Читать книгу Kommunale Pflegepolitik - Frank Schulz-Nieswandt - Страница 13
Zur hermeneutischen Auslegung
ОглавлениеDas Recht des Sozialgesetzbuchs soll der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit212 dienen: Im Lichte sozialer Gerechtigkeit – je nach Daseinsthema als Fragen der Gerechtigkeit als Deckung des Bedarfes, der Gerechtigkeit als Bezogenheit auf Leistung oder der Gerechtigkeit als Ordnung des Verfahrens auszulegen – ist also die soziale Wirklichkeit zu skalieren. Diese Skalierung (in Bezug auf Bedarfs-, Leistungs- und Verfahrensgerechtigkeit) ist aber Aufgabe einer methodisch kontrollierten Sozialforschung als Wissenschaft. Damit ist eine Evaluation der sozialen Wirklichkeit der Systeme sozialer Sicherheit und der Sozialleistungen ohne Wertbezüge nicht möglich: »Es soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern«. Damit ist Art. 1 GG zur Fundamentalnorm dieser Skalierungsarbeit im Sinne einer heiligen, objektiven, ewigen Idee definiert worden. Der Art. 1 GG hat in den Grundrechtskonventionen der UN und auch in der unionsbürgerschaftlichen Grundrechtscharta der EU – darauf wird noch einzugehen sein – tiefere Fundierungen erhalten. Art. 2 GG ist im § 1 SGB I angesprochen, wenn es um die »gleiche(n) Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit« geht. Dass, »insbesondere auch […] junge Menschen« genannt werden und somit »die Familie zu schützen und zu fördern« ist, ist nicht überraschend, geht es doch lebensverlaufsorientiert um die entwicklungs- und bindungspsychologisch gut erforschte Problematik der Gewährleistung anregender Umwelten des gelingenden Aufwachens im Sinne des formativen Sozialisationsgeschehens. Die Chancen im Leben werden früh schon verteilt, wie die Karten im Spiel. Das ist sodann auch bildungspolitisch konkretisierbar. Den »Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen« ist für eine arbeitsteilige Erwerbsarbeitsgesellschaft (vor allem in der kapitalistischen Form) der Moderne selbstverständlich eine existenzielle Fundamentalfrage. Die Lebenslaufperspektive der Idee der Sozialpolitik fokussiert auf die »Belastungen des Lebens« und begründet so die notwendige »Hilfe zur Selbsthilfe«, um die Risiken (präventiv bzw. prophylaktisch) »abzuwenden« oder (kurativ, rehabilitativ und daher kompensatorisch) »auszugleichen«. Es wird noch anzusprechen sein, wie sich hier der Capability Approach als verankert begreifen lässt.
Wenn nun das Recht des Sozialgesetzbuchs »auch dazu beitragen [soll]«, »daß die zur Erfüllung der in Absatz 1 genannten Aufgaben erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen.«, so sind wir bereits in die Mitte der konkreten praktischen Sozialpolitik gestellt, nämlich in der Frage nach der Gestaltung der sog. Versorgungslandschaften. Hier werden Fragen des Vertrags-, Leistungs- und Ordnungsrechts aufgeworfen. Hinter dieser eher technischen Sprache des sozialrechtlichen Homo faber stehen aber architektonische Ideen der Gesellschaftspolitik, die fundamentaler Art sind. Es geht um die politische Steuerung im Welfare-Mix von Staat, Markt, Dritter Sektor und primären Gemeinschaften (wie Familie) im Lichte einer grundrechtlichen Sicht auf die Personalität des Menschen in seiner sakralen Würde seiner vulnerablen Kreatürlichkeit vor dem Hintergrund der immer noch unvollendeten Aufklärung, die ein Leben in Freiheit auf der Basis von Solidarität ihrer Ermöglichung als Gleichheit der Chancen für Alle fordert.
Was ist mit dem Welfare-Mix gemeint? Der Mensch ist ein Netzwerkwesen, das (angesichts seiner Vulnerabilität) der Unterstützung bedarf. Er benötigt einen Mix von informellen/formellen Akteuren, materiellen/immateriellen Ressourcen, ambulanten/teilstationären/stationären Institutionen. Darunter ist die Hilfe-Mix-Bildung unter Einbindung informeller Ressourcen zu verstehen, wie sie bestimmend ist für das Verständnis von Caring Communities im Kontext integrierter professioneller Versorgungslandschaften als Infrastruktur, organisiert um die Ankerfunktion der Wohnformen herum. Der Dritte Sektor und die Multi-Sektoren-Theorie der sozialen Wohlfahrtsproduktion sind mit dieser Idee von Welfare-Mix eng verbunden. Dazu gehört dann auch das Theorem des Wohlfahrtspluralismus. Der Dritte Sektor sei definiert als Sektor von unternehmerischen Organisationen, die ihr Handeln als nicht primär Profit-orientiert verstehen, sondern auf die Bedarfsdeckung der Zielgruppe abstellen. Der Dritte Sektor (»third sector«) ist der von der Sachzielorientierung der Bedarfsdeckung dominierte Sektor der Non-for-profit-Unternehmen (der Steuergemeinnützigkeit freier Träger wie die der freien Wohlfahrtspflege) als Teil eines Mehr-Sektoren-Modells der Wohlfahrtsproduktion »zwischen« (im Sinne einer analytischen Topographie) For-profit-Markt, Staat und primären Gemeinschaften (wie Familie u. a. m.), dabei Potenziale des bürgerschaftlichen Engagements in die soziale Wohlfahrtsproduktion einbeziehend. Der Dritte Sektor kann im Rahmen von Zulassungen zu Versorgungsverträgen, Ausschreibungen oder Betrauungen delegierte öffentlich relevante Aufgaben im Rahmen der Sicherstellung sozialer Infrastruktur (Einrichtungen und Dienste im Raum) des Gewährleistungsstaates im Lichte des Capability-Ansatzes erfüllen. Der Dritte Sektor spielt eine konstitutive Rolle im Welfare-Mix. Er gilt als professionelle Sorgearbeit bzw. »organisierte Nächstenliebe« und ist somit Teil von Caring Communities.
Bis hier gilt bereits: Viele Veränderungen im Denken und in der Haltung in Lehre und Forschung213 waren erforderlich214, um deutlich werden zu lassen, wie diese personalistische Fundierung in Verbindung mit der interdisziplinären Sicht der Sozialpolitik der »rote Faden« des wissenschaftlichen Engagements sein kann. Von der Idee der Personalität als archimedischer Punkt erschließt sich das ganze System der Gesellschaftspolitik, die in einer umfassenden Diagnostik der Zeit verankert sein muss, von der die Sozialpolitik in Interdependenz mit anderen Politikfeldern ein integrierter Teil ist. Der archimedische Punkt215 ist ein theoretischer »absoluter Punkt« außerhalb eines Versuchsaufbaus. Dieser sei insbesondere unbeweglich und könnte daher fest verankert als Angelpunkt dienen. In einem übertragenen Sinne wird dieser Begriff in der Philosophie verwendet, um eine vollkommen evidente Wahrheit zu bezeichnen. Mit Verweis auf alttestamentliche Quellen modernen Denkens ist dies das moderne Menschenrecht.216
Person-Sein (und somit wiederum »Liebe«217) meint die reife Form des dialogischen und somit gemeinschaftsfähigen218 Individuums. Es kann Ich sagen, aber sich auch als ein Mich in der sozialen Welt des Wir und des Uns angesichts des Du verstehen: So mögen wir dies als Funktionskomplex »IMWUD« als Morphem (analog zur Sprachtheorie: elementarer Funktionszusammenhangsbaustein) zur Kennung bringen. Der Mensch ist (ontologisch im Sinne einer Gestaltwahrheit) nur wirklich ein Selbst im Modus des gelingenden sozialen Miteinanders; er ist Knotenpunkt seiner sozialen Beziehungen.
Die Anthropologie der Personalität meint jenseits219 von Individualismus und Kollektivismus220 eine dritte (ontologisch »wahre«) Form der Wesensentfaltung des Menschen im Modus von Autonomie und Partizipation (basierend auf dem Naturrecht der Würde). Sie drückt den rechtsphilosophischen Kern der Idee der Inklusion aus, die wiederum im Kontext der Sozialraumentfaltung auf die Notwendigkeit von Caring Communities angesichts der Vulnerabilität der menschlichen Kreatur verweist. Telos der ganzen Geschichte ist diese Personalisierung des Menschen und somit die konkrete Freundschaft221 und Nächstenliebe (Altruismus als Gabe auf der Grundlage von Empathie222) als die Logik des gelingenden sozialen Miteinanders. Im eigenen Handeln ein Interesse am Wohlergehen des Mitmenschen einbauen. Altruismus bezeichnet als Teil der gesellschaftlichen Moralökonomik das soziale Phänomen, dass sich ein Gesellschaftsmitglied (Ego) in seinem Wohlbefinden (Wohlstand, Nutzenniveau) nur besserstellen kann, wenn sich durch sein Handeln zugleich Dritte (Alter Ego) ebenso besserstellen. Es liegt dann eine positive Externalität vor. Die Selbstaufopferung im Sinne der absoluten Selbstlosigkeit ist nur ein Grenzfall dieser Figuration. Vielmehr handelt es sich um eine Sorgebeziehung, die auf unterschiedlichen Motiven (Liebe, Pflicht, Respekt, Solidarität, Gerechtigkeit etc.) beruhen kann: Es geht um das gelingende soziale Miteinander. Basis ist u. U. die Empathie. Altruismus ist eine konstitutive Dimension der Personalität und des Habitus der menschlichen Person. Altruismus stellt eine Form von »moral externalities« dar (Sittengesetz) und ist für die paretianische (vgl. Pareto-Rawls-Lösungen) Wohlfahrtsökonomie von Bedeutung. Aus liberaler Sicht (des normativen Individualismus) sind nur freiwillige Formen als rationaler Altruismus zulässig, etwa als Transferzahlung der Reichen ® an die Armen (A):
Diese setzt die Interdependenz der Nutzenfunktionen UR,A voraus: UR = UR (YR; UA).
Subsidiarität ist nun ein fundamentaler Baustein eines dem Wesen des Menschen angemessenen Sozialstaates. Es geht um die Balance von Eigensinn und Gemeinsinn223, von Selbstverantwortung des Individuums und kollektiver Verantwortung der Gesellschaft für sich selbst als moralische, politische, wirtschaftliche Verkettung (»Figuration«) der Individuen. Insofern ist die Verantwortung eine »Miteinanderverantwortung«.
Die Subjekt-Objekt-Dualität im Raum des Zwischenmenschlichen hebt sich in dem »IMWUD«-Morphem auf zu einem Netzwerk von Subjekt-Subjekt-Relationen. Dadurch wird deutlich, warum in der modernen Sozialphilosophie die Kategorien der Gabe und der Dialogizität sowie Reziprozität mit den Kategorien der Anerkennung und der Diversität zusammen gedacht werden: Selbstentfaltung in Liebe (in Offenheit, Sorge, Gabe, Umverteilung), Anerkennung in der Wechselwirkung, Vielfalt in der Gleichheit: Gestalt-Werdung des »IMWUD«-Morphems.
Das muss angemessen verstanden werden: Gesellschaft (bzw. eine Gesellschaftsformation als funktionaler Daseinszusammenhang224) ist ja nichts anderes als die Figuration, die die Individuen im Miteinander bilden: eine Aufstellung der Menschen als Rollenspieler auf der Bühne225 des Lebens gemäß Drehbuch und Regie. So gesehen gibt es nicht die Gesellschaft: Der Begriff ist eine Abstraktion als geistige Leistung, hat keine direkte, sinnliche, materielle Entsprechung in der Erfahrungswelt, ebenso wie das Individuum. Es gibt das Subjekt ja immer nur als vergesellschaftetes Individuum, in das sich die Kultur (durch Erziehung und Sozialisation, die aber befähigend sein soll, nicht Dressur226) tief eingeschrieben hat.227 Die transzendentale Rolle des Subjekts ist durchaus in jeder Theoriebildung einbauend zu beachten, aber es dürfte evident sein: Es gibt real kein »reines transzendentales« Subjekt, sondern immer nur das »vergesellschaftete historische transzendentale« Subjekt.228 Das meint die oben genannte »Gesellschaft für sich selbst«: Alle Individuen im Miteinander tragen Verantwortung für eben dieses Gelingen des Miteinanders. Das Miteinander der Menschen ist ihrem Wesen der »Miteinanderverantwortung« nach eine »Hilfe- und Rechtsgenossenschaft«. Im Kern – methodologisch dem unternehmensmorphologischen Denken analytisch folgend – beruht die Genossenschaftsidee auf den Fundamentalmerkmalen der Selbsthilfe und Selbstverantwortung, Selbstorganisation und der Selbstverwaltung der Gebilde.
Mit Blick auf diese Idee der »Hilfe- und Rechtsgenossenschaft« kann gesagt werden: Dieses »SSSS-Morphem« ist ein Gestaltbaustein eines gelingenden sozialen Zusammenlebens im Sinne des »IMWUD«-Morphems. Personalität meint daher: Die Personalität nimmt in dieser Form eine Gestalt in der Wirklichkeit an. Denn die Selbsthilfe als Gegenseitigkeitshilfe in der demokratischen Form der selbstorganisierten Selbstverwaltung ist kollektive (trans-individuelle), somit personale Selbstverantwortung: eben »Miteinanderverantwortung«.
Es geht in der genossenschaftsartigen Sozialpolitik nicht um die Hilfe für Dritte als Ausdruck von Barmherzigkeit (die sich gerne auch an Repression, aus der sie heraustreten musste, wenn sie zur Sozialreform werden wollte229, knüpfte), wohl möglich aus der vertikal-asymmetrischen Haltung der Gnade230 heraus. Es geht vielmehr um Mutualität231, um die solidarische Gegenseitigkeit. Maßgebend ist demnach nicht die ORDO-Soziallehre des kirchlichen Christentums bzw. der anstaltsförmige »Liebespatriarchalismus« (Ernst Troeltsch232).
Wenden wir unsere Sichtweise synthetisch hin auf Fragen der Möglichkeitsräume zukünftiger Strukturentwicklungen: Warum kann die gesellschaftspolitische Perspektive einer Pflegepolitik der Zukunft nicht eine Kommunalisierung im Sinne der Genossenschaftlichkeit sein? Die Vereinten Nationen hatten das Jahr 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Die Dr. Hermann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft und die Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft stellten im Jahr 2013 in den Bundesländern Sachsen und Rheinland-Pfalz gemeinsam, also länderübergreifend, einen Antrag zur Aufnahme der »Genossenschaftsidee« in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes im Rahmen der nationalen Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes. Im Jahr 2014 wurde der Antrag durch die Kultusministerkonferenz genehmigt und im Jahr 2015 bei der UNESCO als Nominierung eingereicht. Im Jahr 2016 entschied sich der intergouvernementale Ausschuss der UNESCO für eine Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit. Sicherlich hatte man hierbei das Einzelwirtschaftsgebilde der Genossenschaft im Auge. Diese mögen aber hier Sozialgebilde als integriertes Element der kommunalen Genossenschaftlichkeit sein.
Das UNESCO-Weltkulturerbe hat seine Legitimität in einer Archäologie der Ubiquität der Gebilde in kulturgeschichtlicher (diachroner) wie kulturvergleichender (synchroner) Perspektive. Über die europäischen Gebilde, die die Gildenforschung in den 1980er Jahren interdisziplinär und vielfältig (über Kategorien von Gilden, Zünften, Einungen, Bünden, Schwurgemeinschaften und Eidgenossenschaften, Dorf und Stadt, Bruder- und Schwesternschaften etc.) erforschte, hinaus in das Studium antiker (vor allem hellenistischer) Gebilde genossenschaftsartiger Hilfsvereine und Berufsgenossenschaften führten Forschungspfade in das altorientalische Altertum und dort wieder zurück in die Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Historische Psychologie und Kulturanthropologie233 des neutestamentlichen Zeitalters234 der synkretistischen Spätantike235, die validieren konnte, dass das Ur- und Frühchristentum genossenschaftsartig organisiert war nach der Blaupause hellenistischer Vereine, die Kultgenossenschaften darstellten.