch-dinglichen Umwelten.133 Der zweite Aspekt verweist uns auf die Gewährleistung von existenzial wichtigen Infrastrukturen. Der erste Aspekt betrifft die Notwendigkeit der kulturellen Einbettung des Menschen in seine Kreise sozialer Beziehungen. In der Kommune als Hilfe- und Rechtsgenossenschaft kommen beide Aspekte zusammen. Sie werden ihre anthropologische Evidenz in den Ausführungen zur personalistischen Philosophie erhalten.
Befähigung bedarf der Ermöglichung. Befähigung meint einerseits Ermöglichung von Kompetenzentwicklung der Person, andererseits Gewährleistung von Möglichkeitsräumen der Umwelt134, in die die Person gestellt ist. Damit kommt der Staat als sozialer Rechtsstaat in seiner Funktion der Gewährleistung der Sicherstellung von Sozialschutz und Infrastruktur in den Blick. Das wird grundrechtsphilosophisch – vom Völkerrecht bis zu den Wohn- und Teilhabegesetzen der Bundesländer – zu diskutieren sein.
Abb. 2: Die Lebenswelt des Menschen im Kontext der Systeme, eigene Darstellung
Viele Themen unterschiedlicher, aber innerlich zusammenhängender Politikfelder und des sozialen Wandels lassen sich, z. B. auch gerontologisch verknüpfend, entsprechend einsortieren. Alles verdichtet sich in der Theorie der Daseinsvorsorge als Politik des Wohnens, der Mobilität und der Versorgung (Cure und Care) im Kontext jeweiliger Siedlungsstrukturen, die zentrale Bedeutung der »Kapitalien« Bildung und Charakter, Vertrauen und Netzwerke verstehbar machend, aber auch eingeordnet in die Welt der Märkte, der Zivilgesellschaft und der regulativen Regime des Staates.
Hier besteht die Möglichkeit, die Theorie der Lebenschancen bei Ralf Dahrendorf135 über dessen Sozialliberalismus136 hinaus neu zu konzipieren. Es geht sowohl um (wirtschaftliche) Möglichkeitsräume (Optionen) als auch um sozio-kulturelle Bindungen (Ligaturen). Liegt der normative Fokus in jeder liberalen Demokratie und ihrer Sozialpolitik in der Tradition von 1789 in der Freiheit, so ist doch die Gleichheit der Chancen ihre transzendentale Voraussetzung. Und diese Voraussetzung hat wiederum die Solidarität zu ihrer transzendentalen Bedingung zu zählen. Der redistributive Wohlfahrtsstaat sowie seine normative Akzeptanz in der sozial engagierten Wohlfahrtsgesellschaft zählen zu diesen Einbindungen der Freiheit: Freiheit (Art. 2 GG) muss (aufgrund von Art. 1 GG) geordnet (dazu dient Art. 20 GG) – wir reden hier über die heiligen Ewigkeitsartikel unserer Verfassung – werden.
Die Paideia als Formung zur prosozialen Empathie der Person mit der Fähigkeit zu Respekt, Rücksichtnahme, Vertrauen, Anerkennung des Anderen, Gabebereitschaft, Weltoffenheit und letztendlich zur Liebe (als Fähigkeit und als Bedürftigkeit) wird zur Schlüsselfrage der Kultur des sozialen Miteinanders.
Jetzt wissen wir, warum Friedrich Nietzsche vom »Übermenschen« sprach.137 In der Epoche der »transzendentalen Obdachlosigkeit« muss der Mensch gottähnlich zur Liebe fähig sein, damit nicht der homo abyssus138 das Weltgeschehen dominiert.139 Nicht mit präfaschistischem Denken hat dieses Denken der Grenzüberschreitungen des Menschen bei Nietzsche zu tun, sondern mit der Frage nach der Möglichkeit der Liebe gelingenden Miteinanders im säkularen Weltinnenraum der Moderne. Deshalb wird man die Gesellschaftskritik in der Tradition von Karl Marx durch die diagnostische Brille des abgründigen Verdachts von Sigmund Freud zur Grundlage Kritischer Sozialforschung nehmen müssen. Auch dieser Gedanke wird in der vorliegenden Abhandlung zu entfalten sein.
Viele Konzeptbegriffe und Diskurse können nunmehr systematisch vor dem Hintergrund diverser Megatrends des sozialen Wandels eingeordnet werden: Welfare-Mix und Wohlfahrtspluralismus, Quasi-Märkte und Dritter Sektor, Föderalismus und Subsidiarität, Professionalisierung und Wohlfahrtsgesellschaft sowie Engagement(förder)politik etc.
Dazu benötigt es aber nicht eine erneute Monographie. Das ist alles sattsam bekannt. Worin könnte ein Mehrwert der vorliegenden Abhandlung liegen? Die wissenschaftliche Sortierung der Problem-, Themen-, Politik-, Forschungs- und Diskurslandschaft bedarf einer Synthese im Lichte radikaler Gesellschaftsanalyse Kritischer Theorie und einer fundamentalen Rechtfertigung aus philosophischer Sicht. Damit wird die Pflegepolitik aus ihrem engen Gehäuse einer Branchenangebotspolitik und einer berufspolitischen neo-berufsständischen Debatte mit eigener Verkammerung befreit. Pflegepolitik muss aus ihrer Deformation als ins Private verlängertes Anhängsel des medizinisch-technischen Komplexes befreit werden, befreit werden vom Regime der kulturellen Codes des Familialismus und des Gender-Biologismus der Sorgearbeit, muss eingestellt werden in die kontroversen Debatten der Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik, muss politisiert werden durch Rückkoppelungen zu den Grundsatzfragen der Wirtschafts- und Sozialordnung und der Kultur als Grammatik des sozialen Zusammenlebens. Kritische Theorie (der Frankfurter Schule140 und ihrer »dialektischen Phantasie«141), deren Kenntnis heute an Universitäten in der Folge fehlender Bildung auf der Lehrangebotseite in der Regel142 nicht mehr zum Programm gehört, hat Kapitalismuskritik an psychoanalytische Analyse und Kritik unserer Vergesellschaftungsmechanismen geknüpft.143 Dieser Forschungslogik folgen wir hier. Kritik der Politischen Ökonomie ohne psychodynamische Kulturanalyse ist nicht möglich, weil sonst die Totalität144 der Zusammenhänge nicht angemessen verstehend durchdrungen werden kann. Und es wird sodann deutlich, dass die normativen Grundlagen der kritischen Vermessung des sozialen Elends des menschlichen Dramas transparent gemacht werden müssen. Die »Vermessung« bezieht sich analytisch auf Spannungsfelder binär codierter Art wie Exklusion und Inklusion, Geschlossenheit und Offenheit, Abhängigkeit und Eigenständigkeit, kompensatorische Intervention und Prävention, Objekt und Subjekt etc.
Ohne Metaphysik wird dieses Anliegen nicht erfolgreich aufgegriffen werden können. Das soll hier nur angedeutet werden. Die entsprechende Ausrollung gehört zu den roten Fäden der vorliegenden Abhandlung. Nochmals direkt die Leserschaft ansprechend: Die anwachsende interdisziplinäre Komplexität des Blicks und der Zugangswege sind einerseits sicherlich Zumutungen bzw. Herausforderungen in der Lektüre, andererseits, so meinen wir, bereichernde Angebote, Chancen auf Tiefe und Lichtungen, produktive Provokationen, Motivationen zum Querdenken, Aufforderungen zu Mut, zur Arbeit am eigenen Selbst, zu Grenzüberschreitungen, sind mögliche Türöffnungen, Anrufungen zur Radikalität, Authentizität, Humanität. Ob das alles so stimmt, gar zutreffend eintreten sollte, muss die Leserschaft entscheiden.
Der Stand der ontologischen und anthropologischen Einsichten wird es möglich machen, das moderne Völkerrecht zum Ausgangspunkt zu machen, um konkrete Rechtsfragen der Kommunalisierung der sozialraumorientierten Sozialpolitik zu diskutieren. Denn Kommunalisierung der Pflegepolitik meint, auf den Sozialraum der Netzwerke in der Pflege und überhaupt in der Sorgearbeit in ihrem praktischen Vollzug analytisch zu fokussieren. Das ist weitaus mehr als eine Ansprache an eine notwendige SGB XI-Reform im engeren Sinne. Die vorliegende Abhandlung – trotz des wissenschaftlichen Belegapparates eher ein politischer Essay – diskutiert die Gestaltung der Gesellschaft als ein soziales Miteinander, die von der Kultur der Miteinanderverantwortung genossenschaftsartig geprägt sein muss. Wissenschaft muss sich als Teil der sozialen Wirklichkeit an eben dieser sozialen Wirklichkeit beteiligen. Anthropologisch145 (im Personalismus) fundiert, geht es um eine Ethik des freiheitlichen Genossenschaftssozialismus im lokalen Alltag der Nachbarschaft146, eingebettet in eine regionale soziale Infrastruktur, für die ohne Zweifel der soziale Rechtsstaat der Daseinsvorsorgegewährleistung verantwortlich ist. Man wird diese lebensweltliche Poesie der Sorgegemeinschaften vor dem imperialen Neo-Liberalismus und einer hegemonialen Religion schützen müssen im »Weltinnenraum des Kapitalismus«147, der sein Spinnennetz ausdehnt. Auch das ist eine Pandemie. Und diese Manipulationsmaschine missbraucht die Sprache: »notleidende Banken«, »Abwrackprämine«, »Eurorettungsschirm«.148 Und es gehört zum Syndrom der wahnartigen Angst der analytischen Wissenschaften, die Traumreise einer Kritik der Maschine nicht zu wagen, eine Traumreise, die nur noch in den Reservaten »der Poesie oder der Kunst ihr Dasein fristet.«149
Man ahnt schon: Geht es um ein kleines, überschaubares und dennoch bereits komplexes Themenfeld: Altenpflege? Oder geht es auch um den Einbezug gewisser zeitgeschichtlicher Kontexte? Oder um noch mehr, die Komplexität im Labyrinth des Wissens desorientierend steigernd? Ja, und das mit hinreichendem Grund. Ohne Wissen um die und ohne ein Verstehen der kulturgeschichtlichen Hintergründe sehr langer Dauer150, die zugleich eine Mentalitätsgeschichte der Menschen darstellen, Europa einstellend in die Universalgeschichte des eurasischen Kulturraums, sind die aktuellen Probleme der Pflege nicht tiefgreifend zu verstehen. Man mag ohne diesen rekonstruierten Sinnhorizont etwa hydraulische Finanzierungsreformen, neue pseudo-innovative Geschäftsmodelle oder neuartige Instrumente des technokratischen Qualitätsmanagements diskutieren können. Aber die Tiefengrammatik des Spielfeldes der Pflege bleibt verborgen.
Damit ist trotz manch offenen Worten und radikalen Zuspitzungen der Kritik der Essay nicht ganz so mutig wie die »Anstiftung« zum Unfrieden«, wie Alexander Mitscherlich sein selbst so genanntes Pamphlet »Die Unwirklichkeit unserer Städte«151 untertitelt hatte.152 Es war auch eine andere Zeit. Und es ist hier eben auch nicht nur die Rede von unseren Städten im engeren Sinne, sondern von unseren urbanen wie ruralen Landschaften der »Versorgung« des Alters im Kontext von Unterstützungs- und Befähigungs-, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Und dieser Raumbezug wird diskutiert unter dem komplexen Aspekt, ob diese Landschaften die Gestaltqualität eines gelingenden sozialen Miteinanders aufweisen.
Gelingt das Dasein? Kommt die Existenz zur Gestaltqualität als Ort des personalen Selbst-Seins der Menschen im gelingenden Miteinander? Das sind grundlegende metaphysische Fragen, die die bisherige Geschichte des Menschen als Homo patiens beschäftigt haben und die Frage nach der Zukunft aufwerfen. Holen wir etwas aus.
Am Anfang stand die Sorge als Archetypus des Wirtschaftens, ohne das der Mensch als Mensch nicht existieren kann. Dieser Komplex gehört zur conditio humana. Der dialogische Mensch muss sich im Miteinander darüber verständigen, wie er aus seinem privaten Leben heraus die öffentlichen Dinge des Lebens regeln will. Am Anfang war ihm die Welt als eine einzige Allmende153 gegeben. Von Anbeginn – und eben bis heute – stellt sich die Frage, wie neben der privateigentumsrechtlichen Aufteilung der Welt (mit der Neigung des Homo abyssus zu Macht, Dominanz, Gewalt, Ungleichheit, Diskriminierung und Ausgrenzung) der notwendige gemeinwirtschaftliche Raum (des zur solidarischen Gabe fähigen Homo donans154) entfaltet werden kann, der existenziell notwendig ist für das (nicht modisch gemeinte155) nachhaltige156 und gedeihliche Miteinander in der Dichte des Zusammenlebens im Hiatus zwischen Natur und Kultur.
Gabe meint die Bereitschaft in der Offenheit zum Mitmenschen, bedarfsorientiert Ressourcen zu schenken. Die Kategorie der Gabe wird traditionsreich in vielen Disziplinen (Anthropologie, Theologie und Religionswissenschaft, Philosophie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Sozialökonomik, Kulturgeschichte) theoretisch anspruchsvoll und mit vielerlei empirischen Material erforscht. Die Gabe zählt als Universalie zum Kern der kulturellen Grammatik des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Motive (Altruismus und Empathie) können eher unterschiedlich sein und auch auf tiefenpsychologische Dimensionen verweisen. Es gibt auch »schmutzige« Gaben (zumindest ambivalente Motive, wie die Forschung zum »Tafeln« zeigen kann: aus Motiven des Machtwillens mit Absicht auf Allianzen oder Beherrschung des Mitmenschen als Empfänger der Gabe (Klientilismus und Euergetismus), der Demütigung, der Korruption etc. Aus der Gabe entstehen soziale Bindungen und dynamische Systeme von Geben und Nehmen und Gegen-Gabe. Es gibt auch Phänomene der sozialen Pathologie der Gabe bis zur Selbstzerstörung (vgl. z. B. Phänome destruktiver Gabezyklen wie den Potlatch157). Obwohl es um soziale Austauschbeziehungen geht, sind die Prozesse der Gabe und Gegen-Gabe nicht rein-ökonomischer Natur, sondern komplexe »totale soziale Tatsachen« mit politischen, religiösen, ethischen, rechtlichen Bedeutungsdimensionen).
Es geht nicht um eine Kritik der Ökonomisierung158 des Lebens, weil das Leben eben ex definitione eine praktische Ökonomik der Sorge ist. Es geht um den ideologischen Modus der Ökonomisierung und um den Daimon des Ökonomismus, der die Lebenswelten der Menschen kolonialisiert und heute159 als digitaler Turbo-Kapitalismus 4.0 den »Weltinnenraum« umspannt und tief durchdringt, bis hinein in Geist, Seele und Körper.
Wer nicht bereit ist, über die Gefahr des kapitalistischen Modus der Ökonomisierung als mentales Modell der Gestaltung des Feldes kritisch zu denken, wird nicht verstehen, was eine Pflegepolitikreform meinen muss. Der »Geist des Kapitalismus« hat eine eigene Art des inklusiven Kolonialismus160 in luzider Art und Weise subtil ausgebildet. Als »objektiver Geist«, der die Subjekte durchdringt, erobert er die Diskurse und schreibt sich in unsere Wahrnehmung ein, wonach doch alles gut sei: sicher, sauber, trocken. Sicher sind die Sonderräume der Pflege sicher. Die »Angst (Furcht161) vor der Freiheit«, wie es die kritische Psychoanalyse als Gesellschaftskritik (im Sinne von Adornos Studie über die »autoritäre Persönlichkeit«162) einst nannte163, sorgt (eben für-sorgend) dafür, dass das Risiko als Kehrseite der Freiheit dem Sicherheitsregime geopfert wird. Sauberkeit und Trockenheit drückt die infantil-elementare Körperzentriertheit aus. Normales Wohnen – damit der Mensch »Im Leben bleiben«164 kann – sieht anders aus. Im sozialen Feld des Geschehens und ihrer Ablaufordnungen ringt man sich Schritte der Normalisierung des Wohnens als Annäherung an die Normalität mühsam ab.
Dabei bietet die Teilnahme am Sozialraum doch so viele Möglichkeiten zum Klatsch165, jenen Reichtum der Lebenswelten, wie beim Friseur166, ein Ort, wo es um mehr als um Waschen, Schneiden, Föhnen geht. Die literarischen Ausdrucksweisen, die im generativen Kontext von geschlossenen Anstalten Gestalt annehmen167, zeigen die tiefe Bedürftigkeit. Der Blick des Anstaltspersonals konstruiert, ein Analogiefeld wählend, andere Wirklichkeiten: Die Aktenproduktion der Fürsorgeerziehung168 konstruiert ihre »Aktenzöglinge«169. Was würde in der Bildperspektive der Professionen passieren, wenn sie sich mit existenzial fundamentaler Literatur daseinsthematischer Art – Sophokles, Shakespeare und Tolstoi – auseinandersetzen würden?170
Deutschland ist ein Land der unbewussten kollektiven Ablassordnung. Man ist bereit, viel Geld zur Verfügung zu stellen, um diese Landschaften in ihrer dehumanisierenden Flächenbebauung zu finanzieren. Argumentieren wir psychoanalytisch: Das Schuldgefühl, sonst nicht genug seinen Verpflichtungen gegenüber dem wohl verdienten Alter der alten Generation nachzukommen, wird so sublimiert. Doch diese Sublimierung ist eine monetäre Strategie, die daran gekoppelt ist, bloß nicht die Verschandlungen der Landschaften radikal in Frage zu stellen, soziale Phantasie171 auszuspielen und die Pfadabhängigkeit zu verlassen und in schizoider Dynamik sich der Kontingenz zu stellen, alles auch ganz anders zu machen. Kontingenz meint das Merkmal der conditio humana, dass immer alles auch ganz anders sein kann. Das kann positiv als Chance, aber auch negativ belastend als angstbesetzte Unsicherheit erlebt werden. Möglich ist im Alltag der Menschen die Haltung: Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Aber es ist auch möglich, dass man sich den Mund böse verbrennen wird. Sicher ist nur, dass die Zukunft unsicher ist. Aber das ist die Seinsverfassung des Menschen. Kontingenz bezeichnet ontologisch eine Eigenschaft der Stellung des Menschen im Kosmos172: Alles kann auch ganz anders sein und/oder dazu werden. Wahrscheinlichkeitsmathematik ist der Versuch, über diese Unsicherheit bedingte Kontrolle zu erreichen. Das Versicherungswesen ist ein Paradebeispiel für dieses Risikomanagement. Angesichts der Unsicherheit mag (sinnvolle) Angst (Sorgemotiv) aufkommen. Kontrollbedürfnisse können sich aber auch zu neurotischen Kontrollzwängen versteigen. Kohärenz ist hierbei eine Ressource, sich nicht ohnmächtig dem »Schicksal« (die Götter) zu ergeben und gegen die daimonisch anmutenden Kräfte zu kämpfen. Aber dazu braucht man das rechte Maß und die richtige Form von Mut. Die Pfadabhängigkeit dagegen kann man auch als »Labyrinth der Gewohnheiten«173 bezeichnen.
Es ist eher eine Signatur des Problems, das erst überhaupt richtig zu begreifen ist, dass die soziologische Theorie der Pfadabhängigkeit, die in Politikwissenschaft und Ökonomie Eingang gefunden hat, kaum eine tiefere Fundierung als im Werk von Georges Bataille, der den meisten Forschern dieser Standarddisziplinen unbekannt sein dürfte, entdeckt hat. Bataille ist ein dionysisch denkender Theoretiker der Verflüssigung der Kultur des Sozialen, deren Homogenität erst durch die Andersartigkeit des Heteronomen als souveräne174 Kraftquelle herausgefordert wird. In diesem Sinne175 wird die dionysische Sprungdynamik oftmals als hyperbolisch bezeichnet und somit die klare apollinische Weltordnung einer euklidischen Geometrie verlassen. Schaut man sich die Bedeutung von Dionysos im expressionistischen Kontext176 genauer an, dann könnte evident werden, dass die Epiphanie177 des Dionysos178 an eine Krisenzeit gebunden ist. Sollte gerade das technische Zeitalter der Moderne, die von Anbeginn an in der Krise war – wie das Werk von Gottfried Benn179 zeigen kann180 – und dessen eskalierende Zuspitzung im expressionistischen181 Modus letztendlich als »Schrei« zum Ausdruck kam, das Schwindelerlebnis182 zum orientierenden Thema gemacht haben? Dionysos schwankt aber nicht, sein Taumel (Folge der Trunkenheit des Gelages183) ist ein ekstatischer Sprung. Ihm ist damit die resignative Haltung distanzierter Philosophie fremd, die mit Hegel184 wie die Eule der Minerva zwar im Untergang der alten Epoche, also in den Abend als Übergang zur Nacht, ihren Flug beginnt, aber stattdessen eben nicht nur rekonstruktiv mit Vernunft räsoniert und mit Verstand bilanziert, sondern aus der Nacht heraus den Morgen des anbrechenden Tages imaginiert und somit den Aufbruch in das Neue, das das Bessere sein soll, thematisiert.
Damit ist Dionysos für uns symbolisch der Gott des radikalen Denkens, des Protests und des Aufbruchs als kreativer Ausbruch aus dem Käfig der Pfadabhängigkeit, die mit dem Karotten-Prinzip den Menschen zum Arbeitsesel, zum Untertan185 und Ja-Sager186 macht. Dabei sei der ethnographischen Sicht unbenommen, selbst im Oktoberfest187 einen ritualförmigen Rausch der Masse zu erkennen. Allerdings streben die teilnehmenden Kultmitglieder dort nicht nach Höherem, sondern nach dem Abstieg nach unten und kehren dann irgendwann das Innere nach Außen. Und dafür pilgert die ganze Welt dorthin.
Es geht mit Blick auf die Abkehr vom sicheren Pfad der Tradition nicht um die Forderung nach Verantwortungslosigkeit. Es geht nicht um Casino-Mentalität. Es geht um die Bewältigung verstiegener Ängste, die mit dem Verlassen der eingefahrenen Bahnen des Lebens verbunden sind. Aber dazu sind Ideen notwendig, die gemeinsam geteilt werden. Im Lichte welcher Menschenbilder entwickeln wir Ideen über eine neue Kultur des sozialen Miteinanders? Wie transzendieren wir unsere ökonomischen Interessen und somit uns selbst, indem eine dann endlich neu codierte Sozialwirtschaft ihr Geld in radikal transformierten Landschaften von Care und Cure verdient? Raus aus dem Käfig des Marktes. Care ist eine Welt, die einer gemeinwirtschaftlichen DNA folgen muss. Kapitalismus wie Faschismus sind Inszenierungen einer Maskerade, die die Souveränität unterdrücken zugunsten der Homogenisierung der Welt, regiert von Hierarchien und Funktionen.
Natürlich: Überall »tut sich etwas«. Innovative Experimente wühlen die Landschaft auf, graben sie um, damit etwas Neues wächst, das alsbald geerntet werden könnte. Und dennoch: Es ist heute überwiegend eher eine Fabrik-mäßige Art, Versorgungsmaschinen bereitzustellen. Oftmals mit der Lüge verkleidet, es stünde der Mensch im Mittelpunkt des Geschehens, den Tatort somit in ein falsches, scheinbar beruhigendes Licht rückend.
Kritik ist hier aber nicht identisch mit der erfahrungswissenschaftlichen Erzeugung von Befunden. Man wird die Befunde bedeutungsvoll sprechen lassen müssen, was nicht ohne Empörung188, nicht ohne soziale Phantasie über die humangerechte Zukunft der Gesellschaft, nicht ohne transgressive Träume189, nicht ohne dionysische Sprünge – nicht ohne Tanz190 – gehen wird.
Man mache doch einmal z. B. eine »demographische Reise durch Deutschland«191 und erzähle die Geschichten »aus kleinen Städten und großen Dörfern«192, die als Drama des Lebens193 zu verstehen194 sind. Die Geschichten des Alltags der Menschen als »Sozialreportagen aus dem Land der Sozialen Marktwirtschaft«195 fordern die Wissenschaft, trotz und eben auf der Grundlage ihrer Methodologie der methodisch kontrollierten Distanz zum Objekt ihrer Begierde, als Dichtung heraus: Sofern man Dichtung als Übertragung der Liebe (im psychoanalytischen Sinne) auf die Sprache versteht196, Dichtung197 also definiert als das Fabulieren über die Wege, die unsere Kultur gehen muss, wenn sie aus der Kraftquelle der Liebe im Lichte sozialer Gerechtigkeit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft zukünftig leben will. Die Wissenschaft muss in diesem Sinne (wie bei Norbert Elias198) auch dichten können, benötigt also ihre eigene Poetologie.
Das mag exotisch klingen. Dieser Eindruck verblasst, wenn man, die Enge der eigenen (meist doch relativ engen) Forschungsfelder transzendiert, die vielfältigen Diskurse in verschiedenen anderen Disziplinen kennt. Aber auch dann, wenn der Vorwurf der Exotik zutreffend sein sollte: Wir wollen lieber exotisch als irrelevant sein, wir wollen Verantwortung übernehmen, »nie der schwierigen Aufgabe verantwortungsbewußter Wertung«199 ausweichen und uns nicht empiristisch kastrieren. Denn Eulen nach Athen tragen wir nicht. Es gibt im politischen Diskurs gerade nicht genug Weisheit, die den Pfad, den die Gesellschaft gehen sollte, ausleuchtet. Athena200, deren römische Analogfigur die Göttin Minerva war, fehlt uns sehr. Gerade als Weggefährtin, das wissen wir aus der Odyssee, ist sie eine Schutzgöttin. Da sie auch Schirmherrin des Wissens und der Wissenschaften (die den Schutz [gegenüber dem eigenen Versagen201] auch benötigen) ist, können wir uns gut auf sie berufen.
Einige erweiternde Anmerkungen zur Grundlegung der Optik der Analyse sollen nun auf einer ersten Hinführung zur personalistischen Grundlage des Rechts erfolgen. Denn es geht hier nicht um eine Lehrbuch-artige Darlegung des Themenkreises kommunaler Pflegepolitik.202
Die Idee der Kommunalisierung muss fundiert werden. Denn dieser Weg in die Kommunalität ist normativ nicht beliebig, den man (im Sinne eines subjektiven Werterelativismus) gehen kann oder eben auch nicht. Der Kommunalismus resultiert aus dem personalen Wesen des Menschen und ist in der Idee der Partizipation am nachbarschaftlichen Gemeinwesen als Grundrecht begründet, weil das Wohnen und somit die Örtlichkeit des Daseins die Ausgangspunkte der Sichtweise sind.
Doch Metaphysik bleibt »L’art pour l’art« (Kunst als Autotelie)203, wenn sie nicht in politische Schlussfolgerungen ausmündet. Denn aus der Entelechie des Wesens resultiert die Aufgabe der Gestalt-Werdung, die aber nicht automatisch verläuft, sondern der Politik des Gärtnerns bedarf. Das meint Gesellschaftsgestaltungspolitik. Motorzentrum dieser Politik kann nicht allein die Regierung einer parlamentarischen Demokratie sein. Auch nicht unter Einbezug des ministerialbürokratischen Maschinenraums. Politik ist mehr als »Regierungslehre«, auch mehr als die übliche Erweiterung zur »Arena des politischen Systems«, somit neben der Parteien- auch als Verbändedemokratie, das Ganze massenmedial mit Blick auf »framing policy« und »agenda-setting« gedacht. Politik muss außerparlamentarisch von der Agonalität der zivilgesellschaftlichen Kräfte sozialer Bewegungen des Empowerments und der Kritischen Intelligenz und der Kreativszene als hegemoniale Ideenpolitik getrieben werden. Menschenrechte (als Substanz: Hyle204 = Stoff, Materie) bleiben an Demokratie (als Form205: Morphe = Gestalt, Form, Aussehen, Eidos, Phänotypus) gebunden, wobei der expressive Charakter der Form verbunden ist mit der generativen Kraft und Funktion der Form: Die Demokratie muss die Substanz Wirklich-werden lassen. In diesem Sinne sprach Paul Tillich in seiner »politischen Theologie des religiösen Sozialismus« davon, man müsse aus der Kraftquelle der Liebe im Lichte sozialer Gerechtigkeit die demokratische Macht nutzen206, um die Personalität des Menschen als Telos der Weltgeschichte207 voranzutreiben.208
Die bereits erwähnte Fülle von Literaturverweisen (als Dienstleistung für tiefer interessierte Leser*innenkreise) soll als Aura eines akademischen Habitus nicht darüber täuschen: Es geht um eine politische Diskussion fundamentaler Fragen von anthropologischer und ethischer Reichweite, die die Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung der Pflege209 radikal in Frage stellen. Philosophische Fragen sind dann echt, wie Landgrebe es formulierte, wenn sie sich aus dem Dasein des Menschen in seiner geschichtlichen Not und Bedrängnis heraus helfen, das »fragwürdig Gewordene« zum Gegenstand zu machen.210
Ausgangspukt des kritischen Argumentierens ist eine personalistische Sicht: Der Mensch ist uns im Sinne eines modernen Naturrechts heilig. Das Naturrecht der Würde meint: »Dignity is inherent«, so lautet es im Völkerrecht. Die Würde ist Teil der menschlichen Natur, also seines Wesens. Die Würde ist dergestalt Kernidee eines modernen, demokratischen Naturrechts. Doch in Konfrontation mit der sozialen Wirklichkeit muss gelten: Das Wesen muss erst noch (entfaltet) werden. Es ist an sich, muss aber erst noch erfahrbare Gestalt annehmen. Das fundiert Kritische Wissenschaft. Gegenüber dem traditionellen, eher der Herrschaft über breite Bevölkerungen dienenden Naturrecht der kirchengeschichtlichen Scholastik, versteht das moderne Völkerrecht die Würde (dignity is inherent) als konstitutiven Teil der menschlichen Natur. In diesem Sinne ist die Idee der Würde als Kern des Wesens des Menschen in seiner Personalität in das Europäische grundrechtliche Unionsbürgerschaftsdenken und in die Grundrechte der bundesdeutschen Verfassung des GG fundamental eingegangen. In der neueren Literatur wird von der »heiligen Ordnung der Menschenrechte« bzw. der »Sakralität der Person« als Grundlage des sozialen Rechtsstaates gesprochen. Diese Axiomatik der Würde prägt normativ-rechtlich auch die Logik des Gewährleistungsstaates. Für die am Capability-Ansatz der Sozialpolitik der Lebenslagenverteilung orientierte Gesellschaftspolitik sind die Werte der Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Teilhabe sozialrechtlich bestimmend. Diese personalistische Anthropologie von Autonomie und Partizipation rückt die Würde in das Zentrum der ontologischen Seinsverfassung des Menschen in seinen Figurationen. Maßgeblich ist der kategorische Imperativ von Kant, wonach der Mensch immer nur Selbstzweck sein darf (Sittengesetz). Er darf nie instrumentalisiertes Mittel für andere Zwecke werden (Verbot von violation und alienation als Verletzungen [Vulnerabilität] der Würde im Völkerrecht).
Wenn von Werte-orientierter Wissenschaft die Rede ist, kann es daher eben nicht um beliebige Werte gehen. Dies ist der altbekannte Werterelativismus oder auch der nihilistische Rechtspositivismus. Gleichwohl muss naturrechtliches Menschenrecht auch politisch in der Rechtsprechung gelebt werden.211 Und genau dieser Positivismus ist es, der es verhindert, dass die Werte-Fundierung der Wissenschaft in die Wissenschaft einen erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch kontrollierten Einzug erhält. Es geht ja nicht um ästhetische Präferenzen des Geschmacks – quasi über Küchen-Deko, die Farben der Haare usw. – im öffentlich nicht relevanten privaten Leben. Es geht um die oberste Ebene des völkerrechtlichen Naturrechts, das auch das Grundrechtsdenken des europäischen und deutschen Verfassungsrechts prägt und Eingang gefunden hat in das System der Sozialgesetzbücher. Man lese einmal den § 1 SGB I. Auch wenn er später nochmals zitiert wird, er lautet:
»(1) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen einschließlich sozialer und erzieherischer Hilfen gestalten. Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen.
(2) Das Recht des Sozialgesetzbuchs soll auch dazu beitragen, daß die zur Erfüllung der in Absatz 1 genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen.«