Читать книгу Annabelle - Frederike Gillmann - Страница 12
Kapitel 8
ОглавлениеObwohl wir beide von dem Tag ziemlich angestrengt waren, wurde der Abend doch noch lang und so gingen wir bereits leicht angetrunken zur Pension zurück. Mir fiel auf, dass ich, seitdem ich angekommen war, keinen einzigen Moment an meine Arbeit gedacht hatte und es war, als hätte ich wirklich einmal Urlaub. Wir sagten uns eine gute Nacht und jeder verschwand in seinem Zimmer. Mein Handy, das ich zum Laden im Zimmer gelassen hatte, blinkte wild und verkündete zehn neue Nachrichten und fünf Anrufe – alle von Alex. Ich entsperrte mein Handy und las die neueste: Wo bist du? Warum meldest du dich nicht? Muss ich etwa die Polizei einschalten? Ich wollte nicht mit Alex diskutieren und mich auch nicht vor ihm rechtfertigen, also schrieb ich einfach zurück: Mir geht’s gut, bin nur ziemlich müde. Es ist schön hier. Liebe dich. Ich drückte auf „Senden“ und schaltete mein Handy aus, was ich noch nie getan hatte, seitdem ich ein Smartphone besaß. Es war, als wäre ich ein Sklave dieses digitalen Zeitgenossen. Ich putzte meine Zähne, zog meinen Schlafanzug an und fiel todmüde ins Bett.
Am nächsten Tag war es bereits hell, als ich aufwachte und ich hörte das Kreischen der Möwen vom Meer. Ich schreckte hoch. Wie spät war es? Ich kam zu spät zur Arbeit. Ich wollte gerade aus dem Bett springen und mich in aller Hast anziehen, als mir bewusst wurde, dass ich nicht in München war und dass ich nicht zur Arbeit musste. Entspannt ließ ich mich zurück in die Kissen fallen. Ich war im Urlaub, ich musste mir einmal über nichts Gedanken machen, irgendwie war das ein komisches Gefühl. Ich döste noch ein wenig vor mich hin, bis ich das Gefühl hatte, dass es Zeit war aufzustehen. Dann ging ich ins Bad und nahm eine ausgiebige Dusche und zog mich an. Ich konnte nicht widerstehen und hatte trotz allem eines meiner Kostüme mitgenommen – nur für den Fall, dass ich es beim Notar brauchte. Trotzdem entschied ich mich aber für einen einfachen Pullover und eine Jeans. Wie spät war es eigentlich? Ich hatte das Gefühl, dass ich komplett das Zeitgefühl verloren hatte. Ich wollte gerade auf meinem Handy nachschauen, da fiel mir ein, dass ich es ausgeschaltet hatte. Ich schaltete es wieder ein und es verkündete wieder zwei neue Nachrichten. Die eine war von Alex und lautete: Freut mich, hab viel Spaß. Liebe dich. Die andere war von Kathi: Na du? Wie geht’s? Der Bohrmann ist gar nicht glücklich darüber, dass du so kurzfristig Urlaub genommen hast. Hat was von mangelnder Arbeitsmoral und so was geredet. Ich hatte von Herrn Bohrmann – meinem Chef – auch nichts Anderes erwartet. Aber kündigen würde er mir schon nicht, das konnte er sich nicht leisten. Ich stellte fest, dass es mittlerweile zehn Uhr war. So viel Zeit hatte ich mir morgens noch nie gelassen. Ich ging zum Zimmer meiner Mutter und klopfte. Keine Reaktion. Ich klopfte noch einmal: wieder nichts. Merkwürdig. Ich ging runter an die Rezeption und der junge Mann erklärte mir, nachdem ich ihm meine Mutter beschrieben hatte, dass sie für einen Spaziergang ausgegangen wäre und dass er mir diese Nachricht überbringen sollte, falls ich nach ihr fragte. Ein Spaziergang, was für eine gute Idee. Ich holte eine kleine Handtasche aus meinem Zimmer und steckte nur mein Portemonnaie und meinen Zimmerschlüssel hinein und ging ebenfalls hinaus.
Kaum war ich draußen, sah ich auch schon meine Mutter um die Ecke kommen.
„Na, hast du gut geschlafen, mein Kind?“ Sie lächelte mich an.
„Ja, unglaublich gut. So gut wie noch nie“, antwortete ich. „Ich auch, das muss die andere Luft sein. Und so ein Spaziergang am Morgen tut auch wirklich gut.“
„Hast du schon gefrühstückt?“, fragte ich.
„Nur einen Kaffee. Ich habe auf dich gewartet, wollte dich aber nicht wecken. Ich habe auf meinem kleinen Spaziergang ein kleines Café entdeckt. Wollen wir dorthin gehen?“
„Gerne“, sagte ich und wir machten uns auf den Weg. Wie schon gestern war der Weg nicht weit. Das Café war wirklich niedlich und die Inhaberin sehr freundlich. Sie brachte uns frischen Kaffee, Orangensaft, Croissants, Brötchen und eine Auswahl an Wurst und Käse und natürlich geräuchertem Lachs und Marmelade. Es war einfach köstlich. Ich erinnerte mich kaum daran, wann ich mir das letzte Mal so viel Zeit für ein Frühstück genommen hatte. Und normalerweise aß ich auch immer Haferbrei. Das war nahrhaft und sättigend und ging nicht so sehr auf die Hüften.
„Wir haben einen Termin bei Herrn Stattmann um eins“, sagte meine Mutter. „Er hat seine Kanzlei in Flensburg, das sind etwa zwanzig Minuten mit dem Auto.“
„Dann haben wir ja noch etwas Zeit“, meinte ich zufrieden.
Da nach dem Frühstück tatsächlich noch etwas Zeit blieb, beschlossen wir, noch einen kleinen Spaziergang am Strand zu machen. Nachdem wir so eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren, fragte ich: „Was denkst du?“ So etwas hatte ich meine Mutter zwar noch nie gefragt, aber sie sah so vertieft in ihre Gedanken aus.
„Alles und nichts“, kam die Antwort.
„Was soll das denn heißen?“, fragte ich verwundert.
„Das heißt, dass ich mir ziemlich viele Gedanken über alles machen, aber gleichzeitig so viel denke, dass mein Kopf einfach wieder leer ist. Macht das Sinn?“
„Ja, ich denke schon.“
„Was ist los bei dir? Geht es dir denn gut?“ So etwas fragte meine Mutter mich zwar jedes Mal, aber dies war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, dass es nicht dieses oberflächliche Na-wie-gehts-dir-aber-eigentlich-kenn-ich-schon-die-Antwort war. Ich wollte meiner Mutter nichts vormachen und sagte: „Es ist okay. Ich meine, ich habe einen Freund, eine Wohnung, einen guten Job…“ „Aber? Du bist nicht glücklich.“ Das war keine Frage.
„Sieht man mir das so sehr an?“
„Wenn man dich kennt, dann schon. Also, was ist los?“
„Eben dieser Job macht mich nicht glücklich. Ich dachte immer, wenn ich hart für etwas arbeiten würde, dann würde sich das am Ende auszahlen. Es zahlt sich ja auch wortwörtlich aus, aber jeden Tag habe ich Angst, dass mein Chef mich zur Schnecke macht. Ich hatte sogar Angst, Urlaub zu nehmen, weil ich wusste, dass er Urlaub nur gewährt, weil es seine Pflicht ist.“
„Warum hast du dann den Job überhaupt angenommen?“
„Weil ich allen beweisen wollte, dass ich es schaffe, diesen Job zu bekommen. Ich wusste, wie viele Menschen so einen Job wollen und es hat euch doch alle so stolz gemacht. Und außerdem wollte ich Alex in nichts nachstehen.“
„Ach, darum ging es also. Ach Frieda, wenn du etwas tust, was du nicht willst, nur um andere glücklich zu machen, dann lass es lieber gleich sein. Du bist eine sehr intelligente junge Frau, nur habe ich dir öfters schon mal gesagt, dass du mal auf dich achten musst. Ich weiß, dass ist leichter gesagt als getan, denn ich war genauso, als ich jung war. Ich glaube, wir waren fast alle so, weil wir uns mehr vom Leben erhoffen, wenn wir härter arbeiten, aber ich glaube beziehungsweise ich weiß jetzt, dass das nicht alles ist, was zählt. Du bist noch jung, also mach das, was dich glücklich macht.“
Ich hatte das Gefühl, so ein ehrliches und intimes Gespräch hatten wir noch nie geführt. Ich merkte, wie mir eine Träne die Wange runterkullerte. Nicht aus Trauer, sondern aus Wut auf mich selbst und weil mich die Worte meiner Mutter getroffen hatten. Ja, ich würde etwas in meinem Leben verändern. Aber wo sollte ich anfangen? Es schien, als hätte meine Mutter meine Gedanken gelesen. „Kündige deinen Job“, sagte sie.
„Was?“
„Kündige deinen Job“, wiederholte meine Mutter ruhig. „Du hast eben gesagt, dass er dich nicht glücklich macht, also fang sofort an, etwas zu verändern.“
„Aber ich brauche diesen Job. Er bezahlt unsere Wohnung in München.“ „Genau darum geht es. Er dient zum Zweck, was ja einerseits auch gut ist, aber er sollte dir doch auch Spaß machen“
„Er macht mir Spaß…“, wollte ich protestieren.
„Aber anscheinend nicht unter den Bedingungen. Du hast ja noch ein paar Tage Zeit, aber wenn dein Chef noch nicht einmal Verständnis dafür hat, dass du ein paar Tage wegmusst, weil deine Tante gestorben ist, dann ist das meiner Meinung nach ein Grund, den Job zu wechseln. Und glaub mir, mit deiner Intelligenz und Erfahrung bekommst du überall etwas.“ Sie lächelte. Insgeheim wusste ich, dass sie recht hatte, aber ich wusste auch, wie schwer es war, sich von alten Mustern zu trennen. Sie waren wie warme Wollpullover, die einen an kalten Winterabenden wärmten. Manchmal kratzten sie, aber insgeheim liebte man sie doch. Wie oft hatte ich schon versucht, mich von meinen Lastern zu lösen. Das betraf nie das Rauchen oder den Alkohol (beides hatte ich nie oder nur in Maßen angerührt), aber ich hatte schon immer Schwierigkeiten damit, mich zu entspannen und mal etwas Arbeit liegenzulassen.
„Wir sollten langsam zurückgehen, damit wir rechtzeitig kommen“, meinte ich. Meine Mutter nickte. „Nur keine Eile“, sagte sie und lächelte. „Wir machen Urlaub.“
Ja, Urlaub. Das konnte man wohl sagen.