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Ein Haus vor lauter Bäumen
ОглавлениеAn einem Sonntag im Mai brechen wir gegen zehn Uhr auf – weiße Wattewolken auf hellblauem Himmel begleiten uns. Die Wegbeschreibung der Maklerin ist sehr präzise. Wir fahren eine gute Stunde von Hamburg Richtung Berlin, bevor wir auf eine normale, dann auf eine kleinere Landstraße abbiegen. Über eine löchrige Teerstraße juckeln wir weiter, bevor wir auf eine noch kleinere Teerstraße abbiegen, die wiederum zu einem Sandweg führt, der im Wald verschwindet. Mein schwarzer Lupo ruckelt im Schneckentempo über die staubige Piste.
»Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«
Carsten nickt. Weitere drei Kilometer durch den Wald, und wir sind da.
Ein großer dunkelbrauner Hund rennt aufgeregt am Zaun entlang, bellt wie verrückt und schüchtert mich gehörig ein. Als Kind hätte ich gern einen Dackel gehabt, aber vor großen Hunden habe ich gehörigen Respekt, wenn nicht sogar Angst.
Als Nächstes fällt mir ein dunkelblauer Landrover Defender auf, der neben der Scheune steht. Ich weiß, dass dieses Modell Carstens absolutes Traumauto ist. Als kleiner Junge hatte er während einer Urlaubsreise den Landrover Defender in einem britischen Militärkonvoi zum ersten Mal gesehen und ist seither ganz vernarrt in dieses Gefährt.
Dann sehe ich das Haus. Gegenüber der Scheune steht der Bau mit flachem Satteldach. Das Obergeschoss besteht aus schönem Fachwerk. Das Erdgeschoss ist irgendwann grau verputzt worden. Links neben der Eingangstür steht eine provisorische Hundehütte. Um die Eingangstür herum ist eine Art Windfang mit vergilbten Scheiben angebracht, an den Fenstern hängen verwitterte braune Fensterläden. Hübsch ist das auf den ersten Blick eigentlich nicht, aber ich bin vollends begeistert und glaube, auch in Carstens glänzenden Augen die totale Euphorie zu erkennen.
Wir parken das Auto am Wegesrand und steigen aus. Ein aromatischer, honigsüßer Geruch steigt mir in die Nase. Um uns herum ist alles grün, und die Vögel übertreffen sich gegenseitig mit ihrem Getschilpe. Diese verwilderte Idylle wirkt fast schon surreal, und ich fühle mich von dem Haus magisch angezogen. Es ist, als ob ich seit langer Zeit wieder den ersten richtig tiefen Atemzug täte. Ich spüre, dass dieser Ort wirklich unsere Zuflucht werden könnte.
Wir gehen auf die windschiefe, mit Efeu bewachsene Holzpforte zu. Dort steht die Maklerin. Der braune Hund sitzt nun artig neben ihr.
»Guten Tag. Ja, da haben Sie es also gefunden. Dann wollen wir mal!«
Sie führt uns herum und redet dabei ohne Unterlass. Wahrscheinlich, um uns davon abzulenken, wie heruntergekommen das Haus wirklich ist.
Der Putz bröckelt von den Wänden, die Dielen sind morsch, die Fußbodenbalken liegen direkt auf dem sandigen Waldboden. Die Fenster sind uralt, teilweise eingeschlagen, und es zieht durch alle Ritzen. Es gibt zwar eine Toilette, aber das Haus hat keinen Wasseranschluss. Als Toilettenspülung bedient man eine wunderschöne alte Handpumpe und schüttet einen Eimer Wasser nach. Das Ganze landet dann in einer Sickergrube hinter dem Haus.
Mittels eines Kanonenofens im Wohnzimmer wird das Haus mit Holz beheizt. Eine andere Heizung ist nicht vorhanden. In der Küche gibt es einen ebenfalls mit Holz befeuerten Herd, auf dem man kochen kann. Elektrisches Licht ist zwar vorhanden, aber die Kabelverbindungen, die Carsten sich nun anschaut, sehen selbst für mich als Laiin sehr abenteuerlich aus. Das Obergeschoss erreichen wir über eine schmale, steile Treppe im Flur.
»Hier oben haben die Kinder der Vorbesitzer gewohnt, aber die Trennwände der Zimmer wurden schon entfernt«, lässt uns die Maklerin wissen.
Hier hat jemand gewohnt?
Oben gibt es einen offenen, staubigen Lehmboden, die Schalbretter des Daches sind sichtbar, und durch die Ritzen quillt das Bitumen, mit dem die Dachpappe außen draufgeklebt worden ist.
Durch eine Tür, die von oben bis unten mit Werbeaufklebern plakatiert ist, erreichen wir zwei weitere Räume. Die Maklerin lässt mir den Vortritt, und als ich die Tür öffne, flattert mir ein taubenähnlicher Vogel aufgeregt entgegen. Im ersten Moment erschrecke ich mich. Dann fangen Carsten und ich gleichzeitig an zu lachen. Er muss wohl auch an eine der ersten Szenen aus dem Film Unter der Sonne der Toskana gedacht haben. In dieser Szene macht Diane Lane der Besitzerin eines wunderschönen, heruntergekommenen Hauses in der Toskana ein Angebot, um es zu kaufen. Die alte Frau ist erst einverstanden, als eine Taube aus dem Nichts auftaucht und sich auf Diane Lanes Kopf verewigt. Da ruft sie voller Freude: »Un segno di Dio!«
Der Vogel, der zwar keine Taube, sondern ein Kuckuck ist und auf uns kein »segno di Dio« hinterlässt, dafür aber einen großen Eindruck, fliegt durch das kaputte Fenster in den Garten.
»Und vielleicht wollen Sie jetzt auch den Garten sehen?«
Carsten und die Maklerin gehen hinunter. Doch ich bleibe noch einen Moment im kleinsten Zimmer des Hauses im Obergeschoss zurück. Hier könnten wir ein zweites, kleines Badezimmer mit einer ebenerdig begehbaren Dusche einrichten. Beim Duschen würden wir dann durchs Fenster in den Wald schauen. Nebenan könnte unser Schlafzimmer sein – so ganz gemütlich unterm Dach …
Carsten unterbricht meine Träumereien: »Kommst du?«
Auf der Fahrt zurück nach Hamburg sind Carsten und ich erst sehr still. Ich sehe vor mir, wie wunderschön das Haus einmal aussehen könnte, und weiß genau, was ich will. Ich hoffe, Carsten will es auch.
Irgendwann frage ich: »Und? Was denkst du?«
»Ja, da kann man was richtig Tolles draus machen«, antwortet er gedankenverloren.
Vielleicht ist es ja genauso um ihn geschehen wie um mich, und auch er ist schon mittendrin in der Umgestaltung dieses Kleinods …
Carsten hat während seiner Studienzeit oft auf dem Bau gearbeitet und gerade mit der Renovierung unseres Ladens bewiesen, was für ein begabter Handwerker er ist. Er ist sich sicher, dass wir die Herausforderungen, die bei der Renovierung dieses Hauses auf uns zukommen würden, ohne Probleme meistern könnten.
»In einem halben Jahr mache ich dir einen Palast daraus«, lautet seine Einschätzung.
Trotz meiner sonst eher vorsichtigen Art bin ich mir bei dieser Immobilie so sicher, dass mich diese Sicherheit schon wieder ein bisschen verunsichert. Wie kann ich so überzeugt sein, dass diese Bruchbude das Richtige für uns ist? Eine wirklich olle Ruine abseits der Zivilisation?!
Ich bin generell nicht dafür bekannt, eine schnelle Entscheiderin zu sein. Normalerweise tue ich mich schon schwer damit, beim Shoppen ein T-Shirt auszusuchen oder mich für eine Eissorte zu entscheiden. Und nun will ich unbedingt und einfach so ein Haus im Nirgendwo kaufen … Das kommt selbst Carsten ein bisschen spanisch vor.
Ich merke, dass er die Idee total super findet, mich aber auf keinen Fall dazu überreden will. Er ist sehr zurückhaltend, wenn wir über das Haus sprechen. Aber er gesteht mir: »Bevor wir uns wiedergetroffen haben, hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mich aus Hamburg abzusetzen …«
»Was meinst du denn damit?«
»Na ja, allein und ganz simpel leben. Als Ziegenhirte, auf einer Alm oder als Hilfsarbeiter immer auf Wanderschaft.«
Ich muss noch eine ganze Weile über seine Worte nachdenken. Vor ein paar Monaten noch hätte ich im ersten Moment gar nicht gewusst, was er meint, und mich vielleicht sogar erschrocken. Ganz allein auf einer Alm? Was macht man denn da den ganzen Tag? Jetzt spüre ich die Sehnsucht hinter seinen Worten genauso wie er: die Sehnsucht nach Einfachheit, Ruhe und Natur.
Anders erklären kann ich mir nicht, warum mich dieses Haus mitten im Wald so magisch anzieht. Denn rein rational macht es überhaupt keinen Sinn, sich über den Kauf einer solchen Immobilie den Kopf zu zerbrechen: Ich, Miss Fashion, City und Travel, will ein Haus mitten im Off renovieren? Aber da ist nun mal dieses unumstößlich richtige Gefühl, das ich nicht ignorieren kann und will. Genauso, wie ich bei Carsten gespürt habe, dass er der richtige Mann für mich ist, spüre ich dieses Urvertrauen in meine Intuition auch heute wieder. Außerdem habe ich ja nicht vor, alle Zelte in der Stadt abzubrechen. Unsere Wohnung, unser Laden, meine Arbeit, unsere Freunde – das alles soll ja so bleiben, wie es ist. Das Haus soll nur unsere Ruheoase fürs Wochenende sein, die wir nach und nach und ganz langfristig renovieren. Ein Ort, an dem wir ohne Lärm für uns sein können und unser ganz eigenes Abenteuer leben.