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Die Einbahnstraße in den Hades
ОглавлениеEurydike wird im antiken Mythos als verstorbene Gemahlin des Orpheus thematisiert, der die Musik göttlich beherrscht. Zum Mythos von Orpheus und Eurydike gibt es viele Varianten mit einem (psychoanalytisch dechiffrierbaren) gemeinsamen daseinsthematischen Kern. Orpheus Musik hat eine solche Kraft144, dass – Reinhard Mey hat dies romantisch besungen – die Steine ihre Statik aufgeben (also sich bewegen) und Flüsse ihre Dynamik aufgeben (also still stehen), wilde Tiere sich zahm um ihn herum scharten und ihm lauschten.145 Dann stirbt Eurydike und gelangt in den Hades. Orpheus bezaubert mit seinem Gesang und dem Spiel auf seiner Leier (die apollinische Lyra, im distinkten Gegenüber zur Panflöte146 des Dionysischen bzw. der Aulos im Umkreis von Satyr und Gorgonen) den Herrscher der Unterwelt, den Gott Hades, und dessen Gemahlin, die Göttin Persephone. Er erhält die Erlaubnis, mit Eurydike vom Unten des Hades wieder zur Erde aufzusteigen. So wird der Tod durch die Kraft der Liebe und durch die Magie der Musik überwunden.147 Doch nicht endgültig. Im klassischen Griechenland wird der Mythos dadurch erweitert, dass Persephone dem Orpheus eine Bedingung stellte. Demnach dürfe er sich nicht nach Eurydike umdrehen, bis er das Tageslicht der Erdoberfläche wieder erreicht hätte. Orpheus bricht dieses Verbot, und Eurydike entschwindet ihm wiederum, nun aber endgültig, für immer.
Auch hier ist der Mythos eine Narration der Einsichten philosophierender Anthropologie. Was ist der Mensch? Ein endliches Wesen. Sicher ist nur der Tod. Heute können wir ihn in der Intensivmedizin hinauszögern. Wir können in der Palliative-Care-Kultur148 auch die Art und Weise des Sterbens gestalten, wobei auch hier – wie im Fall der Patient*innenverfügung149 oder auch im Fall von »Advanced Care Planning«150 – nicht immer alles ohne Ambivalenz ist. Aber am Ende des Lebens ist er unvermeidbar. Die Geschichte von Orpheus und Eurydike musste so ablaufen, wie sie ablief. Mögen seine musikalischen Fähigkeiten Orpheus auch, aus leidender Liebe heraus, den Zugang in den Hades gebahnt haben (auch hier wird Hermes geholfen haben), so kann die Geschichte nur so enden, wie sie geendet hat: Der Tod ist als Faktum nicht zu besiegen. Zu verstehen und sodann zu akzeptieren ist nur seine Bedeutung, nicht der Sachverhalt selbst, die er für das Leben hat. Hier könnten wir uns an die Erwägungen des von den Nazis im Konzentrationslager ermordeten Paul Ludwig Landsberg (1901–194)151 halten oder in den »Schlussstücke(n)« von Luise Reddemann152 Hilfe suchen.
Was also ist der Mensch? Wir sprachen vom Leben als »Wagnis«, von dem der Münsteraner existenziale Theologe Peter Wust schrieb153, und vom »Mut zum Sein«, so der Titel eines Büchleins des evangelischen Theologen und religiösen Sozialisten Paul Tillich154, verankert in seiner umfassenden systematischen Theologie.155 Tillich argumentierte entsprechend in einem anderen Büchlein über Liebe, Macht und Gerechtigkeit, ähnlich, aber viel radikaler und insofern politischer als Romano Guardini, dass nur aus der Urkraft der Liebe heraus im Lichte sozialer Gerechtigkeit im demokratischen Modus (der legitimen Macht156) das soziale Miteinander und somit die Personalisierung des Menschen als Telos der Weltgeschichte gelingen kann. Insofern ist der Römer-Brief von Paulus gegenüber der riesigen Bibliothek relativ langweiliger Auslegungsordnungen der kanonischen Theologie nochmals ganz anders, kompatibel mit der Philosophie der Hoffnung von Ernst Bloch157, zu interpretieren. Mit der Erlösung und der Rechtfertigung des Menschen im Symbol des Kreuzestodes von Jesus ist die messianische Jetzt-Zeit der Realgeschichte der Raum der Erfüllung158, unabhängig von der kontroversen und hier in ihrer Komplexität nicht aufzurufenden Literatur zu der Unsterblichkeitsbedürftigkeit159, in der sich Gottes Reich der Liebe und der sozialen Gerechtigkeit ereignen soll.160 Dafür trägt seit des Auszuges aus dem Garten Eden der konkrete geschichtliche Mensch die Verantwortung für sein Leben. Nichts wird aus der versprochenen Zombie-Party am Ende der Weltzeit. Diese Apokalypse ist eine falsche, zumal eine angesichts der Geschichte der Menschen als Geschichte von Klassenverhältnissen und sozialen Ausgrenzungsmechanismen, affirmative Ideologie, der auch nicht mit der Akrobatik theologischer Sophismen oder auch mit einer Erziehung zur Resilienz im Krisenkapitalismus161 zu helfen ist.