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Immanente Transzendenz

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Die radikale Alternative zur selbst verschuldeten Unmündigkeit des Menschen: Die eschatologische Haltung hat die kerygmatische Substanz (Botschaft) im Lichte des soteriologischen Motivs (der Heilsverkündung) in der Weise einer geschichts- und somit diesseitsimmanenten Erlösung zu transportieren.162 Der Traum der bislang nicht erfüllten sozialen Gerechtigkeit im liebenden sozialen Miteinander als Kultur der Menschen in Zeit und Raum der Immanenz ohne Transzendenz des abwesenden und zugleich teilnehmenden Gottes thematisiert eine Ontologie der Transzendenz in der Immanenz des Diesseits.163

Individuell wie kollektiv wäre dies eine Selbsttranszendenz: ein Wachsen und Werden der personalen Welt. In diesem Sinne ist das Marburger Ent-Mythologisierungsprogramm von Rudolf Bultmann nach wie vor aktuell, wenngleich dessen Mythos-Begriff problematisch ist. Denn auch diese Narration der Philosophie der Hoffnung ist ein Mythos, also ein Deutungsangebot für die gelingende Existenz der Menschen, der noch nach der wahren Daseinsgestalt sucht. Dieser Mythos ist aber befreiend. Es ist ein Mythos der politischen Theologie der befreienden Hoffnung des geschichtlichen und somit konkreten Menschen. Der Mythos der Apokalypse ist anderer Art: Es ist zu kolportieren als ein Warten164 auf Godot.

Ein Kompromiss, der sich im Lichte der obigen Erzählskizzen des klassischen Mythos fügt, ist die analogia entis-Theologie, wonach der Mensch durchaus gottähnlich ist (seinem Wesen nach) bzw. sein kann (seinem Potenzial nach). Doch auch diese Interpretation ist reaktionärer Theologie schon zu weitgehend, würde sie den Menschen doch in blasphemischer Art und Weise zur Hybris verführen. Doch stimmt es religionsgeschichtlich denn nicht, dass schon im AT der Aufruf zur Horizontalisierung der vertikalen Liebe von Gott zu den Menschen als bundestheologisch verkündetes Telos vom Menschen zu erfahren war? Meinte diese euklidische Geometrie, die uns vertraute, anschauliche Raumtheorie des Zwei- oder Dreidimensionalen, in der es um Punkte, Linien, Geraden, Winkel und Ebenen geht, zum Ausdruck bringt165, dieser Achsendrehung – ohne hier more geometrico zu spielen – nicht, der Mensch solle in der Horizontalität der zwischenmenschlichen Beziehungen die Empathie-fundierte prosoziale Gabe-Bereitschaft als Ausdrucksform der Liebe und der Weltoffenheit zur Reziprozitätsordnung des bedarfsgerechten Gebens und Nehmens ausbauen? Empathie ist eine genetisch (von Natur aus) mögliche, sodann aber erst noch (Kultur) soziale erlernbare Fähigkeit zum Einfühlen in die Erfahrungswelt des Mitmenschen. Empathie ist eine insbesondere in der psychodynamischen Bindungsforschung fundiert erforschte Fähigkeit des Einfühlens166 durch Sinn-Verstehen fremden Ausdrucksverhaltens (Hermeneutik) und stellt durch Übergang zum Mitleiden die Grundlage für prosoziales Handeln dar. Empathie kann der Mensch auf der Grundlage der (neurowissenschaftlich erforschten komplexen Spiegelneuronen) im Zuge seiner primären Sozialisation (vor allem schon der frühen formativen Jahre) erwerben. Es handelt sich also um ein Wechselspiel von Natur (Biologie) und Kultur (Vergesellschaftung) und verweist auf das Phänomen der Aktualgenese. Empathie ist insofern auch die Voraussetzung des Erlernens der Moral (Sittengesetz) und des Werdens der Person. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass das Leben – so bekanntlich die Lebensweisheit – ein Geben und Nehmen ist, dies in vielerlei Hinsicht. Dieses System des gegenseitigen, wechselseitigen, nicht nur dyadischen, sondern komplexen Austausches folgt der Regel der Reziprozität von (bedingter, also begrenzt unbedingter) Gabe und (freiwilliger oder obligatorischer) Gegen-Gabe. Es handelt sich um Netzwerkbildung, bestimmten Haltungen und Motiven, bestimmten Situationen, Kontexten und Anlässen folgend, unterschiedliche Ressourcen einbringend, zeitnah oder auch zeitversetzt arbeitend: Eine materielle, aber auch symbolische Sorgekultur, vielfach sinnhaft mehr als ein kalkulatorisches ökonomisches Risikomanagement. Reziprozität ist eine zentrale Kategorie des Wesensverständnisses der Kultur des Sozialen und basiert auf der Anthropologie der Gabe im Verständnis der Personalität des Menschen. Sie ist netzwerktheoretisch von morphologisch konstitutiver Bedeutung für die Logik der Caring Communities. Reziprozität kann in Netzwerken der strong ties und weak ties unterschiedliche Formen annehmen (relative Unbedingtheit der Gabe: Geben > Nehmen; Äquivalenzlogik des Tausches: Geben ≈ Nehmen; moral hazard- bzw. Trittbrettfahrer-Modus: Nehmen ohne Geben). Die »Währung« von Geben und Nehmen kann homomorph (z. B. Zeit gegen Zeit) oder heteromorph (z. B. Zeit gegen Geld oder Zeit gegen Dankbarkeit) sein. Probleme lang gestreckter Inter-Temporalität von Gabe-Akt und Gegen-Gabe liegen in dem Bedarf von Vertrauensvorschuss bzw. in den Transaktionskosten des Risikomanagements.

Wir thematisieren hier eine kulturgeschichtliche Innovation im Denken der Menschen, die heute noch aktualisierbar ist. Das soll hier nur insoweit geleistet werden, dass unser aktuelles Problem besser verstanden werden kann. Dieser Themenkreis ist entgrenzt weit. Was Karl Jaspers die Achsenzeit167 des ersten Jahrtausend zwischen Asien und der Ägäis nannte und die Altertumsforschung breit beschäftigte, war die Entstehung der personalen Ethik. Wir nennen diese Geschichte die große Achsendrehung ( Abb. 4). Wir halten das Thema hier kurz und abstrahieren von einer Fülle relevanter Dimensionen und Aspekte, deren Behandlung uns aber auf Abwege angesichts der hier gestellten Fragenkreise führen würde.


Abb. 4: Die große Achsendrehung der Achsenzeit, eigene Darstellung

Wenn Gott als Symbol der figürlich gedachten Ur-Liebe als Geschenk (Ur-Gabe) gegenüber dem Menschen zu verstehen ist und somit den Mythos erzählt, wie denn die Liebe in die Geschichte der Menschen kam, so ist die vertikale Architektur (V) der Relation von Gott (Oben) und dem für diese religiöse Erfahrung offenen Mensch (Unten) in Analogie zur Eltern-Kind-Beziehung zu verstehen. Nicht zufällig ist von »Vater unser« die Rede, womit bereits deutlich wird, wie die Identitätsbildung eines Uns als ein Wir sich an dieser Urerfahrung festmacht. Nicht zufällig erzählen andere Kulturen oder Kulturphasen die Geschichte von der Muttergöttin. Vater und Mutter verkörpern (wie das Symbol »Gott«) das Dritte168. Gemeint ist die soziale Repräsentation der gesellschaftlichen Normativität, die sich im Recht der politischen Ordnung niederschlagend zum Ausdruck bringt.

Unter Achsendrehung (Ad) in Schaubild 4 als das große Ereignis in der Phylo- wie Ontogenese der Menschen ist nun als Kipp-Dreh-Effekt die Übertragung der Ur-Liebe auf den zwischenmenschlichen Raum zu verstehen. Es geht um die wechselseitige, besser noch: spiegelbildliche Ich-Du- und Du-Ich-Beziehung, die einen sozialen Zwischenraum (H) konstituiert. Damit wird der soziale Raum definiert, der nun zum dramatischen Schau- und Spielplatz verschiedener Modalitäten der Wechselbeziehungen (MdWb) werden kann. Das eigentliche Ziel ist das immer noch ausstehende »personale Zeitalter«169 und somit der Pfad in die Weltgeschichte zunehmender Personalisierung (P) als Telos des dramatischen Geschehens im Lichte einer Philosophie der Hoffnung. Wir wissen, dass die Geschichte bislang mehr als gemischter Natur war.

Es kommt somit zur großen Weichenstellung ( Abb. 5). Der Mensch muss sich entscheiden, ob er den lichtdurchfluteten Pfad der Dominanz des Homo donans auf der Suche nach dem Guten, Wahren, Schönen oder den dunklen Pfad der Dominanz des Homo abyssus gehen will.


Abb. 5: Die große Weichenstellung, eigene Darstellung

Das kosmologische Zeitalter170 generiert den Homo religiosus, der im Zuge seiner Selbstvergewisserung zum Nomos und somit zur Ordnung durch Recht gelangt sich zum Homo politicus wandelt. Das politische Denken, das den Menschen allmählich aus dem Kosmos löst171, setzt einen Homo reciprocans im Auszug aus dem Paradies frei172, der nunmehr verschiedene Formen der Art und Weise des Miteinanders im Sinne der Formen der Begegnung von Ego und Alter Ego annehmen kann: Die Extrempolvarianten sind der Homo abyssus sowie der Homo donans. Eine Zwischenform ist die Kreativität des Homo faber der prometheischen Beherrschung der Natur und der menschlichen Umwelt im Modus der Technik.173 Die Neugierde spielte ja im Prometheus-Mythos eine entscheidende Rolle bei der Öffnung der »Büchse der Pandora«. Die Odyssee interpretierten wir ja als eine Abenteuerreise (des Lebens als Reise), die von der Entdeckung des Neuen geprägt war. Der Homo faber liegt nun nicht auf der gleichen Ebene der anthropologischen Reflexion wie der Homo abyssus und der Homo donans. Der Homo faber wird sich entscheiden müssen, wem er dient. Davon handelt die Mythosrezeption bei Adorno und Horkheimer, die als »Dialektik der Aufklärung« bezeichnet worden ist.

Hintergrund dieser Entwicklungsaufgabe der Menschheit ist die Geschichte von der großen Spaltung ( Abb. 6). Sie wurde u. a. in Platons Symposium hermeneutisch entfaltet. Das Korrelat des kosmologischen Erfahrungserlebens war, in onto- wie in phylogenetischer Hinsicht, das Erlebnis des Einsseins, vor der großen Spaltung in Subjekt und Objekt bzw. in Subjekt (Ego) und Subjekt (Alter Ego), ein langer zivilisatorischer174 Prozess, der, von einer breiten multiperspektivischen Forschungsliteratur diskutiert175, im cartesianischen Dualismus seinen Höhepunkt erlangen wird.


Abb. 6: Die große Spaltung, eigene Darstellung

Es geht um die Frage, was Liebe sei.176 Liebe ist nicht im kosmologischen Modus des Einsseins177 denkbar. Liebe setzt Spaltung voraus. Es geht um das Erreichen eines Einsseins im Getrenntsein. Die Psychoanalyse wird die damit verbundenen Probleme in der Neurosenlehre der Objektbesetzung als Ökonomik der Begierde des vergesellschafteten Subjekts in seiner Kultur der Epoche behandeln.178 Damit geht es um eine Frage, die für unseren Zusammenhang des Gelingens oder Scheiterns der Menschen im sozialen Miteinander von zentraler Bedeutung ist. Was sind die charakterlichen Modi (Formen) der Inbeziehungsetzung? Gelingt die Liebe oder dominieren aus unbewältigter Angst heraus die Aggression und Hass bzw. Ekel und die daraus resultierende Flucht als borderliner Eskapismus elitärer Arroganz?

Diese Geschichten im Gesamtgefüge thematisieren auch die Frage der Demokratisierung. Denn die vertikale Achse der unbedingten Liebesgabe des Herrn an die passiv empfangene Herde – um in der altorientalischen sakralköniglichen (später auch christologischen) Metapher von Hirte und Herde zu sprechen179 – wird in der Achsendrehung zur Liebe als vom Menschen selbstorganisierte und selbstverwaltete Bedarfsdeckungswirtschaftlichkeit der genossenschaftsartigen Gegenseitigkeitshilfe säkularisiert und profanisiert. Wir werden dennoch zeigen, dass diese Achsendrehung ihre sakrale Axiomatik hat. Sie ist nämlich unbedingt verankert im Tabu der Heiligen Ordnung der Würde des Menschen, also in der »Sakralität der Person«. Die Charakterbildung (Paideia) des Menschen, die dies verbürgt, wird hierbei zur Schlüsselfrage und somit auch zugleich zur Achillesverse der Problematik. Die Achillesferse stammt als Begriff aus der Rezeption der griechischen Mythologie (aber auch, nach dem Bad im Blut des getöteten Drachen, das Baumblatt auf dem Rücken bei Siegfried, die figürliche Analogie in der Nibelungensage180 zum Achilleus181): Die Ferse war die einzige Stelle, an welcher der Sagenheld Achilleus verwundbar war. Der Begriff wird heute vor allem als eine Metapher verwendet und meint eine verwundbare Stelle eines Menschen oder eines sozialen oder technischen Gebildes.

Diese Sicht bedeutet aber nicht, der Staat müsse wie eine Kirche organisiert sein (die Carl Schmitt-Ideologie) oder Staat, Gesellschaft und Kirche müssten nicht getrennt werden (die gesellschaftliche Ordnungsidee »des«182 Islams183), es bedeutet nur (Ernst-Wolfgang Böckenförde184 reflektiert etwas – ohne Fixierung auf das Christentum oder gar die Kirche – anders fortdenkend185) zu verstehen und anzuerkennen, dass es um eine sakrale Grundlage des säkularen Rechtsstaates geht: damit Art. 1 GG sowie Art. 2 GG zur Entfaltung kommen können. Dazu muss der Rechtsstaat sozialer Rechtstaat im Sinne von Art. 20 GG vor dem Hintergrund von Art. 3 (3) EUV sein.

Einige hermeneutische Ausführungen zur Menschrechtskodifizierung sind notwendig, um zu verstehen, wie im vorliegenden Essay grundrechtstheoretisch argumentiert wird. Artikel 22 (Recht auf soziale Sicherheit) der »Allgemeine(n) Erklärung der Menschenrechte der UN« vom 10.12.1948 lautet: »Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft« (dies ist inklusionstheoretisch auszulegen) »das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für die eigene Würde und die freie Entwicklung der eigenen Persönlichkeit unentbehrlich sind.« Das ist analog verfasst im § 1 SGB I vor dem Hintergrund des Art. 2 im Lichte von Art. 34 der Grundrechtscharta der EU. Aber es ist wichtig, die nochmals tiefere Verankerung zu beachten (analog zu Art. 1 GG). In der Präambel der UN lautet es:

»Da die Anerkennung der angeborenen Würde« (das ist eine moderne Naturrechtsargumentation) »und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden« (in der Wertediskussion der praktischen Sozialpolitik oftmals als Oberbegriff186 selten genannt) »in der Welt« (man vergleiche hierzu die Präambel des EUV) »bildet, da die Nichtanerkennung« (man lese hierzu Martha Nussbaum) »und Verachtung« (hierzu Margalit lesend) »der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt, da es notwendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes« (damit auf die Idee der Rechtsstaatlichkeit abstellend) »zu schützen, damit der Mensch« (die Reflexionen u. a. von Kant zum Tyrannenmord aufgreifend) »nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen, da es notwendig ist, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen zu fördern, da die Völker der Vereinten Nationen in der Charta ihren Glauben« (damit ist eine a-rationale Voraussetzung transzendentaler Art benannt) »an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung aller Menschen erneut bekräftigt und beschlossen haben, den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen« (damit ist die Ebene der Sozialpolitik betreten) »in größerer Freiheit zu fördern, da die Mitgliedstaaten sich verpflichtet haben, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen auf die allgemeine Achtung und Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten hinzuwirken, da ein gemeinsames Verständnis« (an das »Theorem der nicht-vertraglichen Voraussetzungen des Vertrages« in der Soziologie von Èmile Durkheim erinnernd187) »dieser Rechte und Freiheiten von größter Wichtigkeit für die volle Erfüllung dieser Verpflichtung ist, verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal« (ein Telos der Weltgeschichte ansprechend), »damit jeder einzelne Mensch und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets« (im Sinne einer Erinnerungskultur im kollektiven Gedächtnis) »gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung vor diesen Rechten und Freiheiten zu fördern« (hiermit quasi eine Dimension [Art. 26 definiert das »Recht auf Bildung«] im Capability Approach [von Sen und Nussbaum] der Sozialpolitik ansprechend) »und durch fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Einhaltung durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten selbst« (quasi als kommunitäre Tugendpflicht der Wohlfahrtsgesellschaft) »wie auch durch die Bevölkerung der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete« (somit Fragen föderaler Ordnung und die lokalen Sorgegemeinschaften in den Regionen ansprechend) »zu gewährleisten.« Im letzten Punkt wird die Idee der Gewährleistungsstaatlichkeit betont. Der Gewährleistungsstaat sei demnach definiert als der soziale Rechtsstaat und soll existenziell wichtige Güter und Dienstleistungen als Infrastruktur der Sorgearbeit des Alltagslebens und des Wirtschaftens garantieren, allerdings hierzu nicht unbedingt selber Akteur der Sicherstellung sein. Fundamentaler Akteur der Zivilisierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer liberalen Demokratie ist der Rechtsstaat. Sozialstaat ist die materielle Form, die er annehmen kann und im Völker-, Europa- und bundesdeutschen Verfassungsrecht annimmt. Der soziale Rechtsstaat hat die Sozialschutzsysteme und die Dienstleistungen von allgemeinem öffentlichem Interesse im Sinne der Daseinsvorsorge in Bezug auf die Infrastruktur (Energie, Verkehr, Telekommunikation, Wasser bzw. Abwasser, Abfall, Kredit- und Geldwirtschaft, aber auch Wohnen, Gesundheit, Pflege, Bildung sowie höhere Kultur etc.) zu gewährleisten: Er ist Gewährleistungsstaat. Gewährleistung und Sicherstellung können aber auseinanderfallen. Wie er die Sicherstellung verwirklicht, das bleibt zunächst offen. Gewährleistung verweist auf verschiedene mögliche institutionelle Arrangements, deren Design ausgestaltet werden kann. Der Staat kann unmittelbar selbst in die Sicherstellungsrolle mit Hilfe öffentlicher Einrichtungen und Dienste im Unternehmerstatus oder im Verwaltungsstatus (Inhouse-Prinzip) eintreten (z. B. Stadtwerke, öffentliches Bildungswesen, öffentliches Gesundheitswesen) oder die Leistungserstellung öffentlicher Güter delegieren. Nach europäischem und bundesdeutschem Recht delegiert (Ausschreibung nach obersten Rechtsprinzipien der Gleichbehandlung und Transparenz, Betrauung gemäß regulativen Vorgaben etc.) der soziale Rechtsstaat als Gewährleistungsstaat an Quasi-Märkte des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Unternehmenstypen inklusive des Dritten Sektors, reguliert und finanziert (voll oder teilweise) aber die Leistungserstellung.

Inklusion: Die Idee besah, dass Menschen ein Grundrecht darauf haben, selbstbestimmt zu leben und aus dieser Perspektive heraus im gemeinschaftlichen Miteinander der Gesellschaft partizipativ (gebend wie nehmend) eingebunden zu sein, dabei basierend auf einer Kultur des gegenseitig anerkennenden Respekts der jeweiligen Andersartigkeit (Diversität) ohne wesentliche Diskriminierung und Ausgrenzung188, soweit diese Toleranz eben nicht das universale Grundrecht selbst unterläuft. Vom Völkerrecht der UN vorangetrieben, aber auch aus vielfältigen neuen sozialen Bewegungen des Empowerments des Homo patiens angesichts der Ordnungen und Praktiken189 der sozialen Ausgrenzungen resultierend, ist unter Inklusion weit mehr zu verstehen als soziale Integration: Es meint eine soziale Welt der Diversität (der bunten Vielfalt) auf der Grundlage der respektvollen, nicht-diskriminierenden gegenseitigen Anerkennung jeweils andersartiger Menschen (Geschlecht, soziale und kulturelle Herkunft, politische Nationalität, Hautfarbe, Alter, Religion, sofern diese die Idee der Rechtsstaatlichkeit und der universalen Grundrechte teilt etc.) sowie eine entsprechende Normalisierung der Teilhabe selbstbestimmter Menschen mit Merkmalen, die zur sozialen Ausgrenzung führen: Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Behinderungen, Armut, Arbeitslosigkeit, Alter, traumatisierenden Gewalt- und/oder Fluchterfahrungen etc. Diese Inklusionsidee ist grundrechtstheoretisch fundiert und zentriert sich um die Würde des Menschen in seiner Personalität. Sie widmet sich dem Homo patiens190 in seiner besonderen Vulnerabilität (so im Fall der Kindheit, der Frauen und des hohen Alters oder in besonderen Lebenslagen wie die des Lebens z. B. mit Behinderungen). Die Vulnerabilität gehört zur Lehre von der conditio humana, dass das endliche Wesen des Menschen unsicher (Kontingenz) ist. Aus dem klassischen Mythos (Prometheus, Orpheus und Eurydike, Odysseus) wird bereits deutlich: Der Mensch altert, sein Sein ist ein Sein zum Tode hin (Martin Heidegger191), er muss immer schwer arbeiten als Ausdruck seines Sorge-Daseins, er wird krank, gebrechlich, erleidet Verlust und stirbt sodann. Sein Leben(svollzug) ist immer geprägt von Risiken. Er ist gefährdet. Vulnerabilität ist im engeren Sinne ein psychologisches Konstrukt, das gut im Kontext der Wechselwirkung von Person und Umwelt verstanden werden kann (Transaktionalismus). Mit der Analyse der Umwelt öffnet sich das Konstrukt aber auch der Soziologie und wird auch in rechtlicher Hinsicht (vor allem mit Blick auf Grundrechtsverletzungen) Naturrecht der Würde. In einem weiteren, anthropologisch orientierten Blick wird es in der philosophischen und theologischen Anthropologie diskutiert und gehört zur Lehre der conditio humana und verweist auf ontologische Grundüberlegungen zum menschlichen Dasein. In sozialpolitisch relevanter empirischer Hinsicht zählen Konzepte der Resilienz und der Kohärenz zur Modellierung der Bewältigung von Vulnerabilität. In trans-individueller Sicht zählen dazu aber auch Settings wie soziale Selbsthilfegruppen (social self-help groups) als Mutualitätsgebilde (mutual aid groups). Das Sozialpolitikverständnis der Inklusionsidee orientiert sich entsprechend am Capability-Ansatz.

Sodann lautet Artikel 1 (Freiheit, Gleichheit, Solidarität): »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind« (kantianisch und allgemein im Lichte der Aufklärungsphilosophie gedacht) »mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität« (damit im Sinne der Wertekonstellation von 1789 die mehrfach betonte Freiheit und Gleichheit durch die Solidarität ergänzend) »begegnen.«

Artikel 25 betont (erneut die Ebene der Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik betretend) das »Recht auf Wohlfahrt«: »Jeder Mensch hat das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohl für sich selbst und die eigene Familie gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust der eigenen Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.«

Wichtig ist sodann die Rahmung dieser Rechtsphilosophie in einem personalistischen Sinne, da es nicht um eine Welt des Individualismus geht. Artikel 29 betont die »Grundpflichten« aller Menschen: »1) Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein« (quasi in einem transzendentalen Sinne) »die freie und volle Entfaltung der eigenen Persönlichkeit möglich ist.« Und »2) Jeder Mensch ist bei der Ausübung der eigenen Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zweck vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer« (hier analog zum Art. 2 GG) »zu sichern und den gerechten Anforderungen der Moral« (wohl das Sittengesetz von Kant meinend, da die Grenze der Freiheit von Ego in dem gleichen Grundrecht von Alter Ego fundiert ist, Freiheit auf Kosten dritter im Sinne negativer Externalitäten also zu unterbinden sind) »der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.« Das Sittengesetz fordert: Tue nichts, von dem Du willst, dass man es Dir antut: Eine uralte Vorläufer-Figur des Sittengesetzes von Kant. Im Alltag: Versetze Dich doch mal in meine Lage, um zu verstehen, was Du mir antust! Sieh’ es doch mal mit meinen Augen! Du bist ein Narzisst, ein sozialer Autist! Selbstverliebt, unsensibel! Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ist gefragt. Dann wird Selbstveränderung (Selbsttranszendenz) möglich. Das Sittengesetz in der Tradition von Immanuel Kant (1724–1804) ist psychologisch und soziologisch im Lichte empathiefundierter sozialer Interaktion reformulierbar: Handle so, dass Du in die Maxime deines Handelns auch dann noch einwilligen kannst, wenn Du dich in die Rolle derer versetzt, die von deinem Handeln betroffen sind (Pareto-Rawls-Lösungen). Als »goldene Regel« ist dieses Sittengesetz als normative Grammatik sozialen Miteinanders und der dialogischen Begegnung im zwischenmenschlichen Bereich in einer archaischen Frühform seit der »Achsenzeit« der hochkulturellen Weltreligionen bekannt. Hintergrund des Sittengesetzes ist der kategorische Imperativ bei Kant: Der Mensch sei immer nur Selbstzweck, nie Mittel zum Zweck im Sinne einer Instrumentalisierung für Dritte.

Dies Alles wird im vorliegenden Essay radikale Folgen zeitigen für die Auslegung der kommunalen Daseinsvorsorge des Art. 28 GG (mitunter gerade auch in Bezug auf die dramatischen Verwerfungen in ländlichen Räumen angesichts der Norm der »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Raum« in Art. 72 GG), auch hier in einem europarechtlichen Rechtshorizont gestärkt durch das Grundrecht auf freien Zugang zu sozialen Dienstleistungen im Art. 36 der Grundrechtscharta, primärrechtlich verankert im EUV sowie in den AEUV. Diese Sakralität der personalen Würde ist besonders der Sprachatmosphäre192 und der Argumentationsarchitektur der für uns verbindlichen Grundrechtskonventionen der UN anzumerken.

Kommunale Pflegepolitik

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